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Unser Ursprung ist das Leben selbst

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In unserer Sprache haben wir die Begriffe „Muttererde“ oder „Mutterboden“. Sie bezeichnen die fruchtbare Erde, in der ein Samen aufgeht und wächst. In genau diesem Sinne ist die menschliche Mutter die Erde des Menschenkindes. In diese „Erde“, in den weiblichen Schoß, wird das befruchtete Ei hineingelegt (bzw. es lässt sich von selbst dort nieder – der Fachbegriff lautet „Nidation“, Einnistung) und wächst dann, genau wie ein pflanzliches Samenkorn, im Schutz der Erde heran, bis es stark genug ist, aus ihr herauszukommen und sich dem Licht der Sonne, dem Regen und dem Wind auszusetzen. Die Erde, die Mutter, ist aber nur der Boden, in dem wir wachsen. Diese Erde formt uns, zusammen mit den mütterlichen Genen und denen des Vaters. Es geht hier aber nicht um unsere Gene, es geht um die Seele und um unser geistiges Potenzial, das ich auch das „Inbild“ nenne. Auch das wächst in der Mutter. Dieses Inbild, das in diese Erde hineingelegt wird und das wir – oft unter vielem, was sich an äußeren Einflüssen darübergelegt hat, verborgen – manchmal erahnen, stammt aber nicht von den Eltern. Es stammt von „Gott“. Es ist der Same Gottes in uns. Wem das Wort Gott nicht gefällt, kann auch sagen „vom Leben selbst“, vom „Bewusstsein“ oder vom „Geist“, aber mir scheint „Gott“ immer noch das stärkste Wort. Wie auch immer: An jeder menschlichen Zeugung sind drei beteiligt: der Vater, die Mutter und das Dritte.

Khalil Gibran hat dies in poetischen Worten beschrieben:

Eure Kinder sind nicht eure Kinder, sie sind die Söhne

und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.

Ihre Seelen wohnen in dem Haus von morgen,

das ihr nicht betreten könnt,

noch nicht einmal in euren Träumen.20

Wir sind von Anfang an, vom Zeitpunkt der Vereinigung der väterlichen Samenzelle mit der mütterlichen Eizelle an, vollständig. Alles, was wir sind, alles, was wir je sein können, ist vollständig vorhanden, wenn auch noch ganz eingekapselt und undifferenziert. Mit anderen Worten: Wir sind uns vorgegeben, wir stehen weder unseren Eltern und deren Wünschen und Erwartungen (etwa ob es ein Wunschkind ist oder ein Junge oder ein Mädchen sein soll) noch uns selbst, unseren eigenen (natürlich erst viel später auftauchenden) Wünschen und Erwartungen, zur Verfügung. Das bedeutet auch: Die (weit verbreitete) Vorstellung, man sollte anders sein, als man ist, man sei nicht richtig, ist vollkommen nichtig und illusorisch.

Was ich oben zur Geburt gesagt habe, gilt auch für die Zeugung und die Empfängnis, also für unsere Entstehung: auch sie ist reines Geschehen, vollkommen unpersönlich und ohne jede Freiheit. Es ist nicht so, dass jemand dich geplant oder entworfen oder gemacht hätte. Auch dies kann angesichts unserer modernen Lebenshaltung und unserer Ideen über und Erwartungen an uns selbst, an unsere Eltern wie auch an unsere Kinder, nicht genug betont werden: Niemand hat uns geplant, entworfen und gemacht! Es ist auch niemand verantwortlich für das, was wir sind, vor allem niemand „schuld“. Wir sind einfach, das ist alles. Wir sind zwar nicht nur biologische Wesen, aber wir existieren nur als biologische Wesen, und ein Blick auf den biologischen Zeugungsvorgang vermag dieses gänzlich unpersönliche, ungeplante Geschehen, das uns hervorbringt, eindrucksvoll zu illustrieren.

Ein Mann entlässt bei einer Ejakulation etwa 250 Millionen (!) Spermien21. Da macht sich, bildlich gesprochen, die halbe Bevölkerung Europas auf, um in einem einzigen Ei zu landen, und einer gewinnt. Unter dem Mikroskop sieht man ein riesiges, stoisch in sich ruhendes Ei und drum herum ein Gewimmel von Millionen winzigen Spermien, die ruhelos umherschwirren und darauf warten, dass die Eizelle mal kurz die Tür aufmacht und einen dieser Winzlinge reinlässt.22

In den meisten Fällen kommt es aber mit einem Geschlechtsakt nicht zur Empfängnis, es braucht dazu viele. Auch ohne Empfängnisverhütung sind also nicht etwa Millionen, sondern Milliarden Spermien im Laufe eines normalen Ehelebens unterwegs, um einige wenige Kinder zu zeugen. Aber selbst wenn es nur tausend wären: Wer wählt da, wer bestimmt da, welches Spermium auf welches Ei trifft und sich damit vereint? Niemand! Unsere Eltern sind nicht unser Ursprung, unser Ursprung ist das Leben selbst.

Die Welt, in der wir leben

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