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Die Vertreibung aus dem Paradies

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Das bedeutet beileibe nicht, dass diese Geschichten nichtig wären. Ganz im Gegenteil. Erstens erzählen sie, wie ausschnitthaft auch immer, etwas Wahres, wenn auch nie die ganze Wahrheit. Was mein Dorfchronist gefilmt hat, ist ja tatsächlich geschehen. Zweitens, und dies ist noch wichtiger, wirken sie, wie gesagt, als Geschichten heute fort und bestimmen damit unser Bild der Vergangenheit, und dieses Bild wirkt in uns. Es tut dies auch dann, wenn wir im wörtlichen Sinne längst nicht mehr daran glauben. Der jüdisch-christliche Mythos des Garten Eden, in dem alle Lebewesen in paradiesischer Harmonie miteinander leben, ist nicht nur ein religiöses Märchen, an das merkwürdigerweise die Christen (sowie Juden und Muslime) glauben, sondern er beschreibt eine innere Sehnsucht vieler Menschen, die sich durch die Utopien der Moderne bis hin zur Friedensbewegung und „grünen“ Weltbildern zieht. Die Vorstellung des Garten Eden als eine Art ewiges Sommerpicknick, wo Mensch und Tier (vom Reh bis zum Löwen) in einer vollkommenen Natur bei schönstem Wetter in vollkommener Harmonie beisammen sind, ist auch heute noch der Traum vieler Menschen – so sollte das Leben eigentlich sein (wobei niemand danach fragt, wovon der Löwe denn nun lebt, wenn er die Antilope nicht frisst).

Die andere Seite des biblischen Mythos ist die der Vertreibung aus dem Paradies. Der Mensch wird bestraft, weil er ungehorsam gegenüber Gott ist und zu viel wissen will, und muss sich nun seine Nahrung, die ihm bis dahin quasi in den Mund fiel, selbst suchen und sein Leben fortan „im Schweiße seines Angesichts“ erarbeiten und verdienen. Hier ist die Parallele zur menschlichen Geburt, mit der das automatische Versorgtsein endet und die Mühen des Lebens anfangen, unverkennbar. Die große menschliche Perspektive ist daher die Rückkehr ins Paradies, und diese Perspektive ist, wie gesagt, bei weitem nicht nur ein Traum der Christenheit, sondern durchzieht die meisten abendländischen Utopien bis hin zum Kommunismus, modernen politischen Konzepten wie dem eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ und der modernen Idee der „Freizeit“. Im alltäglichen Leben finden sich Anklänge davon in vielen Werbebildern und -botschaften, etwa im Konzept des All-Inclusive-Urlaubs, wo man weder etwas tun noch bezahlen muss, sondern den ganzen Tag rumliegt und sich bedienen lässt.

Daneben gibt uns die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies noch einen anderen Impuls, der unseren Alltag vor allem in der modernen Zeit durchherrscht: den Auftrag, sich die Erde untertan zu machen. Hier unterscheidet sich das Christentum (gemeinsam mit dem Judentum) fundamental von allen anderen Religionen. Sein Kampf um die Herrschaft über die Erde ist das genaue Gegenteil der Ehrfurcht vor der Mutter Erde. Er hat uns dahin geführt, wo wir heute stehen, und er beherrscht den abendländlichen Menschen durch und durch, und zwar völlig unabhängig davon, ob er sich als Christ versteht oder nicht29.

Die Welt, in der wir leben

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