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Vater und Mutter – Die biologischen Eltern und ihre Bedeutung
ОглавлениеWarum braucht das Kind die Mutter, warum ist sie so wichtig? Nicht zur Versorgung, das kann auch jemand anders übernehmen. Es braucht sie, weil sie alles ist, was es kennt, alles, was von seiner vorherigen Welt noch da ist. Es braucht sie, um in der neuen Welt anzukommen und Vertrauen dahinein zu entwickeln, dass es auch in dieser unermesslichen Welt geborgen sein und sich damit entspannen kann. Ohne die Mutter ist das kaum möglich, denn nur in ihrer Gegenwart, im Hören ihrer Stimme, in der Wahrnehmung ihres Geruchs und im Fühlen ihres Körpers kommen die alte und die neue Welt zusammen. In der Mutter hat es überlebt, in der Regel ziemlich gut. Daher steht sie für Sicherheit und Versorgt sein. Nur im unmittelbaren, sinnlichen Kontakt mit ihr weiß das Kind, dass jemand da ist, der für es sorgt. Nur in diesem Wissen, im Spüren des mütterlichen Organismus, den es kennt, kann es sich entspannen. Ohne sie, ohne die direkte und sinnliche Erfahrung ihrer Nähe, wird es in ständiger Spannung, in einem ständigen inneren Überlebensstress bleiben. Sie ist die Brücke, sie war vorher da und ist jetzt noch (oder wieder) da, es kennt sie, kennt ihren Geruch, ihre Stimme, ihren Herzschlag, ihre Haut, und damit ist es nicht mutterseelenallein in der Welt.
Keine noch so liebende und wohlmeinende Person kann dies ersetzen, außer vielleicht ein wenig der Vater. Da es ihm genetisch eng verwandt ist, gibt es eine natürliche Resonanz zwischen dem Kind und seinem Vater, denn dem Organismus des Kindes ist der Vater nicht fremd, auch wenn es ihn vor der Geburt nicht mit seinen Sinnen wahrgenommen hat. Wenn er jedoch während der Schwangerschaft nah bei seiner Frau war, hat das Kind ihn gehört und kennt vage seine Stimme, und wenn die Eltern sich geliebt haben, hat es ihn und seine Verbindung mit der Mutter gespürt, vor allem – und dies dürfte sehr wichtig für die allerersten Eindrücke von Sexualität und damit auch für seine spätere Haltung dazu sein – die Art und Weise, wie er seine Frau sexuell berührt hat und, was wahrscheinlich noch wichtiger ist, wie sie dies aufgenommen hat. Das Kind hat dies ja unmittelbar körperlich mitbekommen, und zwar sowohl die Schwingung des Vaters als auch – über die hormonelle Verbindung sicherlich noch deutlich mehr – die der Mutter. Dazu gibt es zwar naturgemäß keine sicheren Erkenntnisse, aber nach allem, was ich über andere Einflüsse aus der vorgeburtlichen Zeit gesehen habe, gehe ich davon aus, dass die Haltung eines Menschen zu Männern und zum Männlichen ebenso wie zur eigenen Sexualität in dieser Zeit eine wesentliche Prägung erfährt. Dies gilt für Frauen und Männer gleichermaßen.
Am Anfang der Kindheit ist die Mutter immer noch die ganze Welt des Kindes. Auch wenn es schon draußen ist, dauert die seelische Symbiose noch an. Wenn die Mutter bei oder in den ersten Jahren nach der Geburt stirbt, stirbt das Kind zwar nicht mehr körperlich, aber innerlich, seelisch stirbt auch etwas in dem Kind. Es nimmt sie nämlich anfangs noch ganz und später fast noch ganz als einen Teil von sich selbst wahr. Ich erinnere mich an eine Frau, die darunter litt, dass sie ihre Kinder nicht lieben konnte. Das war jedenfalls ihr Gefühl – natürlich liebte sie die Kinder, sonst hätte sie nicht gelitten, aber sie konnte es nicht fühlen und den Kindern auch nicht zeigen. Der Hintergrund war, dass ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben war. Damit war auch die Fähigkeit des Kindes (der jetzigen Mutter) zu lieben gestorben – oder sagen wir genauer: wie gestorben, sie war eingefroren. Dies kann sich erst lösen, wenn das Kind als Erwachsene(r) erkennt, dass es schon bei der Geburt ein ganzer und eigenständiger Mensch war und nicht ein Teil der Mutter und sie nicht ein Teil von ihm.
Ähnliches gilt, wenn der Vater nicht da ist, wenn er anonym ist (wie bei einer Befruchtung durch fremde Samenspender) oder verschwiegen wird oder wenn er sich einfach nicht um das Kind kümmert und die Frau damit allein lässt. Dann fehlt dem Kind etwas. Genetisch ist es ja zur Hälfte sein Vater; wenn dieser Mensch im Außen nicht da ist, findet das Kind für etwas, was in ihm ist, im Außen keine Resonanz. Keine Resonanz heißt: Es kommt nichts zurück, es gibt für das, was in ihm ist, für die väterliche Hälfte, keinen Widerhall. Ersatzväter können diese Resonanz nicht herstellen, sie kann nicht gemacht werden. Dieses „Mir fehlt etwas, ich bin nicht ganz“ wird es ebenfalls so lange begleiten, bis es erkennt, dass es schon immer vollständig war. Ich habe das bei meiner Mutter erlebt, deren Vater kurz nach ihrer Zeugung tödlich verunglückt ist. Das Kind in ihr hat sich immer unvollständig gefühlt, denn es „hatte keinen Papa“.