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Das Kuckuckskind

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In ähnlicher Weise kennt ein Kind auch seinen Vater. Einer unserer Ausbildungsteilnehmer konnte sich, als er vor zwei Jahren erstmals einen Kurs bei mir besuchte, kaum noch bewegen. Seine Wirbelsäule war steif wie ein Brett, und sitzen konnte er nur kurze Zeit, dann wurden die Rückenschmerzen unerträglich. Alle Untersuchungen, vom MRT bis zu Osteopathie, zeigten eine hervorragende Wirbelsäule ohne Schäden. Medizinisch war das Ganze völlig rätselhaft. Interessanterweise ist der Mann selbst Arzt, sogar Anästhesist, also unter anderem Facharzt für Schmerztherapie, aber seinen eigenen Schmerzen war er hilflos ausgeliefert. Die einzige „Therapie“ schien darin zu bestehen, sich nicht zu bewegen.

Der Schlüssel zur Lösung des Rätsels (und der Lähmung) liegt in seiner Herkunftsgeschichte: Er ist, wie er sagte, ein „Kuckuckskind“. Er liebt seinen Vater (der nicht sein leiblicher Vater ist) sehr, aber als er einmal gehört hatte, dass der Vater eigentlich unfruchtbar sei und es dann bei ihm merkwürdigerweise doch „geklappt“ hätte, hatte sich ein Verdacht eingeschlichen, dem er mit über vierzig endlich nachgegangen war: Er hatte sich ein Haar seines „Vaters“ genommen und heimlich einen Gentest machen lassen, mit dem Ergebnis, dass der Mann nicht sein Vater sein konnte. Daraufhin hat er seine Mutter gefragt: „Sag mir bitte, wer mein Vater ist.“ Die Mutter war nicht überrascht, sondern eher erleichtert, sie hatte auf diesen Moment gewartet14 und hat es ihm sofort gesagt, allerdings mit dem Zusatz: „Du musst mir versprechen, dass Du das nie Deinem Vater sagst, sonst springe ich von der Brücke.“

Sie erzählte ihm dazu, dass sie sich beide sehr ein Kind gewünscht hätten, und weil der Mann unfruchtbar war, sei sie auf die Idee gekommen, mit einem anderen Mann, den sie sympathisch fand, zu schlafen; als sie die Schwangerschaft bemerkte, habe sie ihrem Mann gesagt, anscheinend sei er doch nicht ganz unfruchtbar oder es sei ein Wunder passiert, und er habe es geglaubt.

Jetzt saß der Sohn in der Falle: Er konnte sich nicht bewegen, ohne alles zu zerstören. Das manifestierte sich in der Erstarrung seiner Wirbelsäule beziehungsweise in seinen Schmerzen, wenn er sich bewegte. Zugleich drängten die Schmerzen und Einschränkungen, die er dadurch erlitt (er konnte lange Zeit nicht arbeiten), danach, aus dieser kindlichen Loyalität auszubrechen. Sein Körper spiegelte einerseits seine Gefangenschaft und zwang ihn zugleich, daraus auszubrechen, wenn er nicht ewig leiden und sein eigenes Leben zerstören wollte. Inzwischen kann er sich – allein dadurch, dass er mit mir und auch in der Gruppe darüber gesprochen hat und das Geheimnis damit halb gelüftet ist – wieder viel besser bewegen und wieder arbeiten, aber eine leichte Steifheit ist noch da und die Schmerzen sind auch nicht ganz weg.

Die Frage ist: Sagt er ganz ja zu sich oder nicht? Kognitiv ist die Antwort klar, aber solche Fragen kann man nicht mit dem Kopf entscheiden. Sie geht weit über das Thema der körperlichen Lähmung hinaus – diese ist nur das vorläufige Endresultat einer langen Geschichte. Unbewusst wusste er schon immer, dass er Teil eines Geheimnisses ist, auch schon als Kind. Seine ganze Erscheinung, sein Gesichtsausdruck wie seine Art sich zu bewegen, drückt etwas Heimlich-Verschwörerisches aus, ein „Ich weiß etwas, was du nicht weißt“, es ist Teil seiner „Identität“. Dadurch, dass mir dies aufgefallen ist (ich habe ihm gesagt: „Ich sehe deine Probleme und nehme sie ernst, und zugleich glaube ich dir gar nichts. Du spielst hier ein Spiel, innerlich weißt Du genau, worum es geht“), sind wir überhaupt erst auf das „Kuckuckskind“ und den Zusammenhang mit der Wirbelsäulenversteifung gekommen. Als ich dies sagte, ist er nicht etwa böse auf mich geworden, sondern sehr ernst, und dann ist er mit der Kuckuckskind-Geschichte herausgerückt.

Er weiß, dass er das Geheimnis verraten und seinem Vater die Wahrheit sagen muss, aber was sind die Folgen? Kann er sie tragen? Wenn er zu seiner Mutter sagt: „Dann musst Du eben springen“, wird ihm dies nichts bringen. Wenn sie es tatsächlich tut oder wenn, was für ihn noch schlimmer wäre, sein Vater in sich zusammenbrechen würde – könnte er damit leben und glücklich sein?

Die Antwort muss von innen kommen, aus der Liebe zu sich selbst heraus und der tiefen (und sehr schmerzhaften!) Einsicht, dass er seine Eltern nicht schützen und retten kann. Die innere Haltung müsste in etwa sein: „Mama, wenn Du springst, respektiere ich das. Es wird mir sehr weh tun, aber es ist Dein Leben, und ich mische mich da nicht mehr ein.“ Oder, zu seinem Vater: „Papa, ich kann und will Dir die Wahrheit nicht ersparen. Wahrscheinlich weißt Du sie sowieso. Aber ich muss es Dir trotzdem sagen, und ich wünsche mir von Herzen, dass Du damit klarkommst.“

Solche Sätze und die Haltung dahinter kann man sich nicht zurechtlegen, sie müssen wachsen. Ich kann damit nur die Richtung andeuten, jeder muss das am Ende alleine finden. Wenn er ganz offen ist, werden die Worte von selbst zu ihm kommen. Diese Bewegung entsteht, wenn man die Liebe des inneren Kindes zu seinen Eltern sieht. Diese Liebe zwingt das Kind dazu, bei dem elterlichen Spiel mitzumachen und so zu tun, als ob es nichts wüsste15. Genauso, wie das vertauschte Kind (im anderen Beispiel) weiß, dass seine Mutter nicht seine Mutter ist, weiß auch dieser Junge, dass sein Vater nicht sein Vater ist. Dieses heimliche Wissen ist sogar Teil seines Körperausdrucks geworden. Aber es ist kein kognitives Wissen, es ist das sinnlich-körperliche Wissen, das ich als Spüren bezeichne. Der Verstand braucht den Gentest, um zu glauben, was der Körper längst schon weiß.

Es gibt aber etwas, was der Körper nicht weiß: dass die Zeit, wo dieses Wissen gefährlich war, vorbei ist; dass er nicht mehr auf Gedeih und Verderb von den Eltern abhängig ist und daher das Spiel nicht mehr mitmachen muss. Nur die Seele weiß das, und sie bringt es durch die körperlichen Symptome zum Ausdruck. Dennoch kann der Mann jetzt nicht einfach „loslassen“, denn die kindliche Liebe wirkt auch noch im Erwachsenen. Der Abschied davon gelingt nicht über Nacht. Erst wenn man erkannt hat, dass die Kindheit und mit ihr auch die Abhängigkeit, die die kindliche Liebe prägt, vorbei ist, kann auch die Liebe langsam erwachsen werden. Dann kann sie bleiben, ohne die Eltern oder ihre Beziehung retten zu müssen. Sie liebt dann die Eltern, wie sie sind, und lässt ihnen ihr Leben und ihr Schicksal, wie es ist. Dieses Erkennen muss aber den ganzen Menschen umfassen, also über das Kognitive hinaus auch gefühlt werden. Von dort aus wandert es dann mit der Zeit auch in den Körper. Wenn sich solche Erfahrungen im Körper noch nicht zu sehr verfestigt haben, kann sich dieser dann vielleicht ebenfalls verändern.

Kurz vor der Drucklegung dieses Buches erhalte ich folgende E-Mail von ihm:

Lieber Wilfried,

also bin ich am Samstag, trotz Corona, zu meinen Eltern gefahren und habe reinen Tisch gemacht; und es war erstaunlich undramatisch.

Ich habe das Gespräch sehr bewusst mit dem Satz begonnen: „Ich bin ein Mann“ (der keine langen Vorreden macht). Mein Vater konnte im Gespräch emotional ganz gut mitgehen, er war kein bisschen überrascht, er war erleichtert, ihm war wichtig, dass alles so bleibt, wie es ist.

Ich habe ihm gesagt, dass er immer mein Papa war, es ist und auch bleibt. Und ich habe mich bei ihm bedankt für alles, was er für mich getan hat.

Was wirklich interessant war: als ich angefangen habe zu sprechen, habe ich gemerkt, dass meine Mutter hart wie Stein wurde und total angepisst war im Angesicht dessen, was kommen würde. Und ich habe kurz gedacht: meine Mutter muss doch auch erleichtert sein oder irgendwie begrüßen, was ich gerade mache … Dann ist mir das Märchen vom wilden Mann eingefallen, das du in Nettersheim erzählt hast und mir war sofort klar: meine Mutter wird mir den goldenen Schlüssel niemals geben, den muss ich mir nehmen und zwar auch gegen ihren Willen. Und das habe ich dann genau in dieser Haltung gemacht.

Ich habe mich für mich entschieden.

Ich bin der Zerstörer.

Und ich bin damit vom Spielbrett gesprungen und stelle mich nun nicht mehr schützend vor den einen oder die andere oder versuche ihnen etwas abzunehmen.

Nun können die beiden mal miteinander reden oder es bleiben lassen.

… In mir ist etwas ruhig geworden, hat sich entspannt.

Meine Antwort:

Du bist nicht der Zerstörer, Du bist der Bejaher, Du hast „ja“ zu Dir selbst gesagt. Alles, was dadurch zerstört wird, sind Illusionen. Ganz rund wird die Sache, wenn Du jetzt noch siehst, dass Du Deiner Mutter und ihrem Verhalten Dein Leben verdankst und ihr das dann auch sagst, etwa: „Für mich war alles gut so, wie Du es gemacht hast.“

Die Welt, in der wir leben

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