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Spüren – Wahrnehmung durch die Sinne und den Körper

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In der ersten Lebensstufe entwickeln wir das Spüren, wir sind spürende, das heißt mit den Sinnen wahrnehmende Lebewesen. Das ist für mich die erste Stufe des Bewusstseins oder die erste Weise, wie wir die Welt wahrnehmen und uns in ihr orientieren: sinnliche Wahrnehmung. Das ungeborene Kind denkt und fühlt nicht (im emotionalen Sinne), sondern es spürt. Es schwingt körperlich mit der Mutter mit und spürt zugleich deren Schwingungen. Dieses Spüren ist im wahrsten Sinne des Wortes sehr eindrücklich, es drückt sich in unseren Körper ein. Anfangs ist der Embryo ja nur ein Verbund von Zellen, die sich nach und nach differenzieren und zu Gliedmaßen, Organen etc. werden. Alle Erfahrungen, die ein Embryo macht, macht er daher mit seinem ganzen Körper, und seine Sinnesorgane lassen ihn spüren, was ihm guttut und was nicht. Man kann per Ultraschall beobachten, dass ein Fötus auf Reize wie Schall, Geruch und Geschmack (sicher auch auf die erwähnten Gifte Nikotin und Alkohol) reagiert, dass er das eine mag und das andere nicht, und dass er das, was ihm nicht gefällt, zu vermeiden versucht. Es gibt sogar Beobachtungen, die nahelegen, dass Föten die Nadel bei einer Fruchtwasseruntersuchung als Bedrohung erleben und sich entweder verkriechen oder die Nadel wegzustoßen versuchen (Bourquin/Cortes 2016).

Der Fötus weiß zwar nichts, aber er spürt alles: Ich stelle mir vor, dass er die Schwingungen der Welt, in der und von der er lebt, so ähnlich spürt, wie ein Eingeborener im Regenwald die Schwingung der Natur um ihn herum spürt und mit seinen Sinnen wahrnimmt, wann Gefahr droht und wann nicht. In meinen Aufstellungen beobachte ich zum Beispiel immer wieder, dass das ungeborene Kind spürt (und in diesem Sinne „weiß“), wenn es von der Mutter abgelehnt wurde oder es sogar einen Abtreibungsversuch gegeben hat. Was es davon aufgenommen hat, ist das Gefühl des Nicht-gewollt-Seins oder der Bedrohung seines Lebens, und sein Körper hat dieses Gefühl gespeichert und auch die damalige Reaktion darauf. Diese Reaktion – etwa, dass er sich so wenig wie möglich bewegt und nur so viel von der Mutter genommen hat, wie er unbedingt zum Überleben brauchte – hat nämlich sein Leben gerettet. Deshalb wird sie später habituell und ein scheinbar natürlicher Bestandteil seiner Lebensweise, obwohl sie tatsächlich nur ein erlerntes Verhalten ist, das einmal sehr hilfreich war.

Kürzlich war eine Frau in einem Seminar, die mir auffiel, weil sie so grimmig dreinschaute, dass ich mich zwingen musste, nicht wegzuschauen. Es fühlte sich an, als wenn sie jederzeit auf dem Sprung wäre, einen physisch zu attackieren. Dazu passte dann auch, dass sie beim Sprechen die Fäuste ballte. Da ich meinem Impuls wegzuschauen nicht nachgegeben habe, sondern sie offen und interessiert angeschaut habe, als sie eine Frage stellte, sah ich plötzlich, dass sie sehr weiche und sanfte Augen hatte. Als sie merkte, dass ich weder Angst vor ihr hatte noch mich ihr kämpfend gegenüberstellte, sondern sie nur offen anblickte, kam das Sanfte immer deutlicher zum Vorschein, was sie allerdings gehörig irritierte, als sie es bemerkte. Bei der Arbeit mit ihr wurde dann klar, was hinter ihrer ständigen Kampfbereitschaft steckte: Ihre Mutter hatte vergeblich versucht, sie abzutreiben, so dass sie sich ständig bedroht fühlte und in der tief verinnerlichten Überzeugung lebte, dass sie jederzeit auf der Hut und bereit sein müsste, um ihr Leben zu kämpfen.

Damit machte sie sich natürlich keine Freunde und stand ziemlich allein im Leben. Die Erfahrung, die sie schon im Mutterleib gemacht hatte – dass sie nicht gewollt und nicht gemocht und sogar bedroht ist –, bekam durch ihr eigenes automatisches Verhalten, ihr ständiges Misstrauen und ihre für alle sichtbare Kampfbereitschaft immer wieder neue Nahrung und verfestigte sich so immer mehr. Der Satz, den ich in solchen Fällen die Betroffenen zu ihrem inneren Kind sagen lasse, lautet: „Das Leben hat dich gewollt“ (oder: „Gott hat dich gewollt“). Wenn dieser Satz, der ja die Wahrheit ist – wenn er nicht wahr wäre, wäre sie tot –, tief in sie eindringt, kann die alte Angst mitsamt den entsprechenden Verhaltensmustern mit der Zeit verschwinden. Denn was zählen schon die Wünsche der Eltern gegen das Leben? Das Leben hat sich in jedem Lebewesen vergegenständlicht, und zwar genau so, wie es ist.

Der Fötus weiß aber nicht, was Abtreibung ist, er weiß ja noch nicht einmal, dass er in der Mutter ist. Das heißt, dieses Wissen ist kein kognitives Wissen, es ist ein Körperwissen. Genau genommen müsste man sagen „sein Körper weiß es“, anstatt „er“ weiß es. Sein Körper folgt diesem „Wissen“ ganz automatisch, und später gilt das auch für die Gefühle dieses Menschen. Er lernt dann gar nicht richtig zu fühlen, sondern seine gesamte Gefühlswelt besteht nur aus diesem Grundgefühl des Bedrohtseins. Erst mit der (ganzheitlichen) Erkenntnis, dass die Bedrohung vorbei ist, kann sich solch ein Mensch auf das Risiko eines emotionalen Kontaktes einlassen und nach und nach auch das wirkliche Fühlen lernen. Genauso weiß ein Mensch in seinem Körper, ob die Mutter während der Schwangerschaft gut für ihn gesorgt, ihn als Belastung empfunden oder gar abgelehnt hat, ob sie krank war oder einen Unfall hatte, wie die Geburt verlaufen ist und ob die Mutter danach bei ihm war und er nah bei ihr oder nicht. Da dieses Wissen nicht im kognitiven, sondern im Körpergedächtnis gespeichert ist, kann es durch kognitive Methoden nicht erreicht werden.

Ich bringe dazu noch zwei Beispiele, die zeigen, dass ein Kind seine Eltern von Anfang an kennt und dass es in seinem Körper ein Wissen trägt, das weit über das kognitive Wissen hinausgeht und sich im späteren Leben in manchmal sehr rätselhaften Symptomen ausdrücken kann. Zugleich zeigen sie die Bedeutung, die die biologischen Eltern für ein Kind haben. Es sind keine Einzelfälle, ich hatte viele ähnliche Geschichten.

Die Welt, in der wir leben

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