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Freiheit und Abhängigkeit
ОглавлениеNach der Geburt wird das Ineinandersein von Mutter und Kind abgelöst durch Beziehung, die Kommunion durch Kommunikation, und dies bedeutet Freiheit und Abhängigkeit, beides zugleich. Beide bilden gemeinsam ein Ganzes, eine Einheit, die das vorherige Ausgeliefertsein ablöst. Sie sind keine Gegensätze, sondern die beiden Pole einer Ganzheit. Die Geburt schenkt uns die körperliche Freiheit, insofern wir jetzt physisch ohne die Mutter existieren können, ihr Essen nicht mehr zugleich unser Essen ist und ihr Tod nicht mehr zugleich unser Tod; zugleich sind wir abhängig, weil wir nicht allein existieren können und uns jetzt bemerkbar machen müssen, wenn wir etwas brauchen oder wollen, und weil wir uns nicht nur irgendwie verständlich machen müssen, sondern, was noch viel wichtiger ist, auch verstanden werden müssen. Letzteres können wir aber nicht wirklich beeinflussen – wir können zwar schreien (und später sprechen), aber ob uns der andere (am Anfang die Mutter) versteht oder nicht, liegt nicht in unserer Hand.
Das Kind muss nun eine „Doppelstrategie“ entwickeln. Einerseits muss es, wie schon vor der Geburt, weiterhin alles daransetzen, seine Lebensgrundlage, die Mutter, zu erhalten; andererseits muss es nun aber auch für sich selbst sorgen, da ihm die Nahrung nicht mehr von selbst zufließt. Das Einfachste und Natürlichste ist, dass es schreit. Das brauchte es im Mutterleib nicht, und es konnte es auch nicht. Hier sehen wir zum ersten Mal die Ambivalenz der Freiheit. Es ist frei vom mütterlichen Organismus, es ist nicht mehr auf Gedeih und Verderb mit der Mutter vereint, und damit entsteht zugleich die (vorher nicht existierende) Notwendigkeit, seine Bedürfnisse zu äußern. Zunächst kann es nur schreien oder weinen, später wird es mehr und mehr die Sprache benutzen, wobei es das Schreien und Weinen aber immer noch als zusätzliche Möglichkeit in petto hat. Je nachdem, wie erfolgreich es vorher damit war, wird es diese Möglichkeit auch benutzen, wenn reden nicht hilft – zumindest die gesamte Kindheit hindurch, oft aber ein Leben lang. Wenn es seine Umgebung aber als unfreundlich oder fragil erlebt, wird es sich eher anpassen, klein machen und nur das Minimum einfordern, um der Mutter nicht zur Last zu fallen, denn das würde ja bedeuten, dass es sein Leben riskiert.
Hier macht ein Mensch Erfahrungen und entwickelt Verhaltensmuster, die sich sehr tief in seine Psyche eingraben, zu Automatismen werden, die er gar nicht bemerkt, und die uns auch im Erwachsenenalter noch entsprechend fühlen und handeln lassen30. Und auch dies ist den meisten Erwachsenen nicht bewusst. Sie meinen, das sei ihre Natur, dabei sind es nur automatische Gefühlsreflexe und erlernte Verhaltensweisen, die einst wichtig und mehr oder weniger erfolgreich waren. Sie dienten damals unserem Überleben, und unbewusst fühlen und handeln wir so, als ob sie dies ein Leben lang tun würden.
Wir sind aber nicht nur physisch abhängig, sondern auch geistig, denn ein Kind kann sich auch dann, wenn sein Körper gelernt hat, sich allein zu bewegen und allein zu essen, nicht allein in der Welt aufhalten und bewegen. Wir müssen auch geistig erst noch lernen, uns in die Welt hinein zu bewegen. Damit dies gelingt, müssen wir die Welt in uns aufnehmen, und das können wir nicht von allein. Dazu brauchen wir andere Menschen als Spiegel oder, allgemeiner gesprochen, als Resonanzkörper. Die Resonanz funktioniert umso besser, je ähnlicher andere mit uns sind. Am ähnlichsten sind dem Kind seine Eltern. In ihnen kann es sich selbst am besten gespiegelt sehen.