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Das Ende der großen Erzählungen
ОглавлениеAn deren Anfang steht die Religion, zunächst in der Form des Mythos. Der Mythos ist eine Erzählung, eine Erzählung über den Ursprung, über die Herkunft des Menschen, über seine Ahnen und über den Sinn seines Daseins. Diese Erzählung ersetzt die Natur, er ersetzt das fraglose Existieren und gibt der menschlichen Existenz damit wieder einen Ort. Er lebt zwar immer noch in engster Symbiose mit der Natur, aber er ist nicht mehr (nur) Natur. Nach dem Verlust der Heimat in der Natur hat er eine neue Heimat, nämlich den Mythos. Die Natur, die Erde ist zwar noch seine „Mutter“, aber er lebt nicht mehr in der Mutter, sondern hat sie schon als Gegenüber.
Es spielt zunächst keine Rolle, ob der Mythos in einem faktischen Sinne wahr ist. Dies wird erst dann zum Problem, wenn der Mensch Erfahrungen macht, die dem Mythos widersprechen. Wenn viele oder bedeutsame Einzelne diese Erfahrung machen, wird er durch einen anderen, weiter gefassten Mythos ersetzt. Der nächste große Schritt, die nächste Stufe ist dann der Schritt vom Mythos zur Religion. Sie gibt uns eine neue Heimat, in der Erfahrungen aufgehoben sind, die der Mythos nicht mehr fassen konnte. Aber mit der Zeit – genauer gesagt: mit den Entdeckungen, die den Naturwissenschaften vorausgingen und vollends dann mit deren Erkenntnissen – ist auch der Rahmen der Religion zu eng geworden. Auch sie gibt dem Menschen keine Heimat mehr.
In den Anfängen der Aufklärung hat man dann geglaubt und gehofft, in der Vernunft und der Wissenschaft eine neue Heimat zu finden, also einen noch weiteren Rahmen, der dem menschlichen Dasein wieder einen Sinn, eine Einbindung in etwas Größeres gibt. Diese Hoffnung ist mit dem Eintritt in die Moderne (um 1900) bereits verloren gegangen, denn die Wissenschaft und die Vernunft, die die Religion abgelöst haben, können keinen Sinn erzeugen, können uns nicht sagen, wie wir leben sollen und auch nichts über die Wahrheit sagen. Es gibt keine zwei Philosophen, die einer Meinung sind und die Welt gleich sehen. Wenn man unterstellt, dass sie alle hervorragend denken können und den Gebrauch der Vernunft beherrschen, bedeutet das, dass man mit Denken der Wahrheit nicht näherkommt, sonst müssten die großen Philosophen alle übereinstimmen4.
In den mit der Vernunft und der Wissenschaft begründeten und mit kalter Rationalität geplanten und durchgeführten Massenmorden der Nationalsozialisten und den Todeslagern und kaltblütigen Gräueltaten der Kommunisten im Namen des „Fortschritts“ und der „Befreiung der Menschheit vom Joch der Sklaverei“ ist die Hoffnung auf die Erlösung durch die Vernunft dann endgültig vernichtet worden. Wir haben sie aber noch nicht beerdigt, wir wollen den Tod der Vernunft noch nicht wahrhaben. Wir klammern uns daran, weil dahinter die absolute Wüste der Sinnlosigkeit lauert. In dieser Wüste kann der Mensch nicht leben. Alle ideologischen Kämpfe heute sind nichts als verzweifelte Versuche, dieser Wüste zu entrinnen und eine neue Heimat zu finden – anders gesagt: eine neue Erzählung, die für moderne Menschen Sinn macht, die in der Lage ist, ihre Erfahrungen zu integrieren und ihrem Leben damit eine Mitte und eine Richtung zu geben. Das gilt auch für die spirituelle Suche. Letztlich ist sie eine Suche nach Heimat.