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Vorwort

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Ich versuche, in diesem Buch zu ergründen, was unter dem Stichwort Corona jenseits des Krankheitsgeschehens gerade in der Welt geschieht und was wir davon lernen können, wenn wir Corona nicht nur bekämpfen, sondern uns davon treffen und uns über uns selbst, über unsere innere Haltung zum Leben und zum Tod belehren lassen. »Welt« meine ich hier nicht geografisch, sondern in dem Sinne, in dem ich den Begriff in meinem im vergangenen Frühjahr, während des ersten Lockdowns, erschienenen Buch »Die Welt, in der wir leben. Das Bewusstsein und der Weg der Seele« verwende: als den geistigen Ort, von dem aus wir uns selbst und unsere natürliche, kulturelle, soziale und technische Umwelt, unsere »Lebenswelt«, sehen, erleben und verstehen. Mit anderen Worten: die Welt, in der wir geistig leben und zu Hause sind.

Das erste Kapitel dieses Buches beginnt mit folgenden Sätzen:

»Wir leben alle in einer anderen Welt, jeder in seiner eigenen, und keine dieser Welten ist die Wirklichkeit. Wir streiten uns deswegen über das, was richtig ist, was man tun muss oder auf gar keinen Fall tun darf oder was die ›Wahrheit‹ ist, weil jeder die Welt und das Leben anders sieht und meint, seine Sicht sei die richtige. Wenn vier Leute in einem Raum vor jeweils einer der vier Wände sitzen und den Raum sehen, sehen sie jeweils etwas anderes. Ihre Erfahrung des Raumes ist verschieden, die Wand, die der eine von vorne sieht, sehen die anderen von der Seite oder (die Wand hinter ihnen) gar nicht, und der ganze Raum fühlt sich anders an, je nachdem in welcher Ecke man sitzt. Keine Sicht ist falsch, aber jede ist unvollständig.«

Jeder schaut aus einer anderen Perspektive, von einem anderen Standortaus, und jeder sieht nur das, was man von diesem Standort aus sehen kann. Das ist, das Wort ist sehr genau, seine ›Ansicht‹. In den meisten Fällen, vor allem dann, wenn es um Dinge geht, die uns wichtig sind, halten wir diese Ansicht aber für mehr als nur eine Ansicht, wir halten sie für das Richtige, wenn schon nicht für die Wirklichkeit oder die Wahrheit.«

Inzwischen ist das Jahr vergangen, es ist Neujahr, und ich stehe verblüfft vor der Tatsache, in welchem Ausmaß sich die jeweiligen Welten, in denen Menschen sich innerlich aufhalten, die Tür an Tür leben, im selben Verein sind, im selben Büro arbeiten, ja sogar derselben Familie angehören, voneinander entfernt haben, und mit welcher Härte darüber gestritten wird, wer recht hat. In der Gesellschaft verkünden Politik, Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen eine quasi offizielle Sicht auf das Thema Corona, die es in dieser Einhelligkeit in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben hat. Das spiegelt aber in keiner Weise die persönlichen Auffassungen der Menschen – sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Wenn diese abweichenden Meinungen in den Medien und der Politik noch einen Widerhall finden, dann als unvernünftige, dumme Haltung, als rücksichts- und verantwortungsloser Egoismus, zuweilen sogar als pathologisch, also krankhaft. Die Gesellschaft ist tiefer gespalten als zu den Zeiten der Studentenbewegung, der neuen Ostpolitik unter Willy Brandt oder der Anti-Atombewegung, doch damals waren die Konfliktparteien und ihre Standpunkte noch in den Medien repräsentiert. Ein Meinungsklima wie zurzeit habe ich in den mehr als fünfzig Jahren meines Erwachsenenlebens noch nicht erlebt.

Das macht mich betroffen. Aus dieser Betroffenheit heraus habe ich Mitte Oktober angefangen zu schreiben. Ich wollte mir darüber klar werden, was Corona und die gesellschaftliche Reaktion darauf mit mir machen, und was dieses globale Geschehen jenseits meiner persönlichen Meinungen und Wünsche für die Welt bedeutet. Denn aus der medizinischen ist längst eine geistige Pandemie geworden, deren Auswirkungen wesentlich tiefer gehen und die kein Impfstoff in kurzer Zeit »besiegen« wird. Hier geschieht ein Bewusstseins-wandel im Zeitraffertempo, der gewaltige soziale Verwerfungen zur Folge haben wird und einen ganzheitlichen Blick erfordert.

Corona ist selbstverständlich ein globales Thema, und zumindest in Europa sind alle Länder ähnlich betroffen und reagieren auch ähnlich. So beziehe ich mich zwar, wenn es um die Rolle der Medien und der Politik geht, auf die deutsche Situation, das zentrale Thema dieses Buches, die geistige Haltung, die sich durch Corona offenbart, gilt aber für ganz Europa, auch wenn ich auf die Situation außerhalb Deutschlands nicht explizit eingehe.

Mein Fachgebiet ist das Bewusstsein, aus dem heraus Menschen die Welt sehen, die geistige Haltung, die ihre Gefühle und ihr Denken bestimmt und aus der heraus sie wie selbstverständlich handeln. Dieses Bewusstsein ist der eigentliche Gegenstand dieses Buches: Was zeigt uns Corona, was zeigt uns unsere persönliche wie gesellschaftliche Reaktion auf dieses Naturereignis über uns selbst, über die Art unseres In-der-Welt-Seins? Über die geistige Verfassung unserer Zeit? Über unseren Umgang mit der Natur, mit Krankheit und Tod, mit Wahrheit und Wissenschaft, Wunsch und Wirklichkeit? Wohin, in welche Art von Leben, treibt uns dieses Bewusstsein? Was macht es mit uns, was macht es innerlich mit jedem Einzelnen und auch mit unserer Gesellschaft? Wie verändert es die Welt, in der wir leben – außen wie innen? Das ist die psychologische Dimension von Corona (nicht zu verwechseln mit der Frage der psychischen Folgen!), die bisher kaum Beachtung findet.

Ich habe dieses Buch zwischen dem 15. Oktober und dem 15. Dezember geschrieben und danach noch einmal überarbeitet. Wo nötig, habe ich es aktualisiert, aber die persönlichen Eindrücke, die ich schildere, so gelassen, wie sie zum jeweiligen Zeitpunkt entstanden sind. Dabei springe ich manchmal zwischen den Zeiten, ich folge nicht immer der Chronologie. Die Zahlenangaben geben, sofern nichts anderes vermerkt ist, den Stand zum Jahreswechsel wieder.

Wie die meisten Menschen bin ich in diesem fast gänzlich durch Corona bestimmten Jahr auch selbst durch einen intensiven inneren Prozess gegangen, den ich mitdokumentieren möchte. Ich möchte Sie, liebe Leserinnen und Leser, damit anregen, bei sich selbst nachzuspüren, was das gesamte Geschehen um Corona mit Ihnen gemacht hat und macht. Ich weiß nicht, wohin dieser innere Prozess mich persönlich noch führen wird. Nur eines ist klar: Nichts steht für mich fest. Auch das kann Corona uns lehren, es ist nämlich – wie Heraklit es schon vor 2500 Jahren gesehen hat – immer so, nur dass man das leicht vergisst: Panta rhei – alles fließt.

Ich danke allen Freunden, die mich zu einer Veröffentlichung ermutigt und mir mit Kommentaren zu meinem ersten Entwurf geholfen haben, meine Gedanken klarer zu präsentieren, namentlich: Coen Aalders, Thomas Geßner, Hanna Göser, Edelgard Henke, Christa Langen, Markus Maurer, Malte Nelles, Anne Petersen und Bunda Watermaier.

Marmagen/Eifel, zum Jahreswechsel 2020-2021

Wilfried Nelles

Also sprach Corona

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