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Meditation und Reflexion Das Jahr der Ratte

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Am 30. Januar 2020 habe ich unserer Partnerin Xing Shuwen in China geschrieben, dass ich meine für April geplante Vortrags- und Seminarreise absagen möchte. Wenn, so habe ich hinzugefügt, alles gut geht und China die Epidemie (von Pandemie war damals noch nicht die Rede) hoffentlich bald überstanden haben wird, würde ich vielleicht meine Sommerferien opfern und zumindest die Ausbildungskurse dann nachholen (neben öffentlichen Vorträgen und Seminaren im ganzen Land führen mein Sohn und ich zwei mehrjährige Ausbildungskurse in Peking durch). Ich war fast so naiv wie unser Gesundheitsminister, der damals noch verkündete, so etwas wie in China könnte hier nicht passieren, wir in Deutschland seien bestens vorbereitet. Mir war allerdings klar, dass wir, wenn das Virus nach Europa kommen würde, dem viel hilfloser ausgeliefert wären als die Chinesen. Wir waren so gut vorbereitet, dass ich mir Anfang April noch Masken aus China habe schicken lassen, weil es hier keine gab.

Für die Chinesen fielen nicht nur meine Kurse aus, sondern praktisch auch das Neujahrsfest Anfang Februar. Das Chinesische Neujahrsfest ist etwas ganz anderes als hier, es ist das Fest des Jahres, ungefähr wie Weihnachten und Ostern zusammen. Das ganze Land ist dann unterwegs, um sich eine Woche lang im großen Familienverbund und mit alten Freunden zu treffen und zu feiern. Für die meisten war das jetzt nicht mehr möglich. Zudem war 2020 noch ein ganz besonderes Neujahr, das Jahr der Ratte, der Beginn eines neuen 12-Jahres-Zyklus. In China lebt die Astrologie noch, die Chinesen kennen keinen »Aberglauben« – sie haben nicht, wie das gesamte christliche Abendland und unsere als »Aufklärung« verkleidete säkulare Fortsetzung des Christentums, alle alten Riten und Glaubensinhalte verbannt. Glaube und »Aberglaube«, Fortschritt und Tradition, westliche und traditionelle chinesische Medizin, Wissenschaft und Magie wohnen bei ihnen im selben Haus, mal geht man in dieses Zimmer, mal in jenes, und alle haben ihre Berechtigung. So ist es nicht nur in China, so ist es mehr oder weniger in ganz Asien, soweit es nicht muslimisch ist. In China wohnen sogar Kapitalismus und Kommunismus in derselben WG.

Der chinesische Tierkreis besteht aus zwölf Zeichen, die jeweils einem anderen Tier zugeordnet sind. Die Ratte ist das erste Tier und hat damit gewissermaßen, ähnlich wie der erste Sohn in der Familie, den höchsten Rang, es leitet immer einen neuen Zyklus ein, der die nächsten zwölf Jahre bestimmt. Ratten stehen in China für höchste Intelligenz und die Fähigkeit, dank dieser Intelligenz auch in schwierigsten Situationen zu überleben. Wenn es Säugetiere gibt, die einen Atomkrieg überleben, dann am ehesten die Ratten. Es scheint, dass diese Intelligenz in diesem Jahr und, wenn man der chinesischen Astrologie folgt, für die nächsten zwölf Jahre besonders gefragt ist. Im Moment macht es mir nicht den Anschein, als ob wir in Europa verstehen würden, was das für uns bedeutet.

Ich bin auch eine Ratte, im September 2020 hat für mich ebenfalls ein neuer Zyklus begonnen. Als mir das Anfang des Jahres beim chinesischen Neujahrsfest aufgefallen ist, habe ich in der Rückschau festgestellt, dass ich zumindest seit meinem 36. Lebensjahr mit jedem Ratte-Jahr in eine neue Lebensphase eingetreten bin. Vor allem beruflich hat sich in diesen Jahren immer etwas grundlegend geändert, und das seither alle zwölf Jahre. Jetzt habe ich zweimal 36 Jahre hinter mir, mein siebter 12-Jahres-Zyklus hat begonnen, und mir ist klar, dass es vielleicht mein letzter sein wird. Wenn es noch eine Zugabe geben sollte, werde ich sie gerne nehmen, aber innerlich begebe ich mich auf meine letzte Lebensrunde. Dazu passt, dass ich im Mai ein Buch veröffentlicht habe, das die Arbeit dieser letzten 36 Jahre zusammenfasst und sich für mich wie mein Lebenswerk anfühlt.

Es tut mir gut, mir das Nahen des Todes klar zu machen, sehr gut sogar. Anfangs war ich ein bisschen erschrocken, ich habe immer sehr gerne gelebt und tue dies auch heute noch. Ich wusste zwar, wie alt ich bin, und hatte auch kein Bedürfnis, mich jünger zu machen oder wieder jung zu sein, aber gefühlt habe ich mein Alter nicht, und so gelebt habe ich auch nicht. Jetzt sehe ich die Endlichkeit dieses Lebens, und wenn ich mich darauf einlasse, werde ich seltsamerweise ganz ruhig. Ich schreibe »seltsamerweise«, weil die meisten sich das nicht vorstellen können. Eigentlich ist es aber nicht seltsam. Wenn man einer Tatsache nicht ausweicht, sondern sich ihr offen stellt, wird man immer ruhig. Das gilt auch für den Tod.

Also sprach Corona

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