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Einleitung: Die Göttin Corona
ОглавлениеAls SARS-CoV-2, das, wie man sagt, »neue« Corona-Virus, Ende Februar/Anfang März 2020 Europa erreichte, ohne dass damals schon absehbar gewesen wäre, welche Ausmaße es annehmen würde, schrieb mein Sohn Malte Nelles auf der Facebookseite unseres gemeinsamen Instituts folgenden Satz:
»Von Carl Gustav Jung stammt das vielschichtige Zitat ›Die Götter sind Krankheiten geworden‹. Corona, das ist doch ein Name, der einer Göttin stehen würde. In früheren Zeiten hätte es überhaupt keinen Zweifel daran gegeben, dass eine göttliche Kraft hinter einer neuen Krankheit stecken würde. Da das moderne Bewusstsein aus der magischen Wirklichkeit der personifizierten, strafenden Gottheiten herausgewachsen ist, ist es für uns Moderne heute einfach nur ein Virus. Soweit unser naturwissenschaftliches Weltbild. Wie aber steht es um die Psychologie des Corona-Virus?«
Ich war damals in Spanien, zunächst bei einem Seminar in Valencia und danach auf einer Konferenz in Bilbao, wo die Menschen Anfang März noch bedenkenlos Leib an Leib in Bars, Aufzügen und den Konferenzsälen des Hotels zusammenstanden. Meine Frau und ich waren mittendrin. Eine Woche später wurde in Deutschland der Lockdown verkündet. Als ich den Text im Internet las, habe ich sofort gespürt: Das ist wahr, das sollte jeder lesen, und ich war ein bisschen stolz auf meinen Sohn. Seither ist dieser Gedanke immer präsent in mir.
An einem der in mehrfacher Hinsicht dunklen Herbsttage Mitte Oktober, als sich die Warnungen vor dem Tsunami der »zweiten Welle« mal wieder überschlugen, bin ich abends sehr früh ins Bett gegangen und auch schnell eingeschlafen – ermüdet vom Lesen der neuesten Bestimmungen, die auch die Arbeit unseres psychologischen Instituts stark beeinträchtigten, und betrübt von der Ahnung, dass uns eine auf Samtpfoten daherkommende Technik- und Gesundheitsdiktatur ins Haus stehen könnte, gegen die kein argumentatives Kraut gewachsen ist, da sie sich auf die Angst der Menschen stützt, die man ihnen zuerst sehr erfolgreich eingeflößt hat. Als ich nach einer halben Stunde wieder aufwachte, wusste ich plötzlich: Ich muss Corona, die Göttin, sprechen lassen. Ich schreibe auf, was sie zu sagen hat, und vielleicht wird ein kleines Buch daraus.
Zur Erläuterung möchte ich kurz etwas über unsere psychologische Arbeit sagen: Zu uns kommen oft Menschen, die verzweifelt sind, und manche von ihnen leiden an schweren oder chronischen Krankheiten, bei denen ihnen die Medizin kaum noch helfen kann. Unsere Methode besteht, ganz kurz gesagt, darin, dass wir ihnen helfen, auf die Krankheit zu hören. In jeder Krankheit verbirgt sich eine Botschaft. Oft kann man erst dann wieder gesund werden, wenn man diese Botschaft vernimmt, sie ganz an sich heranlässt und ihr folgt. Und wenn man nicht mehr gesund wird, weil die Krankheit zu weit fortgeschritten ist, kann man vielleicht damit in Frieden kommen oder sogar in Frieden sterben. Aber oft lösen sich auch hartnäckigste und sehr schwere Symptome danach in Luft auf.
Diese Vorgehensweise verlangt einen ungewöhnlichen Schritt von den Betroffenen wie auch vom Therapeuten: Alle müssen darauf verzichten, die Krankheit (oder was immer das Problem ist) wegmachen zu wollen. Sie darf nicht als Feind angesehen werden. Man kann jemanden nicht verjagen oder töten wollen und zugleich auf ihn hören. Man muss sie zunächst einmal da sein lassen. Ich rede hier nicht von dem, was ein Arzt zu tun hat, sondern von der inneren Haltung der Betroffenen und der Psychologie. Für beide geht es darum, die Krankheit zu sehen und anzuerkennen als etwas, das, weil es zu uns kommt und uns geschieht, eine Bedeutung für uns hat. Alles, was uns trifft, hat eine Bedeutung für uns. Nur dann kann ich die Krankheit wirklich sehen und ihre Botschaft vernehmen. Wenn ich wirklich höre, was sie zu sagen hat, kann sie sich vielleicht zurückziehen, denn dann hat sie ihren Zweck für die Seele des Betroffenen erfüllt.
Das ist nicht instrumentell zu verstehen, etwa in dem Sinne: Wenn ich weiß, was die Krankheit bedeutet, dann weiß ich, was ich tun muss, damit sie wieder weggeht. Das ist eine in esoterischen Kreisen verbreitete Denkweise, aber so funktioniert es nicht. Dies ist nur eine andere Weise, sein Leben im Griff haben zu wollen. Eine schwere Krankheit – ich rede hier nicht von Erkältungen, vorübergehenden Unpässlichkeiten und anderen Kleinigkeiten – ist immer ein Schlag ins Gesicht unseres Egos, ein Schock für unsere Vorstellung, dass wir das Leben im Griff haben könnten. Diesen Schlag muss man aushalten. Die Botschaft einer Krankheit entschlüsselt sich meist erst im Nachhinein, nachdem man sich hat treffen und erschüttern lassen und seine ganze Hilflosigkeit vor seinem Schicksal gesehen, erfahren und angenommen hat, wenn man insoweit kapituliert hat, dass man bereit ist, mit dieser Krankheit zu leben, so gut es geht, oder gar mit ihr zu sterben. Dann zeigen sich plötzlich neue Wege.
Corona erscheint uns zunächst als ein hoch ansteckendes Virus, das sich sehr schnell verbreitet und insofern als erste Reaktion unsere Abwehr mobilisiert. Dies ist die Aufgabe der Medizin und zum Teil auch der Politik. Es ist aber nicht nur ein Virus, es ist auch eine Botschaft, die die ganze Welt betrifft, jeden Einzelnen und alle gemeinsam. Auf dem Höhepunkt der Friedensbewegung schrieb Peter Sloterdijk vor 40 Jahren in seiner »Kritik der zynischen Vernunft« über die Atombombe: »Die Bombe ist keine Spur böser als die Wirklichkeit und um kein Haar destruktiver als wir. (…) (Sie) fordert von uns weder Kampf noch Resignation, sondern Selbsterfahrung.« SARS-CoV-2 ist zwar wahrscheinlich nicht, wie die Bombe, eine menschliche Schöpfung, aber man kann es ebenso als Medium nehmen, das uns einiges über uns selbst lehren kann. Das Virus selbst, wie auch unsere Reaktion darauf, ist auf jeden Fall auch ein Spiegel, in dem wir uns selbst sehen können – sofern wir bereit sind, in diesen Spiegel hineinzuschauen.
Ein Jahr nach dem Auftauchen von Corona scheint es mir an der Zeit, dies zu versuchen: zu hören, was das Virus selbst zu sagen hat, seine implizite Botschaft zu hören und zu schauen, was sich im Spiegel der Corona-Politik und der Reaktionen darauf über uns alle, über unser modernes Menschentum wie jeden selbst, zeigt. Dazu werde ich Corona »sprechen« lassen. Ich tue dies, indem ich mich auf seine Phänomenologie, auf die Weise, wie es erscheint, einlasse und das, was ich dabei wahrnehme, in Worte fasse. Selbstverständlich sind das meine Worte, ich bin kein Medium, und ein Virus hat keine eigenen Worte und will uns nicht belehren. Seine Sprache liegt vielmehr in der Art und Weise, wie es erscheint, wie es die Menschen trifft und was es in ihnen auslöst.
Das ist das, was ich seine Phänomenologie nenne und was ich aufzunehmen und dann mit meinen eigenen Worten auszudrücken versuche, indem ich diese dem Phänomen Corona in den Mund lege. Anders als ein Virologe betrachte ich Corona also nicht in erster Linie als Virus, sondern als ein geistiges Geschehen. Es geht mir darum, uns von diesem Phänomen, das die ganze Welt in Atem hält, belehren zu lassen – über unsere Lebensweise, unsere Haltung zur Natur, zu Krankheiten und zum Tod und einiges andere mehr. Dies geschieht in den Kapiteln, die mit »Corona spricht« überschrieben sind.
Diese Botschaften und Lektionen greife ich dann in fachlichen und persönlichen Diskursen auf. Da ich zugleich Beobachter als auch Teilnehmer (»Betroffener«) des gesamten Corona-Phänomens bin, beziehe ich meinen persönlichen Umgang damit ein, denn niemand kann von außen darüber sprechen oder schreiben. Alles, was Menschen tun, ist von persönlichen Bedürfnissen, Interessen oder Vorlieben und ähnlichen Dingen geleitet. Das gilt auch für jede wissenschaftliche Arbeit. Insofern ist nichts objektiv, erst recht nicht bei einem Thema, das die ganze Welt im Innersten trifft und aufwühlt. Ich beschreibe also auch meine emotionalen und physischen Reaktionen, die Weise, wie Corona mich trifft, was es in mir auslöst und wie ich damit umgehe, und verbinde dies mit allgemeinen psychologischen Beobachtungen und Erfahrungen aus meiner Arbeit.
Die »Göttin Corona« ist selbstverständlich eine Fiktion – aber genauso ist »das Virus SARS-CoV-2« eine Fiktion. Das eine ist eine mythologische, das andere eine wissenschaftliche Fiktion. Letztere ist nicht wahrer und nicht wirklicher als erstere. Den Verursacher der Krankheit in einem Virus zu sehen, ist lediglich unsere moderne, materialistische Sicht. Sie setzt uns instand und zwingt uns, anders damit umzugehen, als dies die Alten taten. Ansonsten ist sie genauso ein Konzept, wie die mythologische Sicht eines war.
Was Corona wirklich ist und was es bedeutet, weiß niemand – ich also auch nicht. Ich versuche lediglich, einige der in seiner Phänomenologie aufscheinenden Botschaften zu vernehmen, und erzähle insoweit eine fiktive Geschichte, eine Erzählung mit einem gewissen Bezug zur Wirklichkeit. Aber manchmal ist die Fiktion wahrer als das, was einem als Wissenschaft verkauft wird. Urteilen Sie selbst.