Читать книгу Wie ein Dornenbusch - Wilfried Schnitzler - Страница 10

Оглавление

6 Auf der SS Athos nach Colón

Eine Dampfbarkasse brachte ihn den Hudson hinunter zur SS Athos, einem kleinen Einmaster der North American Steam Ship Company, der am Pier schon unter schwarzem Qualm aus seinem Schornsteinrohr, bereit zum Auslaufen, vor Anker lag. Die Reederei verband mit ihren Postschiffen die große Metropole von New York mit der kleinen Ortschaft Colón an der Atlantikküste von Panama. Die Amerikaner nannten den Ort stolz nach ihrem Landsmann ‚Aspinwall’, dem Bürger, der so viel zur Finanzierung des Baus der Panama Eisenbahn vor über 30 Jahren beigetragen hatte. Das Schiff tuckerte auf seiner Route entlang der Ostküste, immer gen Süden, bis in die karibische See.

Als Cornelius auf der SS Athos im Zwischendeck, wie schon über den Atlantik, seine Koje suchte, war die Kabine fast leer. Auch in der ersten und zweiten Klasse reisten nur einige vermögende und abenteuerlustige Vergnügungssuchende, die die weißen Tropenstrände der Karibik sehen und kennenlernen wollten. Geschäftsleute sah man wenige.

So viel Platz hatte es nicht immer auf den Postschiffen nach Panama gegeben. Es waren nur wenige Jahrzehnte her, da trekkten Tausende zuerst per Schiff nach Colón, überquerten mit der Panama-Eisenbahn in wenigen Stunden die Landenge, um im Hafen von Balboa an der Pazifikküste wieder ein dort wartendes Dampf- oder Segelschiff zu besteigen, das sie entlang der Westküste bis nach San Franzisko brachte. Das war ein kaum endender Strom von Abenteurern. Für die Desperados war das Schiff ein relativ komfortables, zeitsparendes und risikoarmes Transportmittel, statt 2000 Meilen durch Indianergebiet auf dem Landweg viele Monate beschwerlich und gefährlich im Ochsenkarren, der Postkutsche oder mit dem Pferd den Kontinent von Ost nach West zu durchziehen. Der ‚Wilde Westen’ war keineswegs romantisch, dafür gab es genügend Gesetzlose im Land und Friedensrichter, die schnell mit dem Galgen zur Hand waren. Seit die transkontinentale Eisenbahn vor beinahe zwei Jahrzehnten den riesigen amerikanischen Kontinent vom Atlantik bis zum Pazifik verbunden hatte, brach der Treck der Glückssucher im Goldrausch nach Kalifornien ziemlich rasch am Isthmus zusammen.

Ein zweiter Ansturm von Mensch und Material setzte mit dem Bau des Panama-Kanals ein, aber die französische Société Civile Internationale du Canal Interocéanique, mit ihrem Präsidenten, dem Grafen Ferdinand de Lesseps, berühmtem Erbauer des Suez Kanals, musste erfolglos die Arbeiten am Bau des Panama-Kanals einstellen. Das Ende löste einen riesigen Finanzskandal an der Börse in Paris und politische Tumulte in Frankreich und Panama aus. Schuld waren Planungsmängel, falsche geologische Untersuchungen, Bestechungen, unzählige technische Schwierigkeiten und Pannen, gekrönt mit schlechter Organisation. Riesige Summen wurden buchstäblich im Sumpf des 73 km langen Kanalaushubs versenkt. Am Ende hatten Gelbfieber und Malaria mehr als zwanzigtausend Arbeiter in der morastigen Landschaft bei sintflutartigen Regenfällen und tropischen Temperaturen hingerafft.

Jetzt konnte aber Cornelius die Reise auf dem amerikanischen Schiff, ohne europäischen Klassendünkel genießen. Die Passagiere im Zwischendeck hatten die Freiheit sich überall zu bewegen solange sie den Reisenden der komfortablen Kabinen nicht die Liegestühle und den Aussichtsplatz aufs Meer an der Reling wegnahmen. Die Lounges und Speisezimmer durfte Cornelius allerdings nur durch die Bullaugen bewundern oder wenn gerade die weiten Türflügel offen standen. In einem kleinen Raum unter Deck standen ein paar Tische mit Bänken, wo er essen konnte. Die Kantine bereitete recht akzeptable Eintöpfe: Fisch mit Kartoffeln, ein Stückchen Huhn im Reis oder Schweinefleisch auf Bohnen. Manchmal leistete er sich sogar ein Glas englisches Porterbier.

Draußen, auf dem offenen Deck, wehte meist eine milde Brise bei wärmender Sonne. Er fand einen Liegestuhl in einer ruhigen Ecke, den sonst niemand zu beanspruchen schien. Diese Solitüde war ihm angenehm, denn um ihn herum sprachen alle Englisch, dessen Worte er zwar wissbegierig aufsaugte, aber noch wenig Sinn für ihn ergaben. Er war vor allem über die häufig sehr unterschiedlichen Dialekte dieser Sprache überrascht und versuchte herauszufinden, ob ihre Gesichter zum Klang der Worte passten und wo diese Menschen vielleicht herkamen. Er hätte geschworen, dass da Leute von Ungarn versuchten Englisch zu sprechen, so hart war ihre Aussprache. Wenn er sich später daran erinnerte, musste er darüber lächeln, denn das waren Iren oder Schotten mit ihrem besonderen englischen Akzent, so ganz anders, als das der Londoner Aristokratie oder dem Slang der amerikanischen Südstaaten. Aber diesen Unterschied lernte er, wie gesagt, erst nach vielen Jahren zu unterscheiden.

Er räkelte sich gerne, versteckt in seinem Liegestuhl, und beobachtete die Wellen und das Meer, das immer ruhiger, blauer und tiefgründiger wurde, je weiter sie gen Süden vorstießen. Nach und nach entledigte er sich im Sonnenschein seiner schweren Kleidungsstücke. Manchmal tauchten unerwartet Tümmler und fliegende Fische auf, Kreaturen, die vor seinen Augen im Wasser spielten und die er bis jetzt nicht zu Gesicht bekommen hatte. Ein Matrose, der wohl sein Interesse beobachtete, deutete im Vorbeigehen auf die Meerestiere und rief ihm ab und an die Namen zu. Er horchte in sich hinein, und fand da in solchen Momenten einen Menschen, den er für ziemlich gesegnet hielt, der nie und nimmer, nicht in seinen kühnsten Phantasien zu träumen gewagt hätte, eine solche Schöpfung Gottes, solche Naturwunder mit eigenen Augen zu erleben. Das waren für Cornelius ganz neue Welten. Wenn er nicht gerade vor sich hin träumte, nahm er Jakobs Geschenk zur Hand, das ihm sein Gärtnerfreund noch beim Abschied zugesteckt hatte, ‚Philipp Helds Großes Illustriertes Gartenbuch zur Selbstbelehrung für Gartenbesitzer, alles in durchaus klarer, leichtverständlicher Darstellung.' Es war für den Eigengebrauch geschrieben worden und reich bebildert. Was da der königlich württembergische Garteninspektor aus seiner langen Erfahrung für Gartenliebhaber von sich gab, war überaus faszinierend, genau das Richtige für Cornelius und ließ ihn hoffen, einmal selbst in einem eigenen kleinen Garten zu praktizieren. Er senkte das Buch halb geöffnet in den Schoß, das unentwegte Rauschen der Wellen am Schiffsrumpf, das leise Knattern des Winds in den Segeln, - der Kapitän hatte volles Tuch gesetzt und die Maschinen gedrosselt, - umhüllten Cornelius mit einem Fluid der Monotonie, so richtig zum Dösen.

Aus den Augenwinkeln erhaschte Cornelius einen Schatten, der keiner war, denn der sprach ihn nun in gebrochenem Deutsch mit französischem Akzent an. Es gab für unseren Gartenstudiosus verschiedene Möglichkeiten diese Störung los zu werden. Er konnte sich schlafend stellen, in der Erwartung, dass der Schatten sich davonschlich, er konnte vorgeben nichts zu verstehen oder sich auf eine Unterhaltung einlassen. Er entschloss sich für das Letztere und öffnete vollends die Augenlider. Vor ihm stand ein großgewachsener Mann in reichlich verwaschenem, zerknautschtem, weißen Leinenanzug, dessen Fasson schon bessere Tage gesehen hatte. Aber nicht zu verleugnen, seine Kleidung war erheblich komfortabler an das warme Klima angepasst, als Cornelius' Anzug aus dunklem Wollstoff. In seinem unverkennbaren französischen Deutsch stellte sich sein Gegenüber mit einem sehr kleinen Kopfnicken vor: »Bitte erlauben Sie mir, Sie in ihren Studien zu unterbrechen, ich bemerkte Sie lesen ein deutsches Buch. Ich nehme an, Sie sind kein Amerikaner?«

Sein Deutsch war wirklich sehr holperig, worauf Cornelius sofort bereit war, seinem Gegenüber auf Französisch zu antworten. Die Erwiderung kam überschwänglich in der Muttersprache des Franzosen.

»Bitte halten Sie mich nicht für aufdringlich Sie sans phrase anzusprechen, aber ich versuche schon seit Tagen mit diesen Leuten hier auf dem Schiff in eine vernünftige Unterhaltung zu kommen. Ist vollkommen utopisch. Alle sprechen nur diese unmögliche englische Sprache, als müsste alle Welt sie verstehen, ich glaube, die haben einfach keine Bildung. Ich habe mir erlaubt Sie schon eine ganze Weile zu beobachten, wie Sie da so alleine herumsitzen und dachte mir, dass wir wohl Leidensgenossen sein könnten. Et voilà, ich habe mich nicht getäuscht. Ich bin Maître Barbier, Paul Barbier von Toulouse und Advokat von Beruf.«

Cornelius versuchte erst gar nicht sich aus seinem niedrigen Stuhl zu erheben, reichte nur seine ausgestreckte Hand. »Das ist richtig, Herr Rechtsanwalt, ich bin Deutscher, kein Amerikaner, habe einige Zeit in Ihrer schönen Heimat zugebracht.«

Barbier schien richtig unter der gesellschaftlichen Dürre der vergangenen Tage gelitten zu haben, denn er sprühte buchstäblich mit jemandem in seiner Sprache zu plaudern.

»Ich arbeite für die SCICIO und muss ......«

Er merkte, dass ihm sein Gegenüber nicht folgen konnte, denn es traf ihn ein fragender Blick.

«Oui, oui, je comprend, ich verstehe, sie wissen nicht was SCICIO bedeutet. Habe ich mir von den Amerikanern schon so angewöhnt, diese Abkürzungen. Also, ich arbeite im Auftrag der Société Civile Internationale du Canal Interocéanique. Habe für die Gesellschaft in Panama alle Aktivitäten rechtlich abzuwickeln. Im Vertrauen gesagt, die Zahlungsunfähigkeit dieses Unternehmens ist eine sehr, eine äußerst delikate Angelegenheit, ja, ich muss gestehen, ein Skandal, das kann ich Ihnen versichern. Ich bin nun schon auf meiner vierten Reise nach Panama. Habe bereits so manches Mal um mein Leben bangen müssen, nicht nur in Panama, sondern sogar in Frankreich. Ich weiß nicht, was in der Presse größere Wellen geschlagen hat, das Furore über den Kollaps der Gesellschaft in meinem Heimatland mit all den vielen Besitzern von jetzt wertlosen Aktien und Anleihen, oder die totale Kakophonie der Benachteiligten in Panama. Der wirtschaftliche und politische Schaden ist unübersehbar, auch Graf von Lesseps ist finanziell und gesellschaftlich vollkommen ruiniert.«

Barbier merkte, dass er sein Gegenüber mit seinen emotionalen, für Cornelius abstrakten Schilderungen völlig überforderte. Wie konnte er auch erwarten, dass ein Außenstehender seine Erregtheit über diese, nun schon drei Jahre zurückliegende Perfidie teilen konnte, die ihn zwar geschäftlich sehr in Anspruch nahm, mit deren üblen Auswirkungen und dem damit verbundenen Unrecht sich sein gerader Charakter aber nicht identifizieren wollte.

»Kommen Sie, mon jeune ami, wenn Sie mir erlauben, Sie so ansprechen zu dürfen, also wenn ich schon Ihre Aufmerksamkeit so lange in Anspruch genommen habe, und wo wir zwar nicht aus dem gleichen Land, aber doch vom gleichen Kontinent kommen und die selbe Sprache sprechen, lassen Sie sich bitte von mir zum Mittagstisch einladen, der Salle de Restaurant wurde gerade geöffnet.«

Cornelius ließ sich nicht lange bitte. Er war zwar kein Connaisseur guter Speisen, aber sein Naturell liebte gut zu tafeln. Die Tische waren nobel mit weißem Damast eingedeckt, neben edlem Porzellan lagen Silberbestecke auf Messerbänkchen. Die Speisekarte wurde den Gästen von kleinen China-Männern kredenzt, deren langer, geflochtener Haarzopf auf ihrem Rücken auf und nieder hüpfte, wie sie so mit schnellem Schritt von Tisch zu Tisch eilten. Ihre weiten, weißen Hosen unter schwarzer Bluse gingen nur bis zu den Waden, was etwas clownhaft wirkte. Die angebotene Vielfalt des Menüs war für Cornelius absolut überwältigend. Die Auswahl fiel ihm schwer. Am liebsten hätte er mit dem obersten Angebot angefangen und sich allmählich durchgefuttert.

Maître Barbier beobachtete sein Gegenüber amüsiert, aber nicht ohne Wohlwollen. Cornelius startete mit der Suppe, wählte den Halibut und dann das Rib Beef mit all den Entrees und was dazu gehörte. Bei der Nachspeise hatte sein Magen schon etwas Schwierigkeiten, aber er schaffte noch eine. Dazu wurde ein köstlicher, trockner, französischer Weißwein gereicht. Was brauchte der Mensch mehr zum Wohlsein! Cornelius gestand sich ein, dass die gehobene Klasse zu reisen wusste, ein Luxus, das war ihm klar, den sein zukünftiger Lebensweg niemals erlauben würde. Das hieß für ihn, besser jetzt genießen, solange es sich bot. Er hatte keinerlei Gewissensbisse. Herr Barbier konnte höchst interessant über Panama erzählen, Details, von deren Nützlichkeit er bestimmt in Zukunft profitieren konnte. Wieder einmal dankte er der gütigen Vorsehung und zog sich wohlgenährt und zufrieden zur Siesta in seine Koje zurück.

Man traf sich auch gelegentlich auf Einladung des Maître zum Frühstück. Trotz Pleite am Kanal reiste der Franzose mit einem, von seinem Klienten gut ausgestatteten Spesenkonto. Die Auswahl bei Tisch war echt begeisternswert. Da wurden verschiedene Eiergerichte mit gebratenem Bacon angeboten, Toast und Muffins, dazu leicht gesalzene Butter zu echter englischer Chivers Orangenmarmelade, die er bis dahin natürlich noch nicht gekannt hatte, aber nun um so mehr genoss, Hühnchen und geräucherten Fisch, Black Pudding, den er lieber nicht anrührte, baked beans, duftender, englischer Tee, frisch gepresster Orangensaft und gerade kurz vorher aufgebrühter Kaffee aus Bohnen von Guatemala, sein Lieblingsgetränk. Auf der Speisekarte stand 'Kontinentalfrühstück', damit meinte man das ferne Europa. In der Neuen Welt schien man den Morgen spartanischer anzugehen und diese Fülle nicht zu kennen. „Welch ein Glück mit einer solch soliden Tradition des Alten Kontinents seinen Tag zu beginnen“, sinniert Cornelius. „Das hält so richtig Geist und Körper von der Morgenstunde bis zum Abend zusammen.“

Wie ein Dornenbusch

Подняться наверх