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8 Priesterweihe

Seit seiner Ankunft waren inzwischen Wochen vergangen. Eine weiße, aromatische Wolke legte sich auf Cornelius und umhüllte ihn. Er mochte Weihrauch nicht, ein Duft, der für andere Menschen die Vorstufe zum Himmel bedeutete. Aufmüpfig, dümmlich dachte Cornelius: „Lieber nicht im Paradies als so eingenebelt zu werden“. Mit heißer Stirn und weit von sich gestreckten Armen lag er bäuchlings auf dem Boden, seine Nase auf die Steinplatten gedrückt. Es roch leicht nach Moder. Wie immer begann das lästige Schnüffeln in seiner Nase, üblicherweise gefolgt von Niesen, wenn er zu schnell in eine kühlere Umgebung wechselte. Zum Glück kam es diesmal nicht ganz so weit. Seine Handflächen fühlten die Kühle der Steinfliesen und von draußen hörte er durch die weit geöffneten Kirchenportale das ständige Plätschern des Regens, so typisch für diese Jahreszeit. Die Feuchte legte sich auf Steine, Kirchenbänke, seine Kleidung, eben auf alles. Das tropische Klima war für ihn, aus dem kühlen Europa, noch immer gewöhnungsbedürftig. Er hatte ein wenig Herzklopfen, wohl wissend, dass sich in den nächsten Augenblicken sein Leben grundsätzlich verändern würde. Wie sehr wünschte er sich Demut. Aber er empfand keine, wartete nur ungeduldig auf den zügigen Ablauf der bevorstehenden Handlung.

Die unbequeme Körperlage verdross ihn. Er fragte sich, ob die Umstehenden es wohl merken würden, wenn er sein Gesicht ein wenig auf die Seite drehen würde, um wenigsten mitzubekommen, was da um ihn herum los war. Murmelnde Stimmen schwebten irgendwo über ihm. Also versuchte er sich zu entspannen, sich auf das Kommende einzustellen.

Es war nicht wirklich kalt, trotzdem fröstelte ihn leicht. „Es ist bestimmt die Aufregung“, dachte er. Als Cornelius die Kirche betrat, war sein ganzer Körper bereits schweißgebadet. Dafür hatte in der feuchten Hitze der kurze Weg mit raschem Schritt unter den Arkaden genügt, der das gegenüberliegende Seminarhaus mit der Kirche verband. Wenigstens hatte ihn der Durchgang vor dem Regenguss geschützt und er war nicht vollkommen durchnässt angekommen.

Die Schwüle von draußen war im Kirchenschiff kaum zu spüren. Cornelius fragte sich, wie lange er wohl noch hier liegen müsse. Es war ihm nicht wirklich bewusst, wie viel Zeit schon verstrichen war, seit er sich vor die Altarstufen in seinem weißen, einfachen Leinenhemd niedergeworfen hatte.

Manuel Mendoza, seine bischöfliche Eminenz von Panama, war nicht mehr ganz jung. Seine ungewöhnlich braune Hautfarbe passte nicht so recht zu seiner sonstigen äußeren Erscheinung, zeugte eher von einem rechten spanischen Noble: klein, mit feingliedrigem Körperbau, hageren Gesichtszügen und Hakennase; seine weißmelierte, lange, immer noch volle Haarmähne quoll unter der Mitra hervor.

Seine Amtsbrüder in Frankreich hatten ihm den heutigen Tag geschenkt, seinen Ruf gehört und ihm Nachwuchs gesandt, der nun vor ihm ausgestreckt auf den Kirchenfliesen lag und auf die Weihe wartete. In diesem Augenblick empfand er nur tiefe Zufriedenheit. War es doch mehr als zwei Jahre her, seit er die letzte Priesterweihe zelebrieren durfte.

Mendoza hatte eigenwillig seinen Erzbischof in Bógota übergangen, ohne ihn zu konsultieren. Das war eigentlich eine Amtsüberschreitung. Trotzdem hatte er, statt sein Oberhirte, die Briefe geschrieben, denn er wusste, für Bógota war Madrid immer noch die erste Anlaufstelle, wenn es um Kontakte ging, sofern man sich nicht gleich an den Heiligen Stuhl in Rom wenden wollte. Aber das tat man lieber nur in ganz besonders wichtigen Fällen, ließ die Kurie lieber nicht zu häufig in das eigene Geschäft gucken. Was hatte ihn zu seiner Eigenmächtigkeit bewogen? Seine Gnaden wollte in seiner Diözese keine spanischen Priester mehr haben. Als Mestize hegte er eine tiefe Abneigung gegen die alten Kolonialherren, wofür die Erziehung seiner indianischen Mutter gesorgt hatte. Madrid hätte wieder Männer aus ihren Reihen geschickt.

Das Land litt immer noch unter abscheulicher Diskriminierung, geschürt von dekadentem, anachronistischem Rassismus. Dieses Schisma in der Bevölkerung machte ihn elend, aber auch wütend, denn er wusste zu genau, was am Ende dieser Konfrontation, irgendwann einmal, und wahrscheinlich in nicht allzu weiter Ferne, passieren würde. Gedanken, die den Seelsorger häufig bewegten. Die Arroganz, die ihm täglich aus dieser sogenannten besseren Gesellschaft entgegenschlug, ärgert ihn immerzu aufs Neue. Die Vormachtstellung der oligarchen Kolonialaristokratie war ungebrochen, diese Rabiblanco, wie sie von den Menschen hier im Land, die nicht dazugehörten, abwertend beschimpft wurde. Dabei war diese alteingesessene reiche Brut nicht zu fein, ihn ständig zu umschmeicheln.

Sein Entschluss stand fest, diesem Ungleichgewicht und dieser Ungerechtigkeit mit besserer Seelsorge zu begegnen. Der geistliche Zuspruch des Priesters sollte in jedem Dorf den verunsicherten Glauben dieser unglücklichen Menschen stärken und ihnen den nötigen Halt und Trost geben. Die Klöster in den Städten hatten reichlich Zulauf, denn da wurden die Brüder gut versorgt. Dagegen war draußen auf dem Land jeder Priester auf sich gestellt, daher wollte keiner dort dienen.

Mit Inbrunst sang er den Heilig-Geist-Hymnus, in festem Glauben auf spirituelle Führung. Diese Weihe war ihm, auch wenn er sie nicht so häufig, wie er gerne gewollt hätte, begehen konnte, keine Routine. Trotzdem erlaubte ihm die Feier seinen Gedanken nachzugehen.

Großes Kopfzerbrechen bereitete ihm Pachamama, die 'Mutter der Erde', wie die Einheimischen liebevoll diese Pseudogottheit nannten, an die viele Indios mit großer Inbrunst glaubten. Dieses Götzensymbol musste aus den Köpfen der Leute vertrieben werden, sonst würden alle Bemühungen der Kirche verpuffen, trotz des bewährten Schemas, die Götterwelt der Heiden mit christlichen Heiligen auszuwechseln. Aber die Indios wussten, wie sie ihre personifizierte Erdgöttin mühelos mit Maria, der Mutter Gottes ersetzen konnten. Maria symbolisierte in der Vorstellungswelt der Indios auf jedem Altar, bei jeder Prozession unsichtbar die Pachamama. Es war grotesk, aber jede christliche Missionierung half unter der Hand diese omnipotente, gestaltlose Gottheit, diesen Kult, der ursprünglich aus den Anden kam, unter der Hand weiter zu verbreiten. Die geheime Verehrung der Pachamama wurde mehr und mehr, auch in seiner Diözese, zum offenen kommunikativen Instrument des sozialen Widerstandes unter den Kleinbauern und Tagelöhnern auf dem freien Land. Seine bischöflichen Brüder in den Nachbarländern klagten über ähnliche Probleme und baten um priesterliche Unterstützung. Seine Diözese erzog am Isthmus den einzigen Nachwuchs.

Mendoza wollte seine Mitmenschen überzeugen, dass ihm gute Seelsorge am Herzen lag. Er wollte beweisen, dass die Kirche für ihre Belange eintrat, sie nicht alleine ließ. Aber dazu brauchte er enthusiastische, junge Priester, die bereit waren, gemeinsam mit ihren verirrten Schafen in den Dörfern ein einfaches Leben zu führen. Dazu brauchte es auch neue Gotteshäuser, allerdings keine pompösen Kirchen. Aber selbst Bescheidenes kostete Geld, zu viel, das er nicht hatte, auch nicht von der Mutterkirche bekam, und schon gar nicht vom herzlosen oligarchen Bürgertum. Die Bauern hatten ja sowieso nichts. Trotzdem sah er die einzige Lösung in engagierten Priestern, die mitten unter den Menschen leben wollten. Der Oberhirte hatte den unverrückbaren Glauben, dass für eine so gute und wichtige Sache Gottes Hilfe schon kommen würde. Das stärkte ihn.

Die Weihe seiner zwei Zöglinge hatte Mendoza nicht, wie üblich, in seiner mächtigen Kathedrale, sondern in der kleinen Kirche des Priesterseminars der Augustiner-Mönche in San José feiern wollen. Er bemühte sich ehrlich um die Nähe des Volkes und erhoffte sich mit der heutigen Zeremonie eifrigen Zuspruch durch die örtliche Gemeinde. Aber auf den Bänken verteilten sich nur ein paar Frauen und Kinder, die aus Neugierde gekommen waren, da sie eine Priesterweihe bisher noch nicht gesehen hatten. 'Sensatio est omnia'!

Der Regens und Leiter des Seminars stellte seine beiden Zöglinge allen Mitgliedern des Presbyteriums vor. So verlangte es das Weihsakrament.

Der Bischof, in seinen prächtigen Gewändern, rief zuerst laut »Cornelius« und dann »Mathieu«. Prompt schallte die Antwort der beiden jungen Männer mit kräftiger Stimme durch die Kirche: »Ad sum – hier bin ich.« Sie waren für die heilige Weihe bereit und schworen damit der wahren Kirche Gehorsam und ewige Treue.

Während Cornelius die Heiligenlitanai hörte, murmelt er gleichzeitig ein über das andere Mal inbrünstig sein eigenes ‚Pater noster’, um seine wieder aufsteigende Aufregung zu bekämpfen. Das Gebet half, das Blut in den Adern seiner Schläfen hörte auf zu pochen.

Endlich fühlte er die Hand seines Bischofs auf der kahlen Stelle seines Kopfes, wo man ihm die Haare zur Tonsur geschoren hatte. Das heilige Weihsakrament war vollzogen, was alle Mitglieder des Presbyteriums durch Handauflegen mit ihrem Segen bezeugten. Ein Schauer nach dem anderen durchfloss seinen Körper, was nicht alleine von der Kühle in der Kirche herrührte. Cornelius und Mathieu durften endlich aufstehen, ihre Hände wurden gesalbt, der Weihritus kam zu seinem festlichen Terminus. Damit lag ihr ganzes Leben in der Gemeinschaft der Kirche, einem Bund von Eingeweihten.

Zum ersten Mal wurde Cornelius das Messgewand übergezogen und die Stola um die Schultern gelegt. Behutsamen Schrittes, ja beinahe etwas unsicher, bewegte er sich zum Altar. Beide jungen Priester zelebrieren mit ihrem Bischof die erste Messe, am erhabensten die Heilige Eucharistie, feierlichste Handlung eines jeden Priesters. Cornelius war angekommen!

»Alle Türen stehen mir nun offen,« murmelte Cornelius auf Deutsch, mehr zu sich selbst, als für seine Umstehenden zu hören. Damit breitete sich in ihm weniger ein Gefühl der Erleichterung aus, als die geheime Erwartung eines geregelten Lebens. Für Cornelius stand unweigerlich fest, dass sich nun sein Leben ändern würde. In seiner exaltierten Stimmung wunderte er sich, was in aller Welt in den letzten sechs Monaten passiert war, das ihn so verändert hatte? Viel länger war es ja nicht her, dass er in diese fremde Stadt gekommen, er in diese, für ihn so ganz neue, so ganz andere Welt, aufgebrochen war.

In Gedanken fragte er sich: „So richtig Zeit zum Einleben gaben sie mir nicht im Seminar. Von den Menschen und diesem Land weiß ich so gut wie gar nichts. Wie kann ich mich da in einer Gemeinde, wo ich als Seelsorger wirken soll, zurechtfinden?“

Dabei war die Priesterausbildung ganz und gar nicht leicht. In den vergangenen Monaten reihte sich ein Examen an das andere, zuerst für die ‚Prima Tonsura et Minoribus Ordinibus’, dann für die ‚Subdiaconatu’ und letztendlich für die ‚Diaconatu et Presbyteratu’. Das konnte nur mit Disziplin erreicht werden. Zwischen dem Unterricht, den Stundengebeten, dem Studium der Bibel und der Heiligen Messe war kaum Zeit für die Mahlzeiten. So manches Mal wünschte er sich, dass er seinen Magen besser unter Kontrolle hätte und dieser weniger rebellisch sein würde. Sein Körper war noch nie 'sehr im Fleisch', aber die zurückliegenden Wochen hatten ihn noch hagerer gemacht. Die meisten Mahlzeiten begannen mit einer wässerigen Gemüsesuppe. Das Huhn war allerhöchstens darüber geflogen, sicherlich war keines darin gekocht worden. Danach lag auf dem Teller meistens Reis und Fisch. Schon das Frühstück fing damit an. Um das Beste daraus zu machen, wiederholte er in Gedanken immer wieder spöttisch die Litanei: „Fisch und Reis, Reis und Fisch. Mein ganzes Gehirn besteht nur noch aus Reis und Fisch“. Eigentlich hatte er erwartet, dass viele tropische Früchte Teil der Mahlzeiten sein würden, über die er so viel gelesen hatte - Ananas, Mango, Banane, Avocado, Kokosnuss. Nichts von alledem, nicht einmal einen Zuckerrohrsaft. Allerdings musste er eingestehen, es gab jeden Tag einen besonderen Genuss und darauf freute er sich immer wieder aufs Neue - eine Tasse Kaffee aus ganz schwarz gerösteten Bohnen, übergossen mit viel Milch. Eine Köstlichkeit, von der er schon auf der SS Athos von New York nach Aspenwall nicht genug bekommen konnte. Überhaupt, er dachte gerne an die lukullischen Mahlzeiten zurück, eingeladen von dem Franzosen, den er seit seiner Ankunft, durch seine Abgeschlossenheit, nicht wieder getroffen hatte.

Schon im Gymnasium, mehr noch während seines Theologiestudiums, lernte er und sprach fließend Latein; dazu kamen leidliche Kenntnisse in Altgriechisch und Hebräisch. Nicht umsonst hatte er Philologie studiert. Die neuen Sprachen liebte er freilich besonders, vor allem das Französische. In diesem Teil der Erde, den er zu seiner neuen Heimat gewählt hatte, sprach man aber Spanisch. Das war ein ganzes Stück von seinen bisherigen Sprachkenntnissen entfernt. Er hatte aber wesentlich weniger Probleme als Mathieu, der das wundervoll wohlklingende, spanische Zungen-R kaum rollen konnte, das Lispeln hinter den Zähnen und den Rachenlaut in der Kehle nicht richtig hervorbrachte. Sein Mitbruder aus Angers hatte mit der spanischen Aussprache einige Schwierigkeiten. Mathieus Muttersprache ließ diese zu weich klingen. Man lächelte hinter vorgehaltener Hand darüber, was ihn ärgerte. In seiner zukünftigen Gemeinde wollte er als Priester nicht zum Gespött werden.

»Du musst nur genau hinhören und den Leuten auf den Mund schauen. Nimm es leicht und hab nicht so viel Scheu!« versuchte Cornelius Mathieu immer wieder aufzumuntern.

Cornelius wusste freilich, wie leicht es ihm fiel neue Sprachen lernen. Mit Vokabeln brauchte er sich wenig herumzuärgern. „Die Grammatik verstehen und zuhören“, war seine bewährte Devise. Mehr war für ihn eigentlich nicht nötig. Mit Worten spielen und die Gedanken zu Papier bringen, das war alles. Er benutzte die Sprache zum Schreiben, nicht unbedingt zur Unterhaltung. Der direkte Kontakt mit Menschen war zweitrangig. Diese Bindung setzte er sparsam ein und nur, wenn absolut notwendig. Dabei war er ganz und gar nicht schüchtern, eher sich selbst genug. Mit Energie, und weil er wusste, dass seine selbst gewählte Isolation nicht richtig war, versuchte er diesen Hang zum Alleinsein immer wieder zu durchbrechen. Andere zu unterhalten war allerdings für Cornelius eine Tortur. Aus Langeweile wurde dann schnell Missvergnügen, und dagegen setzte er verletzenden Sarkasmus, was seine Mitmenschen unangenehm zu spüren bekamen. Er genoss die Verwirrung und Frustration, die er auslöste. Da konnte er sich so richtig hineinsteigern. Zwar wusste er wie unfair das war, dennoch benutzte er schamlos seine intellektuelle Überlegenheit, obwohl sein Verstand ihm sagte, dass ihn dieses Verhalten nicht weiter bringen würde. Es war ihm sehr wohl bewusst, dass er sich nur durch Menschenkenntnis in der Welt behaupten konnte. Also zwang er sich, auf seine Mitmenschen einzugehen, irgendwie mit ihnen in Berührung zu kommen. Häufig blieb es aber darauf beschränkt, im Gymnasium seinen Mitschülern Nachhilfestunden zu geben oder sich später an der Universität als Tutor anzubieten. Diese Kontakte gaben vor allem eine willkommene Gelegenheit, sein Taschengeld aufzubessern.

Neue Erfahrungen, die er genoss, verband er mit den beiden letzten Schiffsbekanntschaften. Dieses unerwartete Glücksgefühl machte ihn einigermaßen optimistisch, dass er sich in seinen mitmenschlichen Beziehungen doch noch bessern könnte. Wie gerne erinnerte er sich an Jakob, allerdings hatte er von ihm nichts mehr gehört. Wie es ihm und seiner Schwester wohl ergangen war? Wo hatte es die beiden in der Zwischenzeit hin verschlagen? In seinem ersten Pfarrgarten würde er bestimmt Jakobs Buch gleich aufschlagen, um seine Gemüse- und Obstbeete von Anfang an richtig anzulegen und zu pflegen.

Aber nun lag erst einmal seine Priesterweihe hinter ihm und die Wirklichkeit hatte ihn eingeholt. Er stand isoliert in einem fremden Land, gedrängt in einen Beruf, der für ihn bis jetzt noch keine wirkliche Berufung war. Was hatte es ihm gebracht, dass er Studium und Promotion in Windeseile abgelegt hatte? Hätte nicht der strenggläubige Vater sein und der Familie Seelenheil in die Obhut des ältesten Sohnes gelegt, die Kirche einen Teil des Studiums und der Rest die Großeltern bezahlt, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen Theologie zu studieren, nur um Priester zu werden.

Er fragte sich: „Wie ist das, wenn man keine Heimat mehr hat?“ Bei dem Gedanken wurde er beinahe etwas wehmütig. Er wollte sich aber nicht erlauben, dass dieser Umstand in ihm zu einem Problem auswachsen würde. Das hieße sein Leben aus der Hand zu geben. Cornelius war mit seinen fünfundzwanzig jungen Jahren voller Wissensdurst, gewürzt mit natürlicher Neugier. Ja, er entwickelte in diesen Tagen, zu seinem eigenen Erstaunen, sogar Abenteuerlust, verbunden mit einer tüchtigen Portion Eigenständigkeit.

Pater Ernesto schätzte sein Selbstbewusstsein aber wenig. »du musst lernen dich unterzuordnen, zuallererst unter Gott und unseren Herrn Jesus, aber natürlich auch unter deine Oberen, damit an erster Stelle unser hochwürdiger Herr Bischof!« bekam er immer wieder in nasalem Singsang von seinem rundlichen Spiritual, seinem geistigen Beistand im Seminar, zu hören. Der kleine Mann in seinem schwarzen Habit, mit speckigem, breitem Ledergürtel und großer Schnalle um seine Fülle gespannt, sah ihn dann mit strengem Blick an, wobei seine fleischigen Hände die Ärmel festhielten, damit er seine kurzen Arme verschränken konnte. Er musste seine Rundungen durch eine andere Kost als die Seminaristen genährt haben. Wenn Cornelius ihn so in Gedanken vor sich stehen sah, begann es in seinen Schläfen vor Unmut zu pochen. Als aufmüpfig wollte er aber nicht gelten, das würde sein Intellekt nicht zulassen.

Für Cornelius war es Schwäche, anderen zu schmeicheln, nur um vielleicht damit etwas zu erreichen. Damit machte er sich aber das Leben selbst unnötig schwer und verstärkte seine Isolation. Mit etwas mehr Anbindung an seine Lehrer im Seminar und das Gespräch mit ihnen suchend, hätte er vielleicht etwas weniger Bedenken vor der Zukunft gehabt. Wie viel Freiheit ihm noch bleiben würde? Wo würde ihn seine Gnaden hinschicken, in welche Gemeinde? Er sehnte sich, er suchte nach Ratschlag für den Umgang mit Mitmenschen!

All die vielen Stunden, Tage, Wochen im Seminar hatten nicht ausgereicht, ihn auf wirkliche Seelsorge vorzubereiten, priesterlicher Mittler zwischen Gott und den Menschen in einer Gemeinde zu werden. Es wurde keine Beichte geprobt, auch nicht, wie er sich verhalten sollte, wenn ihm wirkliche Seelennöte anvertraut würden. Wie konnte er die Trauer eines Menschen mittragen, Trost spenden? Stattdessen wurde in der Unterweisung im Seminar reichlich Liturgie geübt - die Heilige Messe, die Trauung, die Taufe, die Kommunion. Selbstverständlich waren das wichtige Sakramente, die dem Priesteramt vorbehalten waren und die er im Schlaf kennen musste. Er für seinen Teil meinte aber, dass eine gute Predigt zentrale Bedeutung hatte. Dieses kommunikative Rüstzeug effektiv einsetzen zu lernen, das hätte er sich gewünscht, um richtig gut zu predigen, seine Hörer in der Verkündigung der 'Guten Botschaft’ mitzureißen. Stattdessen befürchtete er in seinem Sermon in Sphären abzuheben, denen seine Zuhörer nicht folgen konnten. Beschämend hatte Cornelius in unnützem Hochmut die Einstellung, dass eigentlich die meisten Menschen kaum wert waren, sich mit ihnen zu beschäftigen. Obwohl noch so jung, war diese negative Denkweise bei ihm leider tief verwurzelt. Viel zu häufig hatte er kopfschüttelnd beobachtet, wie einfach Menschen manipuliert wurden. Er empfand tiefe Verachtung gegen alle, die es taten, aber ebenso für die Maltraktierten, die es widerstandslos über sich ergehen ließen.

Zu dieser inneren Haltung, die er zum Glück meist verbergen konnte, kam noch der Umstand seines Äußeren. Er wusste zu gut, dass seine schlechteste Visitenkarte auf Mitmenschen sein Aussehen war. Seine blässliche Gesichtsfarbe mit dem geringen Bartwuchs auf den Wangen verriet nicht mehr viel von der Bräune, die ihm Algerien hinterlassen hatte oder die Sonne auf seiner Haut auf dem Schiffsdeck nach Colón. Sein Blick war zu starr, was die schönen blauen Augen hinter der randlosen Brille auch nicht zu mildern vermochten. Die schmalen, meist zusammengepressten Lippen, brachten kaum ein Lächeln hervor und das glatte, akkurat gescheitelte, dunkelbraune Haar unterstützte nur noch die zur Schau getragene Strenge. Seine neue, bis zu den Füßen reichende Soutane hing mehr an ihm, als dass sein hagerer Körper sie ausfüllte und aus dem ringförmigen, steifen, weißen Kollar ragte sein dünner Hals wie ein Pfahl. Das Birett thronte viel zu hoch auf seinem großen Schädel mit der hohen Stirn, was ziemlich lächerlich aussah, weshalb er die Kopfbedeckung meist in der Hand drehte. Ja, man hatte Mühe, ihn attraktiv und sympathisch zu finden. Wie gerne würde er als Kompensation für dieses Aussehen dann manchmal nur einfach herzlich lachen, wenn das sein angeborener idiotischer Ernst und Konservatismus nur erlaubt hätte.

Wie ein Dornenbusch

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