Читать книгу Wie ein Dornenbusch - Wilfried Schnitzler - Страница 14

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9 Landausflug

Er war nun tatsächlich ein frisch gesalbter Priester, ein Presbyter seiner Kirche. Das erzeugte in ihm aber leider nicht die Emotion, dadurch reifer geworden zu sein. Er saß im Seminar herum und hatte Schulden an den Bischof für seinen Talar und das Birett, die sichtbaren Zeichen seiner neuen Amtswürde. Aber er fühlte sich unbehaglich in dieser schwarzen Kleidung, sie war viel zu unbequem in der feucht-tropischen Hitze. Er erinnerte sich an den weißen Burnus in Algerien, der den heißen Temperaturen viel besser angepasst war. Am schlimmsten zerrte das Warten auf seine erste Pfarre an seinen Nerven, die Ungewissheit der Entsendung. Er konnte noch so ungeduldig sein, der Generalvikar ließ sich Zeit, wollte nichts herausrücken. Er hasste es, von anderen abhängig zu sein, hütete sich aber, dies merken zu lassen.

Es bedrückte ihn immer noch sehr, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie er eine Gemeinde als Seelsorger leiten sollte. Wie hatte er das nur anzustellen? Umso mehr hoffte er darauf, wenigstens in der ersten Zeit von einem älteren, erfahrenen Mitbruder im Amt gestützt und unterwiesen zu werden. Er war noch kein Seelsorger, Hirte seiner Schafe, der Messen lesen, Predigten halten, Beichten hören und absolvere sagen konnte. Wie gern hätte er sich in diesen Momenten jemandem anvertraut, mit seinem Bruder Caspar, oder noch besser mit seiner Mutter, über seine Nöte gesprochen. Aber es gab ja niemanden für ihn.

Der Bischof avisierte, während der Woche, abends, falls er dazu bereit wäre, die Heilige Messe für Verstorbene lesen zu dürfen, sofern denn zahlungskräftige Bitten von Hinterbliebenen dafür gab. Einen Teil der Stipendien würde er ihm gut schreiben. Das sah er als eine willkommene Chance, seine Schulden abzuzahlen und nebenbei ein wenig bis zu seiner festen Anstellung zu verdienen. Kost und Logis im Seminar, wenn auch spartanisch und kümmerlich, waren immer noch frei. Er brauchte Beschäftigung, musste etwas tun, nur raus aus diesen vier Wänden! Am besten sich die Stadt anschauen solange ihm noch Zeit dazu blieb, denn er hatte ja wirklich noch nicht viel von seiner Umgebung, außer dem Seminar, gesehen. Er hätte auch gerne das Land und die Eingeborenen kennengelernt, allerdings brauchte er dazu eine Transportmöglichkeit, eine Kutsche oder wenigstens ein Pferd, aber dafür fehlte ihm das nötige Geld. Also musste die Stadt per pedes mit ihm vorlieb nehmen.

Die meisten Straßen und Gebäude waren außerhalb des Zentrums in keinem guten Zustand. Vieles erinnerte noch an die Kolonialzeit, ja an vielen heruntergekommenen, verwitterten und mit Pflanzen aus allen Ritzen bewachsenen Fassaden, schien die Zeit seit der Unabhängigkeit stehen geblieben zu sein. Die Avenida Central war dennoch beeindruckend mit ihren dreistöckigen Geschäftshäusern, den breiten Balkonen mit prächtig verzierten Balustraden im ersten und zweiten Stock, den großen, hohen Bogenfenstern im Parterre und den weit offenstehenden Toren, die häufig einen Durchblick in schattige Innenhöfe gewährten, bepflanzt mit Bäumen und blühenden Kübelpflanzen. Es wuchs ja alles im Überfluss in diesem Tropenklima. Cornelius stellte sich sarkastisch vor, dass selbst ein Finger, nur lange in die Erde gesteckt, wahrscheinlich auch Wurzeln treiben würde.

Die vielen Menschen überall auf den Straßen, häufig ärmlich angezogen, waren meist die Kinder von Mischlingen aus Schwarzen mit Indios oder weißen. Sie waren Straßenhändler, die versuchten mit allerhand billigem Tand zu feilschen, bunten Papageien, schön geformten Muscheln, reifen Orangen und Bananen, eben Kram, an das sie ihre Hand mit wenig Geld legen konnten. Letztlich fühlten sie sich als eigenständige Unternehmer, die überall herum schwärmten und keinen in Ruhe ließen, der auch nur im Entferntesten aussah ihnen etwas abkaufen zu können. Für Cornelius war es vollkommen unverständlich, wie viele Straßenjungen sich fortwährend und persistent anboten, Schuhe putzen zu wollen. Wies man sie zu barsch ab, musste man gewärtig sein, einen dicken Klumpen Wagenschmiere auf die Schuhe geworfen zu bekommen, was leicht auch auf dem Hosenbein oder auf dem langen Rock der Damen landen konnte. Daraus erwuchs sehr schnell die Bereitschaft, seine Fußbekleidung den Lausejungen zur Reinigung freizugeben. Cornelius' Soutane wirkte offenbar wie ein Schutzschild. Die Kleinhändler machten einen weiten Bogen um ihn herum, ja viele, besonders die Älteren, zogen sogar ihren Hut vor ihm. Diese Bevorzugung war für Cornelius eine ganz neue Erfahrung, was er aber, wie er sich eingestand, für gar nicht so übel empfand.

In der Hauptstraße entdeckte er einen stattlichen Laden mit einem deutschen Namen an der Hausfront. Bereits vor seinem Stadtrundgang hatte er erwogen, falls erschwinglich, einen fein geflochtenen Panamahut zu erstehen. Die Einheimischen nannten ihn korrekt Jipijapa. Dieses Kunstwerk aus gelbem Toquillastroh hatten die Leute aus den Dörfern Ecuadors erlernt, wo dieser wundervolle Hut ursprünglich herkam und nun über das Handelstor Panama die mondäne Welt eroberte. Er hielt eine solche Kopfbedeckung für viel bequemer als sein Birett und bestimmt auch seinem Ornat angemessen. Im Schaufenster sah Cornelius genau diese Hüte. Im Laden gab es, soweit er erkennen konnte, keine weiteren Kunden. Hinter den langen Theken standen einige lokale Bedienstete, die erwartungsvoll zu ihm herüberblickten, als er eintrat. Ein Herr, etwas älter als er, gut gekleidet, trat beflissentlich aus dem halbdunklen Hintergrund, um den priesterlichen Kaufinteressenten in gepflegtem Spanisch nach seinen Wünschen zu befragen. Er war weder Indio, Mestize, Mulatte oder Chinese, er schien ganz einfach der Eigentümer des Geschäfts zu sein, dessen Name mit Grünbaum über dem Ladeneingang stand. Cornelius ließ es darauf ankommen und sprach ihn gleich auf Deutsch an. Ein erfreutes Erkennen ging über Herrn Grünbaums Gesicht, der wirklich ein Landsmann war.

»Womit kann ich dienen, Hochwürden? Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie unter meiner großen Auswahl etwas finden könnten, über den Preis lässt sich selbstverständlich später reden.«

Hätte sein Gegenüber ihn nicht direkt angeschaut, wäre Cornelius versucht gewesen, sich umzusehen, ob er wohl beim Eintreten diesen Hochwürden im Laden übersehen haben könnte. Natürlich sprach nur ihn der Besitzer an, allerdings hatte er bis zu diesem Augenblick diese Betitelung nie auf sich bezogen gehört.

»Herr Grünbaum, nehme ich an? Ich würde mir gerne einen Jipijapa ansehen, falls Sie die richtige Größe für mich haben und ich mir so etwas Schönes überhaupt leisten kann.«

Er benutzte das spanische Wort Jipijapa und nicht Panamahut, wie dieses Accessoire für gewöhnlich von den Touristen bezeichnet wurde. Cornelius wollte demonstrieren, dass er ein Lokaler war. Herr Grünbaum schien das in diesem Moment nicht besonders zu interessieren, aber er nahm es stillschweigend zur Kenntnis.

»Also Hochwürden, wie schon gesagt, über den Preis reden wir erst einmal nicht. Und sollten wir die richtige Größe oder Qualität heute für Sie nicht vorrätig haben, morgen reise ich aufs Land wo für uns die Hüte angefertigt werden. Dort besorge ich Nachschub. Ist wirklich ein viel gesuchter Artikel, dieser Hut. Die hiesigen Geschäftsleute tragen ihn gerne, wie Sie ja selbst sehen, aber auch für die vielen Durchreisenden vom Pazifik mit dem Zug nach Colón ist er ein beliebtes Andenken. ein richtiges Markenzeichen für unser Land, dieser Panamahut, besonders für die Amerikaner, die damit ihren Nachbarn zu Hause zeigen können, von welcher exotischen Reise sie gerade gekommen sind.«

Cornelius hatte die Ohren gespitzt, als das Wort vom Landausflug fiel. Da könnte sich ihm doch unerwartet auf die Schnelle die Gelegenheit bieten, das Umland mit einem Ortskundigen näher kennenzulernen. Zuerst bemühte man sich aber, im Hutstapel ein geeignetes Exemplar im gewünschten Kopfumfang zu finden, der, wie Cornelius im Geheimen hoffte, nicht vorhanden war. Wieder versuchte Herr Grünbaum auf die bevorstehende neue Lieferung zu vertrösten. Cornelius nahm seinen ganzen Mut zusammen und schlug vor, Herrn Grünbaum morgen auf seiner Einkaufstour zu begleiten. Das Einverständnis kam prompt und überschwänglich.

»Hochwürden, wo darf ich Sie mit meinem Zweispänner abholen? Ist ihnen morgen um acht Uhr angenehm oder zu früh?«

Und ob Cornelius das angenehm war! Er war sowieso gewohnt mit den Vögeln aufzustehen, um der Frühmesse beizuwohnen.

»Wäre es für Sie ein großer Umweg, bei mir im Priesterseminar vorbeizukommen, wo ich zur Zeit noch lebe? Das ist bei der Iglesia San José, in der Avenida A, an der Ecke zur Calle 8 im Casco Viego.«

»Aber Hochwürden, das macht überhaupt keine Umstände. Natürlich kenne ich die Iglesia mit ihrem berühmten Goldenen Altar. Wer nicht in dieser Stadt?!«

Am nächsten Morgen erschien Herr Grünbaum pünktlich am Seminar in seiner bequemen offenen Kutsche mit kleinem Vordach zur Schattenspende und zwei stattlichen Pferden vorgespannt. Er sprang vom Sitz des Zweispänners hinter dem Kutscher und kam mit ausgestreckter Hand auf Cornelius zu, der vor dem Tor des Seminars schon auf und ab lief, ungeduldig, in Erwartung der kommenden Erlebnisse dieses Tages. Die Fahrt versprach bequem und angenehm zu werden, obwohl die morgendliche Temperatur bei der hohen Luftfeuchte bereits schweißtreibend war. Aber wenigstens sah es an diesem Tag nicht nach Regen aus. Der Himmel zeigte sich azurblau und ohne Wolken. Grünbaums luftiger, heller Einreiher mit dem Jipijapa auf dem Kopf, in der Farbe seines Anzugs, war prächtig der Witterung angepasst, wogegen Cornelius, in seiner schwarzen, langen Robe sich schwer tat in die Kutsche einzusteigen. Er war eben an sein neues Outfit noch nicht so recht gewöhnt, hätte auch gar keine bequemere Kleidung für den Landausflug gehabt.

»Hochwürden, das verspricht ein wundervoller Tag zu werden. Vielleicht sogar ohne Regen, ganz ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Aber wer sagt's denn, man muss nur in der richtigen Begleitung reisen. Wer könnte das besser, als ein Mann der Kirche! Vielleicht bringen Sie mir heute sogar Glück beim Einkauf. Häufig spuren die Einheimischen nicht so recht, sind manchmal unzuverlässig, was meine Bestellungen angeht. Nun, man wird sehen, es gibt immer wieder Überraschungen. Wir brauchen etwa drei Stunden bis zur Hazienda Rodriguez. Ist ein guter Freund von mir, der auf uns mit dem Mittagessen wartet. In seiner Zuckerrohrplantage liegt das kleine Dorf, in dem die Frauen leben, die für unsere Firma schon eine ganze Weile die Hüte flechten. Fahren wir los, wir haben genügend Zeit uns unterwegs zu unterhalten, und darauf freue ich mich, mein lieber Landsmann.«

Sie brauchten nicht lange, um aus der Stadt heraus zu kommen. Die Landstraße hatte kaum Schlaglöcher und es gab wenig Staub, denn in der vergangenen Nacht hatte es geregnet. Die Kutsche war gut gefedert, die Pferde legten einen leichten Trab ein, wodurch eine erfrischende Brise in das mit Schweißperlen feuchte Gesicht wehte.

»Herr Grünbaum, Sie bereiten mir wirklich eine übergroße Freude mit dem heutigen Ausflug. Sie müssen wissen, dass ich erst vor einem halben Jahr aus Europa in Panama eingetroffen bin und eigentlich diese ganzen Monate nicht wirklich eingesperrt, aber doch ziemlich eintönig innerhalb der Mauern des Priesterseminars mit meiner Ausbildung verbracht habe. Erst vor einer Woche weihte mich unser ehrwürdiger Herr Bischof zum Priester und nun warte ich auf meine erste Pfarrstelle. Ich habe mich danach gesehnt, dieses Land etwas kennenzulernen. Und nun diese unerwartete Ausfahrt. Wunderbar, ganz herzlichen Dank für diese Opportunität!«

»Wissen Sie denn schon, wo Ihre erste Gemeinde sein wird, hoffentlich nicht mitten unter den Indios?«

»Das könnte sehr gut möglich sein, denn Bischof Mendoza ist sehr bekümmert über den Unglauben fast überall auf dem Land. Das ist es ja gerade, was mich wirklich sehr bedrückt, ich weiß so wenig über die Einheimischen, wie sie leben, wo sie wohnen, habe sie bisher kaum von Angesicht zu Angesicht gesehen, geschweige denn mit einem von ihnen gesprochen. Bestimmt können Sie mir so einiges erzählen. Sie leben doch schon lange in Panama, sind vielleicht sogar schon hier geboren?«

»Nun, wir werden heute keine hiesigen Indios, keine Darien treffen, mit denen kann man nicht einmal ins Geschäft kommen, die leben noch sehr primitiv, halbnackt - wenn ich so sagen darf - in roh gezimmerten Hütten auf Stelzen, gedeckt mit Zuckerrohrstroh. Sie haben nur offenes Feuer als Licht und kein fließendes Wasser. Die sind ohne Kultur und Verstand, aber sie gehören zu unserem Land, wie Sie und ich.«

Cornelius war unbewusst zusammengezuckt, zog den Hals in seinen steifen Rohrkragen. Es schauderte ihn. Wollte Gott, dass ihm das erspart bliebe. Er hatte sich gerade erst mit Hängen und Würgen fürs Priesteramt entschieden, aber bei allen Heiligen, nicht zum Missionar unter Wilden.

»Da, schauen Sie sich diese Frau auf ihrem Maultier an mit den beiden großen Flechtkörben links und rechts am Sattel! Freilich ideale Transportbehälter, aber ihr kleines Kind scheint ihr nicht viel mehr zu bedeuten, als ihr Gemüse, das sie zum Markt bringt, denn sie steckt es in den gleichen Korb. Einfach obendrauf gestopft. Das ist keine Darien, aber sie gehört zur typischen Landbevölkerung dieser Gegend. Die Frauen müssen arbeiten und bekommen den Nachwuchs. Die Männer hocken herum, trainieren, bemuttern und streicheln ihre Hähne wie kleine Kinder. Die dummen Viecher bringen sich dann sonntags in der Hahnenkampfarena gegenseitig um. Dabei verwetten die Mannsbilder das bisschen Geld, das sie irgendwo zuvor als Gelegenheitsarbeiter in den Haziendas verdienten. Die sind vollkommen unzuverlässig. Wie gesagt, sobald sie etwas Geld zwischen den Fingern haben, wird es verwettet, und der Rest in Rum angelegt. Dann sind sie besoffen und erscheinen einfach nicht zur Arbeit solange bis sie wieder Geld brauchen. Die Hängematte vor der Hütte ist der bevorzugte und angestammte Aufenthaltsort. Die kleinen Felder werden von den Frauen und Mädchen bewirtschaftet, ein wenig Mais, ein paar Bohnen und Bananen. Zum Glück haben wir meist genügend Regen, es ist warm und der Boden ziemlich fruchtbar. Da wächst alles von selbst, wenn nicht das Unkraut überhand nimmt, ein Käfer oder eine Raupe die Blätter vor der Ernte auffrisst oder ein Pilz die Pflanzen kaputt macht. Und wenn schon, dann wird eben wieder neu angepflanzt und gewartet. Die Bananen gedeihen von selbst und die Hühner finden schon ihre Würmer oder Körner. Schweine und Ziegen machen denen meist zu viel Arbeit. Und es dauert zu lange, bis man sie schlachten kann. Alles geht von der Hand in den Mund, ist für den Selbstverzehr. Was dann noch übrig bleibt, versucht man auf dem lokalen Markt einzutauschen für etwas, das vielleicht der Nachbar übrig hat, wie Sie es gerade bei der vorbeireitenden Frau gesehen haben. Die war übrigens schon wohlhabend mit ihrem Maultier. Was soll man da machen? Die Einheimischen sind so lethargisch und zu nichts zu gebrauchen. Natürlich waren die Indios schon da, als die Spanier ins Land kamen. Die meisten der heutigen Landbevölkerung sind Abkömmlinge mit den Spaniern. In ihrem Popanz haben sich später die Kolonialherren die schwarzen Sklavenmädchen vorgenommen, die zur Plantagenarbeit aus der Karibik importiert wurden, weil die Indios in den Jahrzehnten davor durch die von Europa eingeschleppten Infektionskrankheiten zu schnell weggestorben waren.«

»Mein lieber, junger Kirchenmann, diese Leute, befürchte ich, werden wohl Ihre Gemeinde sein. Ignoranz und Aberglaube sind die Werte dieser Menschen, Eigenschaften, die in unserer zivilisierten Gesellschaft nicht mehr ganz so ausgeprägt sind. nährt ihre phlegmatische Lebenseinstellung keinen Fanatismus. Die meisten sind recht friedlich, wenn man sie in Ruhe lässt oder ihnen das Wenige nicht vorenthält, das sie für ihre eigenen Bedürfnisse zu brauchen glauben.«

Cornelius lauschte angespannt den Schilderungen, wenn auch mit zunehmender Besorgnis. So desolat hatte er sich die Situation auf dem Land nicht vorgestellt. Da kam eine ganz neue, ungeahnte Dimension auf ihn zu, für deren Bewältigung er sich vollkommen unvorbereitet fühlte. Mit Glaubensfanatismus, wie er ihn in Nordafrika teilweise angetroffen hatte, meinte er besser umgehen zu können, als mit Glaubensapathie oder Ignoranz. Darum erkundigte er sich:

»Herr Grünbaum, ist es wirklich so schlimm? Was hat denn unsere heilige Mutter Kirche in all den Jahren gemacht? Wie kann ein Staatswesen damit umgehen?«

Grünbaum zog nur die Augenbrauen nach oben. Seine Ausführungen waren vollkommen ohne Dramaturgie, versuchten sich nur auf das Wesentliche zu beschränken und Cornelius nicht mit Schwarzmalerei zu benebeln. Er war zwar kaum zehn Jahre älter, hatte aber einen wachen Blick für sein Umfeld und wusste als Geschäftsmann sich in diesem Rahmen erfolgreich zu behaupten.

»Herr Pfarrer, ich wollte Sie weiß Gott nicht erschrecken oder gar entmutigen. Dachte mir aber doch, Sie sollten wissen und vorbereitet sein auf das, womit Sie in den kommenden Jahren konfrontiert werden. Sie hatten mir ja gesagt, wie wenig Sie bis jetzt unser Land und seine Leute kennen. Bin sowieso ziemlich erstaunt, dass Sie als Seminarist nicht schon längst mit all dem vertraut gemacht wurden. Man kann Sie doch nicht einfach in einer Regentonne aufs Land rollen, wenn ich mir den Vergleich erlauben darf.«

»Sie haben vollkommen Recht, Herr Grünbaum, ich habe schlicht keine Ahnung. Da muss ich mir erst noch eine Strategie zurechtlegen. Natürlich sollte man Erfahrungen nicht überbewerten, denn das schränkt den Tatendrang ein. Ich stelle mir vor, dass es mein Anliegen sein muss, menschliche Werte denjenigen zu vermitteln, die sich mir anvertrauen, sie glücklich und zufrieden machen, sich selbst, ihre Familien, ihre Gemeinschaft. Aber was kann ich tun, wenn dieses Volk gar kein Bedürfnisse hat bessere Menschen zu werden, das ihnen mein Glaube, mein Gott geben könnte? Das Prinzip unseres Glaubens ist doch die Liebe, die Vergebung und das Mitgefühl. Mein lieber Herr Grünbaum, Sie haben eben von Leuten gesprochen, die Ignoranz und Aberglaube zu ihren Werten erhoben haben. Das ist ja furchtbar, wo soll, wo kann ich denn da beginnen, wie tief muss ich in deren Herzen vordringen? Als Seelsorger darf ich ja gar nicht fragen, ob solche Individuen überhaupt Seelen haben, denn dann würde ich mich ja selbst aufgeben.«

»Aber bitte, ich merke schon, dass Sie mir noch viel mehr zu erzählen haben, dass ich sicherlich noch allerhand wissen muss, um meine Augen, meinen Verstand zu öffnen. Und dabei sollte ich mich in diese wunderschöne Landschaft vertiefen. Gerade sind wir an drei kleinen Mädchen vorbeigefahren, die ihre Sachen im Bach wuschen. Wie machen die Leute das bloß, dass ihre weißen Kleider immer so proper und sauber aussehen? Ja, bitte, mein lieber Herr, wenn es ihnen nichts ausmacht, fahren Sie doch fort. So schockierend, wie sich manches anhört, so muss ich es doch wissen. Es ist für mich eine unglaubliche Bereicherung. Mein guter Engel hat mich an der Hand in Ihr Geschäft geführt und uns bekannt gemacht.«

Wieder schaute Grünbaum Cornelius nur vielsagend an, fuhr dann aber fort:

»Dann wurde uns vor Jahrzehnten nach den Goldgräbern eine neue Welle von Einwanderern aus aller Herren Länder beschert, die zu Hause wahrscheinlich auch nicht weiter kamen. Sie hatten sich in der Hölle von Panama für den Eisenbahnbau verdingt. Die kolossale Arbeit und Krankheiten, vor allem das Gelbfieber und die Malaria rafften bis zur Fertigstellung die meisten hinweg. Der Rest blieb im Land hängen. Dann wurde vor einigen Jahren von den Franzosen der Kanalbau begonnen, wieder mit vielen zehn-tausend Arbeitern aus aller Herren Länder, meist angelockt als Ungelernte. Die Fehlkonstruktion war ein komplettes Desaster, an dem das Land heute noch leidet. Überall ist die Erde aufgewühlt, wo Wasser fließen sollte. Die Arbeiter starben wie die Fliegen, eilig verscharrt auf riesigen Friedhöfen, getötet durch die Dämpfe, seit neuestem sagt man auch von den Milliarden von Mücken aus den Sümpfen. Die Ingenieure haben das Land schon längst wieder verlassen. Die restlichen Überlebenden kommen nun zu den anderen und lungern in den Städten und Dörfern herum.«

»Eigentlich sollte es der Landbevölkerung besser gehen seit der Befreiung von und dem Zerfall der spanischen Kolonialmacht. Die Einheimischen haben Land bekommen, wenn auch nicht viel, aber sie können oder wollen damit nicht wirtschaften. Selbst hundert Kaffeesträucher würden genügen, um mit der Ernte der Kaffeebohnen einen entscheidenden Anfang zu machen. Dazu braucht man wirklich nicht viel Kapital, und das würden wir sogar vorstrecken, wenn wir wüssten, dass wir dafür eines Tages auch die Ernte aufkaufen könnten. Meine eigene Philosophie ist, dass das Leben auf Gegenseitigkeit beruhen sollte. Aber jeder muss dabei seiner Verpflichtung nachkommen. Heute zieht das Landvolk in der Erwartung auf ein besseres Leben in die Städte, wenn es ihnen in ihren Hütten zu eng und schwierig wird. Aber Sie haben ja selbst gesehen, wie heikel sie es in der Stadt haben. Die Politik wird immer noch von der alten Kolonialkaste gesteuert, ist zutiefst korrupt, lebt in einer Klüngelwirtschaft und kümmert sich nur um die eigenen Vorteile. Die Kirche - verzeiht Hochwürden - hält sich aus all dem heraus und hofft auf bessere Zeiten. Die Geschäftswelt gehört uns Deutschstämmigen zusammen mit den Amerikanern und Engländern. Die alten spanischen Familien haben immer noch ihre Haziendas, wie seit eh und je. Sie bauen in erster Linie Kaffee und Zuckerrohr an und verkaufen die Erzeugnisse an uns zum Export nach Übersee. Das sind beinahe die einzigen erwähnenswerten Einnahmen, die das Land erwirtschaftet, außer dem Geld, das die Passagiere zurücklassen, wenn sie den Isthmus überqueren. Dabei gehört die Eisenbahn auch nicht dem Staat von Panama, sondern den Amerikanern.«

»Wir Deutschen haben einen wichtigen Anteil am Kaffeehandel in Händen. Natürlich war das nicht immer so. Nehmen Sie meine Familie. Mein Großvater landete hier in Panama, er hatte Fortune, aber auch Grips genug sich umzusehen, was der Landstrich ihm bieten könnte. Er war sozusagen gestrandet auf dem Weg nach Kalifornien, zu erschöpft vom harten Fußmarsch den Isthmus zu überqueren. Damals gab es ja noch keine Eisenbahn. Den Proviant hatte er auf dem langen Marsch aufgefuttert, der eigentlich bis Kalifornien hätte reichen sollen und die Ausrüstung für das Goldschürfen war verloren gegangen oder er hatte alles weggeworfen, weil das Werkzeug in der Hitze und Schwüle zu schwer geworden war. Im Nachhinein war das ein Glück für unsere Familie, wie auch für so manch anderen Gefährten, der sich für das Gleiche entschied. Wir haben es in diesem Land geschafft, wir sind nicht dem Geldrausch zu verfallen, noch sind wir in Kalifornien dem Goldrausch verfallen und verkommen. Zugegeben, unsere Vorfahren waren anfänglich Glücksritter, aber letztendlich doch ein klein bisschen cleverer oder realistischer als viele andere. Sie können es auch Chuzpe nennen oder Schicksal, auf alle Fälle scheint der Allmächtige uns bis jetzt in Händen gehalten zu haben.«

Während sie sich noch unterhielten, hatte sich die Landschaft rasch verändert. Links und rechts des Weges breiteten sich nun weite, zur Ernte bereite Zuckerrohrfelder aus abwechselnd mit frisch gepflügtem Land aus rostroter Erde und mit neu gepflanzten Parzellen. Ihr Zweispänner wurde beinahe auf der schmalen Straße, wie in einer hohlen Gasse, von dem Blätterwald des mehrere Meter hohen Zuckerrohrs eingeschlossen. Nach einer Wegbiegung schien sich plötzlich vor ihnen der Tunnel in einem dichten Nebel aufzulösen. Es roch intensiv nach Verbranntem, und man sah durch die Schwaden links am Weg vom Boden her gelb-rotes Feuer züngeln. Die Pferde scheuten und waren kaum zu beruhigen. Zum Glück wusste der Kutscher damit umzugehen, es sah schlimmer aus, als es tatsächlich war. Er hatte das nicht zum ersten Mal erlebt, stieg ab und führte das Gespann durch die Rauchwand. Feuer und Qualm waren durch das Abbrennen des erntereifen Zuckerrohrs entstanden. Alle Blätter und die Blütenstände wurden abgefackelt, weil sie kaum Zuckersaft enthielten und die Arbeit und den Transport nur noch zusätzlich erschwerten. Das zuckerhaltige Rohr ragte als schwarz verkohlte Stecken aus der grau-braunen, immer noch rauchenden Asche, als wertvoller Dünger für den nährstoffarmen Tropenboden. In einem benachbarten Feld, das wahrscheinlich schon vor ein paar Tagen abgezündelt worden war, schwangen die Arbeiter schwere Macheten und schnitten die bis zu armdicken Stängel kurz über dem Boden ab. Andere trugen sie in großen Haufen zusammen, die dann in knochenharter Arbeit auf Ochsenkarren mit hohen Seitengattern aufgetürmt wurden. Die Hitze war mörderisch, das Feld flimmerte, die Arbeiter ächzten unter der Schwere der Bündel. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Keiner redete, denn jedes unnötige Wort wurde zur weiteren Bürde. Die wenigen Lumpen, die sie anhatten, hingen nass vor Schweiß an ihren ausgemergelten, sonnenversengten Körpern. Schon der Anblick verursachte Pein. Einzig die Ochsen, immer vier nebeneinander vor die Karren gespannt, warteten, Zuckerrohrabfälle wiederkäuend, in stoischem Gleichmut auf den Befehl zum Anziehen

Der Kutscher war wieder aufgesessen, die Pferde hatten sich inzwischen beruhigt und trotteten gemächlich auf eine vor ihnen liegende grüne Baumoase zu, die sich in eine fantastisch blau blühende Jacaranda-Allee öffnete. Am Ende lag der noble Landsitz, die Gebäude der Rodriguez Hazienda, umgeben von hochragenden Bäumen mit gewaltigen Schirmkronen, die wohltuende Schattenkühle spendeten.

Beide Stockwerke des gepflegten Anwesens umrundeten breite Veranden, die von holzverzierten Säulen getragen wurden und durch filigrane Bogen miteinander verbunden waren. Die zurückgebauten Zimmer lagen in angenehmem Schatten. Die weiträumige Residenz versprach Rast, aber auch Mahlzeit. Der Hausherr stand bereits wartend auf dem schattigen Patio, so als beschäftigte er ein Netz von Kundschaftern, um ihm die Ankunft aller Besucher, erbetene oder unerbetene, auf seiner Latifundie rechtzeitig kund zu tun. Schaukelstühle, Korbsessel und kleine und große Tische standen überall verteilt, dazwischen lagen, wie zufällig, drei große, schwarze Hunde, die gemächlich mit ihren dünnen Schweifen zum Gruß der Ankömmlinge die Holzdielen behämmerten. Sie hatten sich nicht erhoben, ihre Augen folgten aber aufmerksam allen Bewegungen der Gäste und den Gesten ihres Herrn. Man sollte ihre gespielte Trägheit nicht unterschätzen!

»Fernando, mein geschätzter Freund, dürfen wir eintreten?« begrüßte ihn Herr Grünbaum mit ausgestreckten Händen. Man umarmte sich, klopfte sich auf die Schultern, links, dann rechts, dann nochmals links, wobei die beiden Männer die Wangen aneinander drückten. Ja, man hatte auf der Farm nicht zu häufig Gäste und Señor Rodriguez war keiner von der Sorte, der lieber in der Stadt wohnte, um dort sein Geld zu verprassen, gleich anderen arroganten und faulen Rabiblanco - so wurden diese Leute abfällig genannt - und von einem Verwalter sein Land bewirtschaften ließ. Neben dem Wohnhaus gab es in angemessener Entfernung mehrere Wirtschaftsgebäude und Stallungen. Das ganze Areal war prächtig, wie in einem botanischen Garten, in eine unendliche Vielfalt von Pflanzen eingebettet mit unglaublichen Grünschattierungen der Blätter und Blüten in Farben und Formen, die Cornelius die Sprache raubten. Vor seinen Augen breitete sich eine gepflegte Unordnung aus, wie diese nur über viele Jahre von kundiger Gärtnerhand gepflegt, und einer mit der Natur sehr verbundenen Hausherrin gestaltet werden konnte.

»Heinrich, und wen hast du uns an diesem schönen Tag noch mitgebracht, wie es scheint, ein junger Diener unserer aller Mutter Kirche?«

Es entstand ein kurzes betretenes Schweigen, denn plötzlich merkte Cornelius, dass er es bis jetzt versäumt hatte, Herrn Grünbaum offiziell seinen vollen Namen zu nennen. Es war so bequem, nur immer mit Hochwürden angeredet zu werden. Geschwind überbrückte Cornelius diese etwas peinliche Situation.

»Darf ich mich vorstellen, Señor Rodriguez, ich bin Cornelius, Reverendo Cornelius, und Herr Grünbaum hatte die große Güte mich auf seiner Landpartie mitzunehmen. Das ist meine erste Gelegenheit ihre beeindruckende Landschaft zu erleben, weg und raus von Panama Stadt. Eine Zuckerrohrplantage habe ich sowieso noch nie gesehen, geschweige denn, eine so prächtige und große. Ich muss gestehen, das ist für mich eine ganz neue Welt.«

»Fernando,« ergänzte Grünbaum, « Sacerdote Cornelius ist noch nicht lange in unserem Land, er kommt aus Deutschland, man könnte sagen, er ist ein Landsmann von mir, obwohl weder ich selbst, noch mein verstorbener Vater das alte Europa seit der Ankunft meines Großvaters in Panama je besucht haben. Er ist erst vor kurzem von unserem Bischof geweiht worden und wartet nun auf seine erste Pfarrstelle.«

»Oh, Jesus,« platzte da der spanische Grande heraus.

Nach allem, was Cornelius während der Dreistunden-Fahrt schon gelernt hatte, hütete er sich den Farmer zu fragen, was er mit dem Ausspruch gemeint haben könnte. stattdessen bat der rundliche Hausherr, der seine graumelierten, langen Haare in einem kurzen Pferdeschwanz am Hinterkopf zusammengebunden hatte, von der Veranda in das Speisezimmer einzutreten, wo zur Freude der beiden Gäste schon die Hausherrin auf sie wartete, gekleidet in eine bis zu den Fußknöcheln reichende, weiße, sparsam mit bunten Blumen bestickte Pollera Robe. Dies war ein an Erlebnissen reicher Tag für Cornelius. Er hatte bereits Bilder des traditionellen Kleidungsstückes der noblen Damenwelt Panamas gesehen, aber noch nie in natura. Normalerweise benutzten die feinen Damen ihre Pollera nur zu besonderen Anlässen. Der offensichtlich seltene Besuch von Gästen auf der Hazienda aus der Stadt war willkommene Gelegenheit genug, das gute Stück zu Ehren der Besucher aus dem Schrank zu holen.

Mehrere Sirvientes warteten bereits, dass man sich zu Tische setzte, um die Speisen aufzutragen. Kein Mittagessen durfte starten ohne die traditionelle, leichte, fein gewürzte Gemüsesuppe. Dieses nur lauwarme Entrée in Temperatur der Schwüle des Tages angepasst, machte richtig Laune auf Kommendes. Und tatsächlich wurde mit einer gewissen Dramaturgie der nächste Menügang vorsichtig von der Köchin auf den Tisch gestellt. Cornelius wäre beinahe beim Anblick aufgesprungen. Vor ihnen dampfte und duftete ein bestimmt fünf Kilo schwerer Vogel in köstlich knusprig goldgelber Schale. Das war kein Huhn, kein Hahn, viel zu groß, viel zu schwer dafür, es hatte auch nicht die Gestalt einer Gans. Alle am Tisch merkten Cornelius' Verwirrung, wollten ihn aber auch nicht in Verlegenheit bringen. Geschwind nahm die Hausherrin die Situation in die Hand und erklärte:

»Wir lieben das feine Fleisch eines Kapauns und halten uns nicht an die Gepflogenheit, unsere Hähne nur zum Zelebrieren des Weihnachtfestes zu kastrieren und zu mästen. Wir nehmen, so häufig es geht, jede besondere Gelegenheit wahr, wie heute mit Ihnen, uns dieses genüssliche Vergnügen zu gönnen. Dieses Mal hat unsere Köchin das Vöglein mit Süßkartoffeln gefüllt. Ich hoffe, Sie mögen dazu frische Avocados und grünen Papayasalat. Komm Fernando, sei ein Schatz, zerteile unser Festmahl zur Ehre unserer Gäste und im Namen des Herrn. Lieber Vater Cornelius, bestimmt wollen Sie für uns alle ein Dankgebet sprechen!«

Und fürwahr, auf alle wartete ein wahrer Hochgenuss. Die Süßkartoffeln hatten einen Teil des überschüssigen Fettes unter der Haut des Kapauns aufgesaugt. Der Rest war fein marmoriert im Fleisch verteilt, wodurch die Gewürze wundervoll aufgenommen wurden und der Braten nicht austrocknete. Ungeniert griff man beherzt nach den saftigen Fleischstücken. So fiel es auch nicht schwer mit den fetttriefenden Händen nach den gerösteten, in Butter gedrehten Maisschoten zu greifen und mit kräftigem Biss die milchzarten Körner zu lösen. Das ungewöhnliche Aroma der Passionsfrucht ergänzte mit ihrem Saft, gemischt mit einem Schuss Rum, hervorragend den Schmaus. Als Nachtisch gab es frische Ananasscheiben, in Honig geröstete Kochbananen und Karamellpudding.

Am Ende wurden Hände und Mund mit großen Servietten abgewischt und gleichzeitig versteckt auch das feucht-nasse Gesicht betupft. Die Dame des Hauses hatte sich dezent in ihr Boudoir zum Pudern zurückgezogen, wohl auch um das Männergespräch nicht zu stören. Der Gutsherr komplimentierte seine Gäste auf die Veranda zu starkem Kaffee und einer guten Havanna-Zigarre. Die Erinnerung an diese Siesta wurde fortan, lebenslang für Cornelius - ob in Wohlstand oder Elend - die große Liebe, das vollendete Wohlgefühl, die geheime Verführung und Leidenschaft - Kaffee und eine gute Zigarre - wenigstens eine pro Tag!

Unnötige Gespräche lenkten nur von der Hingabe an ein gutes Mahl ab. So hatte man beim Kapaun nicht viel gesprochen. Dazu war nun um so mehr Muße auf der Veranda.

»Vater, Sie wollen bestimmt etwas über meine Farm wissen? Also, die Rodriguez bewirtschaften dieses Land schon seit Menschengedenken. Na, ich will nicht übertreiben, das heißt natürlich nicht ganz so lange, aber nun doch schon beinahe vierhundert Jahre. Nachdem Colón, Ihr nennt ihn Columbus, erst einmal für die spanische Krone die ganze Region konfisziert hatte, brach Balboa zu seiner ersten Erkundung der Atlantikküste von Kolumbien gen Norden auf. Mein Vorfahr war ein Soldat in seinem Erkundungstrupp und wurde für seine Dienste mit einem großen Stück Land entlohnt, auf dem ich heute noch sitze. Für mein Zuckerrohr kann ich nur etwa 2000 Hektares nutzen, der Rest ist Weideland für meine Rinder – ich brauche ja jede Menge Ochsen – Zuggespanne für meine Erntewagen, zum Pflügen und für die sonstige Feldarbeit. Ich habe auch reichlich Sumpf, den ich vielleicht einmal entwässern werde. Da könnte man fabelhaft Reis anpflanzen. Mein Vater hatte natürlich noch Sklaven, aber das ist schon lange her. Nun arbeiten alle als Freie auf meiner Hazienda. Das sind - más o menos, por un garbanzo no se descompone la olla - auf einen mehr oder weniger kommt es nicht an, so etwa zweitausend Landarbeiter. Dazu noch die Arbeiter in der Zuckermühle. Ich habe nämlich genug, um mein eigenes Rohr zu pressen, beinahe das ganze Jahr durch. Habe sogar noch freie Kapazität für die Ernte der kleineren Farmen in der Gegend. Schauen Sie nur das herrliche Goldbraun meines Zuckers, schmeckt doch prächtig im Kaffee, oder?«

»Alle Arbeiter wohnen mit ihren Familien in sechs Camps auf der Farm, in Häusern, die ich für sie gebaut und ihnen kostenlos zur Verfügung stelle, solange sie bei mir arbeiten. Zu jedem Häuschen gehört ein kleiner Garten für Gemüse, Mais und ein paar Bananenstauden oder was auch immer. Die Kinder haben ihre Schule, die ich ermuntere auch zu besuchen, aber bitte schön, ganz ohne Zwang. Das sind ja alles freie Menschen. In jedem Camp stelle ich einen Kaufladen, in dem die Leute alles zu vernünftigen Preisen bekommen, was sie so fürs tägliche Leben brauchen. Notfalls auf Kredit, was mit dem Lohn verrechnet wird. Muss zugeben, so mancher steht ziemlich in der Kreide. Da die Läden mir gehören, kann ich vor allem den Alkoholkonsum kontrollieren. Auch auf den Hahnenkampf habe ich ein Auge. Das geht alles ganz gut, denn der Capataz, der Vorarbeiter, lebt zusammen mit seinen Leuten im Camp und berichtet mir über ungewöhnliche Vorfälle. Natürlich wählen die Leute ihren eigenen Vormann im Camp, der für ein gutes kommunales Leben sorgt. Habe eigentlich nie große Probleme gehabt, das kann ich ehrlich sagen, und vor allem keine Kriminalität. Alle wissen, die Konsequenz ist Rauswurf, und das will keiner so schnell riskieren.«

»Überlegen Sie mal Pater, auf jeden Arbeiter - und die heiratsfähigen haben alle Familie - kommen mit Frau und Kindern so zwischen sechs und zehn Leute. Sie können sich also ausrechnen, wie viele Menschen auf meinem Land und von meinem Geld durch regelmäßige Arbeit leben. Wir haben auch Kirchen, nur leider keine Priester. Zu besonderen Feiertagen sehen wir manchmal einen. Ich bitte Bischof Mendoza bei jeder Gelegenheit, wenn ich ihn treffe, ob er für unsere Hazienda nicht wenigstens einen Seelsorger benennen könnte, für dessen Unterhalt und Lohn ich selbstverständlich aufkommen würde. Aber er lehnt kategorisch ab. Das wäre einseitige Bevorzugung, meint er. Von mir aus soll er das so nennen,« gestikulierte er etwas ärgerlich und aufgeregt, »aber für meine Leute, und zusammen sind wir doch eine kleine Stadt, fühle ich mich in der Verantwortung. Dazu gehört sehr wohl neben dem Erhalt des Körpers auch die Fürsorge der Seele, oder meinen Sie nicht, Reverendo? Sie sollten ein gutes Wort bei unserem Oberhirten einlegen. Vielleicht habe ich sogar ihr Interesse geweckt. Herzlich willkommen! Es würde ihnen an nichts fehlen. Ihr eigenes Haus, Kutsche und Reitpferd für ihre Besuche in die Camps. Ich würde auch für uns alle eine schöne neue Kirche bauen, um jeden Sonn- und Feiertag zu ehren. Das wäre ein Paradigma, wie ich es mir wünschte.«

Grünbaum warf Cornelius einen bedeutsamen Blick zu. Dieser nickte versonnen bei dem Gedanken, hier auf diesem Fleckchen Erde für eine Weile unterzukommen. Eine rechte Verlockung, die bestimmt eine Aussprache mit dem Bischof wert war, vor allem, nachdem er wusste, was er im Zusammenleben mit den Einheimischen auf dem freien Land erwarten würde.

Herr Grünbaum wurde unruhig, denn er hatte ja den langen Weg nicht allein wegen der angenehmen Stunden im Rodriguez-Haus unternommen, sondern auch, oder besonders, um sich seinen Geschäften zu widmen. Er zog seine Uhr aus der Westentasche und schaute zuerst bedeutungsvoll auf das Zifferblatt und dann in Richtung Cornelius. Die Gastgeber verstanden den Hinweis, denn auch die Gnädige war wieder zu der Gesellschaft gestoßen, lauschte dem Gespräch und nippte an einem Likörchen.

»Ich weiß, mein Lieber, deine Hüte rufen, ein Capataz hat mir schon Bescheid gegeben, dass die Leute im Camp Aguinaldo auf dich warten. Sie sind mit deinen Aufträgen schon fertig, hoffentlich zu deiner Zufriedenheit, denn ich bin dir echt dankbar, dass die Frauen durch dich ein Zubrot haben. Die gemeinsame Arbeit bringt sie zusammen, sie können schwatzen und sind stolz auf ihre Fingerfertigkeit. Das hebt die soziale Zusammengehörigkeit zwischen den Familien. Das zusätzliche Geld macht die Frauen auch von ihren Männern etwas unabhängiger. Wenn du mehr Ware brauchst, andere Camps haben auch schon Interesse bekundet. Die Toquilla-Palmen für die Fasern wachsen sowieso schon überall. Alles, was meine Bewohner zufrieden macht, hebt die Moral und ist gut für die Arbeit. Ich gebe dir meinen Einspänner, Camp Aguinaldo ist ja nicht weit, und deine Pferde können sich so noch etwas ausruhen. Schau dir die Ware an. Wenn du einig geworden bist, dann kannst du ja morgen deinen Verwalter schicken und die Hüte abholen lassen.«

Als sich die beiden Besucher erhoben hatten, blickte Doña Rodriguez schelmisch auf Cornelius und legte ihm vertraut die Hand auf den Arm.

»Reverendo, wollen Sie sich wirklich dieser langweiligen Inspektion aussetzen und all die Hüte anschauen? Auf die niedlichen Dinger, die sie angefertigt haben, dürfen sie ja sowieso kein Auge werfen, nicht wahr? Wie wär's, wenn ich Ihnen meinen Garten mit all den wunderhübschen Pflanzen zeigen würde? Es ist gerade eine gute Zeit, es blüht sehr viel! Die meisten Gewächse kann ich Ihnen sogar mit Namen benennen.«

Freilich, Cornelius hätte auch gerne ein Camp gesehen, die Häuser, und wie die Menschen dort so lebten. Vielleicht würde das ja bald sein Wirkungsfeld werden?! Aber sehr viel attraktiver war das Angebot, die Hausherrin durch ihr Pflanzenparadies zu begleiten. Somit machte sich Grünbaum alleine auf den Weg, versprach in etwa einer guten Stunde wieder zurück zu sein. Cornelius und die Dame des Hauses setzten ihre Schritte in den Garten. Um der Wahrheit gerecht zu werden, das war kein Garten, es war eine Parkanlage, die das Anwesen schmückte. Nahe am Haus wuchsen dunkelrote und weiße Bougainvillea-Büsche, die Äste nur wenig getrimmt, so dass die ausladenden Zweige bis zu den Triebspitzen schwer von der vollen Blütenpracht fast bis zum Boden hingen und den wenigen Blättern kaum noch Platz blieb. Hohe, weitverzweigte Bombax Bäume ragten mit ihren glatten, grünen Stämmen weit über das Dach und schützten das Haus vor der Wärme der Sonnenstrahlen. Unter den Bäumen lagen verstreut die herabgefallenen Blüten. Neugierig hob Cornelius eine auf, überdimensionale Rasierpinsel in seiner Hand mit ihren unzähligen über zehn Zentimeter langen rosa Staubgefäßen. Am meisten hatten es aber Cornelius die Heliconia Stauden angetan mit ihren bananenblätterartigen, über zwei Meter hohen Stängeln, aus deren Achseln phantastische, korallenrote Blüten wuchsen, die frappierend Hummerzangen ähnelten. Es gab kein freies Stückchen Erde im Garten. An schattigen Plätzen wuchsen Farne, darunter die prächtigen, über mannshohen Baumfarne mit ihren ausladenden Wedeln. Besonders interessierte Cornelius eine handtellergroße, herzförmige, rosa Blüte, die wie aus Wachs geformt schien.

Die Señora folgte aufmerksam seinem Blick und erklärte sogleich:

»Das ist ein Anthurium. Die Leute hier haben der Blüte einen treffenden Namen gegeben. Schauen Sie sich nur das Staubgefäß an, das sich aus dem Blütenblatt reckt. Mehr schickt sich für mich eigentlich nicht, aber es erinnert wohl an einen kleinen, etwas ungezogenen Buben.«

Die Dame war bei dieser Erklärung, trotz ihres Alters ein wenig errötet. Cornelius schaute sie zuerst etwas verständnislos an, begann dann aber zu grinsen, als er den Sinn endlich verstanden hatte.

»Ich wundere mich hier keine Rosen zu sehen, Gnädigste, eine Blume, die doch in Europa in keinem gepflegten Garten fehlt?«

»Oh, das wäre schön, wenn ich die hier auch haben könnte, aber bisher ist jeder Versuch fehlgeschlagen. Wie häufig habe ich mir schon Pflanzen aus den Vereinigten Staaten kommen lassen. Ich denke, wir haben zu viel Regen hier. Die feuchte Luft lässt die Blätter schnell krank werden, sie bekommen einen weißen Belag, wie von Mehl überpudert und sterben dann schnell. Dagegen gibt es keine Medizin. Auch die Blüten leben nur ganz kurz. Aber dafür haben wir doch so viele andere schöne Gewächse, nicht wahr!?«

Sie spazierten weiter und kamen zum Obst- und Gemüsegarten. Es drängte Cornelius förmlich dorthin, obwohl Frau Rodriguez meinte, dass das wohl nicht ganz so interessant wäre. Aber er sah wieder seinen Gärtnerfreund Jakob in der engen Schiffskabine vor sich, den er in diesem Augenblick gerne an seiner Seite gewusst hätte und dachte an das Gartenbüchlein, das er von ihm geschenkt bekommen hatte. Er wollte unbedingt in seinem ersten Pfarrgarten sein eigenes Obst und Gemüse anziehen. Hier, von diesen wohlgepflegten Beeten, konnte er vielleicht einiges lernen.

»Vater, für unsere tägliche Küche brauchen wir nur ab und zu in die Stadt zum Einkaufen zu fahren. Mehl, Öl, Salz, Reis, und manchmal einen frisch gefangenen Fisch, das sind so im großen und ganzen die Dinge, die wir auf der Farm nicht haben. Mit allen anderen Nahrungsmitteln versorgen wir uns selbst oder kaufen, was die Gärten unserer Leute in den Camps liefern. Wir geben nämlich den Bewohnern, neben ihrem kleinen Hausgarten, auch ein Stückchen Land, wenn sie darum bitten und wir sicher sind, dass sie es auch nutzen. Allerdings müssen wir aufpassen, dass sie nicht eines schönen Tages behaupten, das wäre ihr Land und bauen sich darauf eine Hütte. Wir hätten dann plötzlich überall Eindringlinge. Aber ich denke, das haben wir ganz gut im Griff.«

»Gemüse, wie Süßkartoffeln, Mais, Kürbis, Bohnen und Yucaknollen sind unkomplizierte Kulturen, die bauen wir nicht selbst an, da kann bei den Leuten kaum was schief gehen. Das gilt auch für Zitrusfrüchte, Avocado, Ananas, Bananen und sogar Kaffeebohnen. Was delikater ist, überlasse ich lieber unseren Gärtnern. Schauen Sie nur die herrlichen Melonen hier und meine geliebten Tomaten.«

Cornelius trat näher und erkannte sofort wieder die roten Früchte, die Caspar und er zum ersten Mal auf dem kleinen Bauernmarkt in Algerien gesehen und mit wenig Gusto gekostet hatten. „War das alles schon so lange her?“ ging es ihm impulsiv durch den Kopf.

Als ob Doña Rodriguez seine Gedanken hätte lesen können oder seine Augen es verrieten, auf jeden Fall fragte sie ihren Gast:

»Sie kennen doch die Tomate, Reverendo?«

Cornelius schüttelte den Kopf und erzählte ihr von seinem ersten Zusammentreffen mit dieser Frucht, musste auch zugeben, dass sie in Deutschland überhaupt noch nicht bekannt ist, und er den Geschmack etwas absonderlich findet. Frau Rodriguez nahm das mit Verwunderung zur Kenntnis.

»Vater Cornelius, da müssen Sie aber noch viel lernen. Dieses wundervolle Gemüse benutzen unsere Indios schon seit Jahrhunderten wegen seiner Vielseitigkeit in Suppen, zum Fleisch, frisch als Salat, als Soße, ich weiß nicht, für was noch alles. Na, hier wird ja nun Ihre neue Heimat sein, da werden Sie schon bald nicht mehr ohne diese herrliche Frucht auskommen wollen.«

Cornelius schaute sie etwas ungläubig an, konnte sich kaum eine Änderung seines Geschmacks vorstellen, womit er sicherlich verkehrt lag, wie sich bald herausstellen sollte. Da sah er auch schon ein anderes Gewächs, das ihn interessierte:

»Was ist denn das für eine mächtige Frucht, so was habe ich ja noch nie gesehen?«

Die Doña kam aus dem Staunen über ihren jungen Besucher nicht hinaus. Sie war ihm langsam gefolgt und beide standen nun vor einer stattlichen Papayapflanze. Der Stamm war wenigstens zwei Meter hoch, am oberen Ende standen wie in einem Schopf an langen Stielen weit ausladende Blattspreiten und um den Stamm darunter wuchsen üppig, dicht gedrängt, ovale Früchte, die unteren noch in Reichweite der ausgestreckten Hand, bereits gelbreif und wenigstens zwei und mehr Kilo schwer. Weiter oben, dichter bei den Blättern, wurden die Früchte immer kleiner und grüner. Man konnte für eine lange Zeit eine nach der anderen ernten, so wie sie reiften.

»Das ist ein toller Baum, Doña, vor allem, der hat überhaupt keine Zweige und die Blüten und die Früchte wachsen direkt am Stamm. Das gibt es in meiner Heimat nicht. Kann man denn diese Früchte überhaupt essen? Sehen irgendwie wie Melonen aus, aber sprießen an einem Baum. Ist das vielleicht eine Kokosnuss?«

„Jetzt reichte es aber“, durchzuckte es die Doña .

»Vater, Kokosnüsse wachsen auf Palmen. Das hier ist eine Papaya und die hatten Sie heute zum Mittagessen, grün als Salat gekostet. Viel häufiger essen wir aber diese köstlichen Früchte erst, wenn sie ganz reif, süß und saftig sind. Ganz vorzüglich zum Frühstück. Ach, Sie müssten einige Tage bei uns bleiben, wir könnten Sie richtig verwöhnen. Und das fiel bestimmt nicht schwer, nachdem Sie so vieles noch nicht kennen. Solche Früchte hätte man Ihnen aber doch im Seminar anbieten können!?«

Cornelius konnte dem nur zustimmen, hütete sich aber einen Kommentar darüber abzugeben. Er wollte vor der Dame auch nicht bekennen, dass er noch nie eine Ananas, eine Passionsfrucht oder eine Guave an einer Pflanze wachsen gesehen hatte. Es gab so unendlich viel, was er noch nicht kannte in dieser neuen, fremden Welt, das aber auch anderen einzugestehen, passte partout nicht in sein Weltbild eines Mannes, der vor allem Autorität ausstrahlen wollte.

Vom Haus her hörten sie eine Stimme rufen. Unschwer war Herrn Grünbaums Ruf zu erkennen, der nach Cornelius suchte, um sich auf den Weg zurück in die Stadt zu begeben. Der Nachmittag war bereits ziemlich fortgeschritten. Wie so typisch in tropischen Gefilden, war die Sonne spätestens um 6 Uhr 30 am abendlichen Himmel nieder gegangen. Man hatte höchsten noch zwei Stunden bis dahin. Das war bis zur Stadt nicht im Hellen zu schaffen, gab wenigsten noch eine Stunde in der Dunkelheit, kein einfaches Unterfangen für den Kutscher, der auf dunkler Straße höllisch aufpassen musste, niemanden zu überfahren. Leider war der Mond in dieser frühen Abendstunde auch kein guter Verbündeter. Man hatte also schnell Abschied zu nehmen, und war auf dem Weg.

Die nachmittägliche Hitze hatte angenehmer Temperatur Platz gemacht, und man kam mit ausgeruhten Pferden zügig voran. Cornelius hatte sich seit ihrer Abfahrt vorsichtig umgeschaut, wo wohl die Hüte verstaut sein könnten. Eigentlich war nicht genügend Platz im Zweispänner für voluminöse Fracht. Aber man wollte sie sowieso erst morgen abholen. Wie, als ob Herr Grünbaum seines Mitfahrers Gedanken lesen gekonnt hätte, griff er unter seinen Wagensitz und zog ein Prachtstück von einem Hut hervor, den er Cornelius vors Gesicht hielt. Der zögerte.

»Na, wollen Sie ihn nicht anprobieren, Sie Charmeur. Unserer guten Señora Rodriguez so zu imponieren, dass sie sogar auf ihre gewohnte Siesta verzichtete und voluntierte, Sie in der Hitze des Nachmittags durch ihren Garten zu eskortieren. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass sie ihren sonst so immer bereiten Fächer zur Kühlung mit sich führte. Da haben Sie wirklich Eindruck hinterlassen. Ich kenne die beiden schon ziemlich lange. Haben wohl ihre Eigenarten, sind aber gewiss nicht wie so viele verstädterte Spanier. Lieben ihr selbstgewolltes Ausgeschlossensein. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich schon etwas zögerte, Sie so ganz unangemeldet bei ihnen zum Mittagessen einzuführen. Es war aber auch nicht mehr Zeit genug, einen Boten vor unserem Eintreffen vorauszuschicken. Das haben Sie wirklich prima gemacht, sogar von Rodriguez auf der Hazienda eine Pfarrstelle angeboten zu bekommen. Er ist wirklich eine sehr eigenwillige Person, der darauf achtet, wen er um sich haben möchte. Und dazu noch in einer so sensitiven Stellung, wie die eines geistlichen Herrn, sozusagen der 'Socius confidere'. Ganz vortrefflich! Hätten Sie denn überhaupt Interesse? Ein solches Engagement hat bestimmt seine Attraktion, aber auch seine Schwierigkeiten. Um beim Letzteren zu bleiben, Sie wären so ziemlich auf sich alleine gestellt, und viel Raum zum Profilieren gibt es sicherlich auch nicht. Aber verlieren wir uns nicht in Hypothesen. Ich denke, seine Gnaden, der Bischof, hat da seine eigenen Pläne und Prioritäten, wie wir schon bei Tisch vernommen haben. Aber nun setzen Sie endlich mal den Hut auf, möchte wissen, ob er auch wirklich passt?«

Herr Grünbaum war erfahren genug, hatte er doch von der Pike auf von seinem Vater das Geschäft erlernt, so auch Kopfgrößen ganz gut einzuschätzen. Cornelius nahm vorsichtig den Hut in beide Hände und drückte ihn sich auf den Kopf. Schon bei der ersten Berührung auf dem Haaransatz durchdrang ihn ein wohliges Gefühl. Das Geflecht roch noch nach den ungebleichten Fasern, aus denen er mit geschickten Händen angefertigt worden war. Er versuchte sich den schaffenden Menschen, den Handwerker, den Künstler zu diesen Händen vorzustellen. Welch eine Empfindung durchdrang ihn, etwas so Schönes einmal sein Eigen nennen zu dürfen. Er hätte sich nur zu gerne im Spiegel gesehen. Eigentlich gehörte ein Panamahut, nach seiner Einstellung, zu einem Lebemann und nicht zu einem jungen Geistlichen. Wen konnte, wen sollte ein Priester schon beeindrucken wollen? Schnell nahm er den Hut wieder ab und drehte ihn schüchtern in den Händen.

»Hochwürden, der passt wie angegossen. In Erinnerung an diesen schönen Tag und die Kurzweil, die Sie mir boten auf dieser Fahrt, möchte ich Ihnen den Hut als Geschenk überreichen.«

Cornelius wusste sehr wohl, wie albern Floskeln waren, wie „das kann ich nicht annehmen“; „nein, das ist ein zu großzügiges Geschenk“, oder was man sonst bei einer solch noblen Geste noch sagen würde. Also ließ er es.

»Herr Grünbaum, werter Freund, bitte erlauben Sie mir Sie nach diesem Tag voller Erlebnisse so zu nennen, das ist mehr als ein Geschenk. Es trifft mich zutiefst. Wissen Sie, ich komme aus ziemlich einfachen Verhältnissen, da ist ein solches Prachtstück von einer Kopfbedeckung ein rechtes Statussymbol. Wenn ich damit zuhause herumlaufen würde, hätte mir mein Vater eine Ohrfeige gegeben und mich für übergeschnappt, für größenwahnsinnig erklärt. Sie hätten sehen sollen, wie ich hier ankam, keines Blickes wäre ich Ihnen wert gewesen, geschweige denn eines Wortes. Ich stak noch in meinen alten Kleidern, mit denen ich in Havre das Schiff bestieg. Die Sachen wurden dann noch total auf der Bahnfahrt von Aspinwall nach Panama verdreckt und ruiniert. Eine Brücke über den Chagres Fluss war durch starke Regenfälle weggespült worden. Um nicht zurückgelassen zu werden, musste ich auf allen Vieren die steile, schlammige, glitschige Uferböschung runterrutschen, über einen notdürftig zusammengezimmerten Holzsteg balancieren und auf der anderen Seite wieder hinaufklettern. So schlammbesudelt bestieg ich den wartenden Zug in die Stadt, wo ich mich gleich dem Bischof vorstellen wollte. Näher als ins Vorzimmer kam ich aber nicht. In meinem Aufzug hielt man mich für einen Bettler oder Landstreicher. Das war nicht besonders lustig, kann ich Ihnen versichern. Mein Spanisch war schlecht, ich versuchte es mit Latein, das verstanden die wiederum nicht. Ich war einem Rausschmiss nahe. Nach einigem Zögern brachte mich endlich ein Bote ins Priesterseminar, zuerst ging es einmal unter die Dusche und dann steckte man mich in ein Novizenornat. So lief ich herum, bis ich in diesen Rock kam. Als ich zum ersten Mal nach meiner Ankunft sozusagen als Klosterbruder angekleidet, seiner Gnaden gegenüberstand, zog er die Augenbrauen hoch. Er war überhaupt nicht sentimental und erwartete keinen Augustiner, sondern einen Seminaristen aus dem alten Europa, den er bald zum Priester weihen wollte.«

Wie ein Dornenbusch

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