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Оглавление3 Flucht nach Frankreich
Die Dämmerung setzte ein, als sie endlich ihren Weg zur Mole gefunden hatten. Da waren nur einige Männer mit dem Reparieren der Netze beschäftigt. Nach einigem Fragen mussten sie feststellen, dass die Fischer gewöhnlich erst mitten in der Nacht den Hafen verließen, um im Morgengrauen die Netze weit draußen auszulegen. Es blieb nichts anderes übrig, als entweder hier am Hafen stundenlang herumzulungern noch müder zu werden oder sich irgendwo eine billige Schlafstatt zu suchen. Sie hatten allerdings nicht die geringste Ahnung, wie sie das anstellen sollten. Ziemlich bedrückt, schlurften sie in den Ort zurück.
Irgendwie musste die Körperhaltung ihre Gemütslage verraten haben. Sie sahen nicht wie Landstreicher aus, aber auch nicht respektabel genug, um eine gute Herberge bezahlen zu können.
»He, ihr zwei, wohin so spät? Ihr seid doch nicht von hier? Ihr solltet um diese Zeit nicht mehr in der Stadt herumwandern. Das hier ist mein Teppichlager, ein vorzüglicher Platz zum Schlafen. Wenn es Euch beliebt, kommt herein, morgen ist wieder ein neuer Tag.«
Diese Einladung kam wie gelegen. Sie überquerten die Straße, denn das Lagerhaus lag an einer geräumigen Kreuzung außerhalb der winkeligen Innenstadt. Vor ihnen stand ein drahtiger, hochgewachsener Mittfünfziger, der sie mit aufmerksamen Blicken musterte. Sein angegrauter, wohl getrimmter Spitzbart ließ sein langes, schmales Gesicht mit der Hakennase, den tiefliegenden Augen und den vollen Lippen noch länger erscheinen. Er hatte seine Hände in die weiten Ärmel seiner indigoblauen Djellaba gesteckt, ein Wollmantel, ganz ähnlich ihrem weißen Burnus, aber viel edler gewebt. Sein Kufi-Hut saß ihm keck auf dem Hinterkopf und unter dem langen Gewand schauten die gelben, weichen Babouche-Lederslipper hervor. Die gesamte Erscheinung war vertrauenerweckend.
»Wo kommt Ihr her, ihr jungen Fürsten? Diese Anrede hatte aus seinem Mund nicht einmal etwas Spöttisches. Ich sehe schon, Berber seid Ihr nicht, auch keine Araber, he, vielleicht Söhne eines französischen Regierungsbeamten? Ihr seid doch nicht von zu Hause abgehauen? Schwierigkeiten kann ich überhaupt nicht ausstehen.«
Er hatte sie gleich in fließendem Französisch angesprochen, obwohl er selbst Berber zu sein schien, seiner Kleidung nach vielleicht sogar aus Marokko.
Sie wichen seiner direkten Frage aus.
»Nein, nein, keine Sorgen. Wir sind Brüder und unsere Eltern schicken uns in geschäftlichen Angelegenheiten zu unserem Onkel nach Frankreich. Wir hatten einen faulen, unzuverlässigen Eseltreiber. Unser Wagen kam einfach nicht von der Stelle. Dadurch haben wir unser Schiff nach Marseille verpasst. Wir müssen nun ein anderes Boot suchen. Aber jetzt ist es spät geworden. Euer Gnaden, Ihr habt wirklich ein gutes Gespür, denn wir sind ortsfremd und wissen tatsächlich nicht, wo und wie wir die Nacht verbringen können.«
Es wäre für den Teppichhändler unhöflich gewesen, die beiden weiter nach ihren Geschäften auszufragen, oder mit welchem Schiff sie nach Marseille kommen wollten. Und so dämpfte er seine Neugierde und ließ es fürs Erste bewenden. Cornelius und Caspar wurden ins Lager geführt wo ein großer Stapel schöner Berberteppiche lag, grob geknüpft mit braunen und schwarzen, einfachen Mustern auf weißer, wundervoll naturbelassener Schafwolle. Ware, die der Händler im Umkreis bei der Landbevölkerung zum Knüpfen immer wieder in Auftrag gab und die Teppiche nach Fertigstellung aufkaufte. Wirklich ein prächtiges Bett, das noch immer nach Schaf roch und zur bequemen Ruhe einlud.
»Da, die Teppiche, auf die Ihr euch für die Nacht legen könnt, gehen morgen früh mit meinem Boot genau an den Ort, wo Ihr hin möchtet. Wollt Ihr nicht mitkommen? Dann habt Ihr für euer Fortkommen ausgesorgt. Es ist Platz genug für uns alle. Es wäre mir eine Ehre Euch als meine Gäste zu begrüßen.«
»Bei Gott, das ist ja das reinste Geschenk des Himmels!« stimmten sie freudig zu.
Müde waren sie tatsächlich. Ein Glück, dass sie am Nachmittag ein wenig gegessen hatten. So knurrte ihr Magen nur ein klein wenig, und der Schlaf ließ nicht lange auf sich warten. Sie hörten nicht einmal in der Dämmerung des Morgens den Muezzin vom Minarett der nahen Moschee zum Gebet rufen.
Sie wurden erst von den Arbeitern aufgeweckt, die die Teppiche abholten und ins Boot verladen sollten. Der Hausherr war auch schon zur Stelle um alles selbst zu überwachen. Seine französischen Kunden waren ihm sehr wichtig. Er wollte deren Liebe und Bewunderung für seine schönen Berberteppiche nicht enttäuschen.
Es war nun Zeit sich gegenseitig vorzustellen.
»Ich bin Habib Belhadji, zu euren Diensten. Hab es schon gestern Abend angeboten, wäre mir eine Freude Euch freie Überfahrt anzubieten. Da wird mir wenigstens die Reise nicht langweilig. Mit den Seeleuten lohnt sich eine Unterhaltung sowieso nicht. Ihr aber scheint mir gute Kurzweil zu versprechen.«
Natürlich konnten sie ihre wahre Identität nicht preisgeben. »Ich bin Pierre und das ist mein jüngerer Bruder Jean,« sagt Cornelius schnell, «unsere Familie sind die Le Beaus. Wir stammen aus dem Elsass. Unsere Aussprache verrät das vielleicht.«
»Aber nein, aber nein, Ihr sprecht ein so schönes Französisch. Ihr wisst doch, wie hart diese Leute hier diese melodische Sprache aussprechen. Aber ihr könnt noch nicht lange bei uns in Algerien sein?«
Da konnten sie halbwegs bei der Wahrheit bleiben.
»Wir sind erst vor sechs Monaten angekommen, direkt aus Frankreich. Aber es ist hier einfach nicht genügend für uns zu tun. Zum Glück wohnt unser Onkel in Marseille. Er hat uns eingeladen.«
Habib Belhadji schien sich nicht mehr daran zu erinnern, dass sie am Abend zuvor noch angegeben hatten in Geschäften zu reisen. Die einfachen hellen Burnusse ihres Ordens, der Kleidung der einheimischen Bevölkerung angepasst, waren nach der langen Karrenreise verstaubt, dies war aber nicht ungewöhnlich bei Reisen auf sandiger Landstraße. Sie hatten aber bisher vermieden, ihm zu erzählen, wo sie herkamen, wo die Eltern lebten. Und es schien ihn auch nicht besonders zu interessieren.
»Wir brauchen nicht auf das Verladen der Teppiche zu warten. Lasst uns schon zum Schiff gehen. Dort ist es gemütlicher als hier, und der Koch hat bestimmt schon etwas angerichtet. Überhaupt, wie unhöflich von mir, Ihr habt doch bestimmt noch nicht gefrühstückt?«
Sie konnten es einfach nicht fassen, wie viel Glück sie da gefunden hatten, sozusagen, auf offener Straße.
Der Einmaster war kein sehr großes Schiff. Der wichtigste Raum war im Inneren für die Fracht bestimmt. Auf Deck gab es einen Aufbau mit einer einzigen geräumigen Kabine, die ganz offensichtlich für Habib reserviert war. Besondere Möbel sahen sie keine, alles spielte sich auf dem Boden ab, der mit einem dicken Berberteppich ausgelegt war. Natürlich waren Schuhe in diesem Raum tabu. Sie setzen sich auf Kissen und vor ihnen wurden allerhand Häppchen aufgebaut. Ein Gericht schmeckte ihnen besonders gut, kleine frittierte Bällchen, die sie zusammen mit frischgebackenen Brotfladen munter mit den Fingern in den Mund schoben. Auf ihre Frage erklärte ihnen ihr Gastgeber, das sei Falafel aus Kichererbsen mit Cumingewürz. Da erinnerten sie sich an den Kräuterhändler vom Vortag, der ihnen das Gericht mit dem typischen Gewürz so warm empfohlen hatte. Besonders ließen sie sich große Stücke frischer Melonen und Orangen schmecken. Ovale, dünn aufgeschnittene und geröstete Gemüsescheiben, die nur gesalzt in Olivenöl lagen, vermieden sie lieber nach der ersten Kostprobe. Ihr Gastgeber nannte das Gemüse „Auberginen“. Den stark gesüßten, duftenden Pfefferminztee mochten sie dagegen sehr. Er erwärmte so schön den Magen. Es war um diese Tageszeit auf dem Wasser noch immer recht kühl. Cornelius und Caspar hatten so richtig bei diesem Frühstück geschwelgt.
Das Essen hinterließ Spuren auf ihrer Kleidung. Sie waren nicht so geschickt wie der Berber, der mit den Brotfladen Gemüse und Fleisch umhüllte, in Soße tauchte und zum Mund führte. Die Tropfen vom Essen begannen bereits bei den Schüsseln vor ihnen und zeigen in ihre Richtung. Das störte sie aber wenig. Der erste Hunger war gestillt und Habib übersah mit Nachsicht die Flecken. Nach einer Malzeit war der Tisch sowieso nie mehr sauber. Später wurde alles beseitigt und aufgeräumt. Nachdem nun das Mahl zu Ende war, glaubte der hagere Mann das Schweigen brechen zu können.
»Ihr seid jung und könntet meine Söhne sein. Sagt mir, Pierre und Jean, was ist für euch das Wichtigste im Leben? Vielleicht Reichtum, Macht, Ruhm, Erfolg, Ansehen, Glück oder was sonst? Mich beschäftigt diese Frage immer wieder. Ich könnte mir vorstellen, dass so etwas von Juden, Christen oder Muslimen unterschiedlich beurteilt wird. Hier in unserem Land sind ja alle drei Religionen zu Hause. Ich bin ein Anhänger des Propheten Muhammads - Friede sei mit ihm - und ich nehme an, Ihr seid Christen?«
„Der Berber scheint für Überraschungen gut zu sein, das könnte eine interessante Segelpartie werden“, dachte Cornelius. Er hielt sich, als der Ältere von beiden, für zuerst angesprochen, zumindest blickte Habib gespannt in seine Richtung.
»Unser Leben ist viel mehr wert, als was wir wirklich daraus machen. Ich suche in erster Linie die Zufriedenheit, damit spielt Reichtum, Macht, Ruhm, Erfolg, Ansehen, oder was Ihr sonst noch meint, gar nicht mehr eine so herausragende Rolle. Wahre Zufriedenheit kann nur von Gott kommen.«
Caspar nickte heftig zur Bestätigung in Richtung seines Bruders. »Ja, und wenn man zufrieden ist, dann spielt eigentlich alles andere keine Rolle, oder es kommt von selbst. Bruder, du hast vollkommen Recht, alles liegt in Gottes Hand und darum sollen wir ihn und seinen Sohn über alles lieben.«
Habib saß vor ihnen in der Hocke. Er beugte seinen Oberkörper nach vorne und schien gleich umzufallen, so gespannt war er.
»He, ich muss gestehen, das ist eine gute Einstellung. Ehrlich gesagt, das hätte ich von so jungen Leuten, wie Euch, nicht erwartet. Was in unseren Moscheen, und wahrscheinlich ebenso in den Synagogen der Juden und auch in Euren Kirchen gesagt, gelesen und gehört wird, ist immer von Gott gekommen. Ja, ja, wir müssen sein Wort nur richtig auslegen und befolgen, jeder in seiner eigenen Religion und wir alle zusammen.«
Auf langem Hals wog sein schmaler Kopf mit dem kecken Kufi hin und her, was ein wenig komisch ausschaute. Offensichtlich dachte er angestrengt nach.
Cornelius erwartete wieder ein 'He' zur Einleitung seines nächsten Satzes, aber dieser Ausruf kam diesmal nicht.
»Ich möchte Euch von einer Sufi-Heiligen und deren Liebe zu Gott erzählen: „Man sah R?bi ah al-Basr? in den Straßen von Basra mit einem Eimer in der einen Hand und einer Fackel in der anderen. Gefragt, was das bedeute, antwortete sie: „Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer ans Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus Furcht vor der Hölle oder in Hoffnung aufs Paradies anbete, sondern einzig und allein aus Liebe zu Ihm“.«
Das Schiff hatte in der Zwischenzeit unbemerkt abgelegt, die Segel waren gebläht und man kreuzte kräftig gegen die Wellen. Der Tag verlief im Nichtstun. Habib Belhadji blieb in seiner Kabine. Eine Unterhaltung mit der Mannschaft war nicht möglich, wie sie schnell herausfanden, denn die sprachen nur Arabisch. Also versuchten sie sich den Strahlen der Sonne so gut es ging zu entziehen, indem sie ihre Position immer wieder in den Schatten des Segels verlegten. Der frische Wind spendete angenehme Kühle.
Erst am frühen Abend wurden sie in die Kabine gerufen, in der inzwischen eine Laterne für ausreichend Licht sorgte und Gemütlichkeit verbreitete. Diesmal war vor ihnen auf dem Boden ein niederer, ausladender Messingtisch aufgestellt worden, auf dem in der Mitte mehrere bunt bemalte, noch geschlossene, tönerne Schüsseln standen. Sobald die hübschen, pagodenförmigen Deckel abgehoben wurden, verbreitet sich ein köstlicher Duft im ganzen Raum.
Fröhlich verkündete der Gastgeber: »Lasst Euch unsere Tajine, den leckeren Couscous und den Lahn Labou schmecken.« Dabei deutete er von einem Gericht zum anderen. »Es ist genug für uns alle da.« Er merkte, wie die beiden jungen Männer neugierig den Inhalt der Schüsseln beäugten und begann sich über deren Verhalten zu wundern, was an diesen, für ihn so alltäglichen Gerichten, so besonderes sein sollte. Auch Cornelius und Caspar fühlten sich nicht ganz wohl, denn ihre Gaumen waren nicht wirklich auf Überraschungen eingestellt. Sie realisierten immer deutlicher, wie eingesperrt sie im Ordenshaus gewesen waren. Die eintönige Küche dort hatte keine landestypischen Kulinarien hervorgebracht.
»Ihr benehmt Euch gerade so, als ob Ihr unsere einfache, einheimische Küche nicht kennt. Wie kann das denn sein?« Das Gesicht des Berbers spiegelte eine gelinde Mischung von Ungläubigkeit, Verwunderung, ja sogar einen Hauch von Misstrauen, was er sich allerdings nicht so recht erklären konnte.
»Also wisst Ihr« versuchte Cornelius zu erklären, »wir sind ja erst so kurz in Eurem schönen Land und unsere Eltern waren schon komische, altmodische Menschen, die glaubten, nur das Beste kommt aus der Heimat. Französische Küche geht ihnen über alles, vom Rest würde man, ihrer Ansicht nach, nur krank. Wir haben schon gemerkt, werter Herr, Ihr seid wirklich ein Menschenkenner. Euch bleibt auch gar nichts verborgen.«
Cornelius hatte die Augen gesenkt, denn er schämte sich seinen groß-zügigen Gastgeber fortwährend hinters Licht führen zu müssen. Er war nahe daran mit der ganzen Wahrheit herauszurücken. Beide mussten sich richtig hüten, dass sie sich nicht verrieten oder noch schlimmer, in einer überschwänglichen Stimmung, einem Anflug von Sentimentalität, ihre wahre Identität preisgaben.
Wenn sich auch Cornelius und Caspar etwas seltsam benahmen, was das Essen betraf, so waren sie Habib für ein gutes Gespräch doch zwei willkommene Gäste. Sie legten eine gewisse Lebensklugheit an den Tag und waren überraschend gut in religiösen Angelegenheiten bewandert. Freilich ahnte er nicht, dass vor ihm zwei auf Probezeit, durchgebrannte und frustrierte Ordensbrüder saßen.
Habib hatte Lust an das gemeinsame Gespräch vom Morgen anzuknüpfen und da war für ihn die Person Jesu ein favorisiertes Diskussionsthema besonders mit Christen. Er blickt seine beiden jungen Tischgenossen aufmerksam an und begann:
»Warum winkt Ihr Christen eigentlich so schnell ab, wenn wir Muslime auf ?s? ibn Maryam oder wie Ihr ihn nennt, auf Jesus, den Sohn Marias zu sprechen kommen? Dann habt Ihr sehr rasch das abwertende Argument zur Hand, wir halten ihn ja doch nur für einen von vielen Propheten und nichts anderes. Aber das stimmt ganz und gar nicht. Er bekam als einziger in unserem Heiligen Koran in nicht weniger als 15 Suren einen ganz besonderen Namen und Titel.«
»Da habt Ihr vollkommen Recht, pflichtete Cornelius alias Pierre bei. Ich weiß, Jesus ist bei Euch ein 'Rasul', ein Gesandter Gottes, wie Noah, Abraham, Moses und auch Muhammad, und nicht nur ein 'Nab?', ein Prophet.«
Habib schaut ihn erstaunt an. Cornelius hatte sich redlich mit dem Islam, dem Koran und der Geschichte Muhammads beschäftigt, nicht nur während seines Theologiestudiums, sondern weil ihn das Thema interessierte und besonders, seitdem er sich auf seine Aufgaben in Algerien für die Missionierung der Muslime vorbereitete.
»Was ist denn der Unterschied zwischen einem 'Nab?' und einem 'Rasul'?« wollte Jean alias Caspar wissen. Habib und Cornelius tauschten Blicke aus, so als wollten sie von einander wissen, wer antworten sollte. Dann fühlte sich aber Habib doch für den Autorisierteren.
»'Rasul', das ist der besondere Übermittler einer Botschaft. Ein 'Nab?' ist kein 'Rasul', denn er verbreitet nur eine Botschaft Allahs - gepriesen sei sein Name. Ein 'Rasul' ist immer ein 'Nab?', aber nicht jeder 'Nab?' ist ein 'Razul'. ?s? ibn Maryam, Jesus, der Sohn Marias ist ein 'Rasul', denn - Allah - gepriesen sei Er - hat ihm die Botschaft Eueres Evangeliums als besonderes Buch übergeben. Für uns Muslime ist es allerdings wichtig, dass unsere Heilige Schrift, der Koran, eine direkte, göttliche Offenbarung an Muhammad - Segen und Friede auf ihm – ist. Damit wurde unser Buch direkt von Gott selbst geschrieben und uns als sein wahres Wort übergeben. Im Gegensatz dazu sind die Thora und eure Evangelien nur von Gott inspiriert aber von Menschen geschrieben.«
Und Belhadji, der offensichtlich gut im Koran bewandert war, fuhr fort:
»Allah - der Barmherzige und sich Erbarmende - hat in seinem Heiligen Buch, unserem Koran ihn, ?s? ibn Maryam, als einzigen, Gottes Geist genannt. Da unser Koran das wahre und direkte Wort Gottes ist, wird das von uns niemals angezweifelt. Abraham ist der Freund Gottes, Moses, der von Gott Angesprochene und Muhammad – Friede sei mit ihm - der letzte Gesandte. Nur Isa wurde durch den Geist und das Wort Gottes erschaffen und war Maryam durch den Engel Gabriel verkündet worden. Er ist Gottes einmaliges und unmittelbares Geschöpf. Er wurde, wie Adam, nicht von Menschen, sondern von Gott geschaffen, um seine besondere Botschaft allen Menschen zu vermitteln. Er wollte für sein Volk, die Juden, der letzte 'Nab?' und 'Rasul' sein, um sie zurück auf den rechten Weg zu bringen. Unabhängig davon, werden wir alle durch die Worte und Taten ?s?s aufgefordert, uns bedingungslos Gott hinzugeben und ihm zu dienen. ?s? gebührt tatsächlich der Ehrentitel 'Sohn Gottes', denn er ragt heraus aus den vielen Söhnen und Töchtern Gottes, die Allah - gepriesen sei Er - im Himmel anbeten. Darum verehren auch wir Muslime ?s?, nur in einer anderen Weise als Ihr Christen, denn der Koran macht ihn für uns durch seine Botschaft der bedingungslosen Liebe zu Gott, zu einem einmaligen und besonderen Gesandten Gottes.«
Cornelius hob seine Hände, er hatte seine Handflächen wie im Gebet nach oben gewandt und murmelte kaum hörbar: »Kein einziger Nachkomme Adams wurde geboren, ohne dass ein Dämon ihn im Augenblick seiner Geburt berührte. Wen der Dämon berührt, der stößt einen Schrei aus. Darin hat es nie eine Ausnahme gegeben, außer bei Maria und ihrem Sohn.«
Habib saß da wie Cornelius, hatte aber die Augen geschlossen, der schmale Schädel war auf seine Brust gesunken, in der sich sein Spitzbart vergrub. Er sprach wie zu sich selbst: »Ihr habt recht, junger Freund und Gelehrter im Herrn diese Aussage Muhammads – alle Weisheit mit ihm – kennen wir alle. Es ist ein Hadith in unserer Sunna.«
Cornelius war in diesem Augenblick ziemlich stolz auf sein fabelhaftes Gedächtnis und genoss im Geheimen die Verwirrung, die er bei Habib mit seiner Kenntnis des Islam ausgelöst hatte. Belhadji schwieg ein Weile, so als ob er müde geworden war. Als er dann wieder sprach, war es wie ein Abendgebet:
»Meine lieben jungen Freunde, es ist spät geworden. Lasst uns den Abend beschließen und gemeinsam bekennen: »Es existiert keine Macht, die es wert ist, angebetet zu werden, außer Gott. Morgen früh ist ein neuer Tag, in š? All?h. Beim Frühstück haben wir vielleicht Lust unser Gespräch fortzusetzen?«
Die aufgehende Sonne stand noch tief unten am Horizont, ihre ersten Strahlen flimmerten flach über das Wasser und reflektierten sich in jeder kräuselnden Welle. Eine atemberaubende Kulisse, wie sie nur die ungehinderte Weite des Meeres erlaubt. Es fröstelt Cornelius und Caspar, obwohl sie sich während der Nacht in ihre wollenen Burnusse auf dem dicken Teppich eingerollt hatten. Sie rieben sich die Augen und hörten ein leises Murmeln vom Vordeck. Aus den Augenwinkeln sahen sie Habib Belhadji, der mit seiner Mannschaft, gen Osten blickend, tief gebeugt auf den Knien, das erste Tagesgebet verrichtete. Bald vernahmen sie ein leises Glöckchen, das sie in die Kabine rief. Da war das Frühstück aufgetischt, nein, das war ein wahres Frühmahl, so reichhaltig, vielseitig und lukullisch verlockend. Der Koch hatte an diesem Morgen mehr Zeit zum Zubereiten gehabt als am Tag ihrer Abreise. Er war ihnen noch nie bewusst zu Gesicht gekommen, musste aber schon sehr früh aufgestanden sein. Duftender Reis, würziges Safranhühnchen, allerlei Gemüse, natürlich frischgebackene Brotfladen und sogar wieder ihr geliebtes Falafel. Zur bekömmlichen Verdauung wurde aus bauchiger Messingkanne Tee mit langer Zotte wundervoller Ceylontee überschwänglich in feine Becher gegossen. Cornelius und Caspar konnten kaum glauben, dass sie auf einem kleinen Segelschiff irgendwo auf dem Mittelmeer trieben. Wo war nur der Platz für solch eine Küche, wo all diese Köstlichkeiten zubereitet werden konnten. Sie sahen immer nur den Adlatus des Kochs, der in einer Ecke der Kabine saß und möglichst unauffällig zu bleiben versuchte, aber immer zur Stelle war, wenn er gebraucht wurde. Dafür hatte er, ohne gerufen zu werden, ein Gespür.
Sie ließen sich über eine Stunde Zeit mit dem Frühstück bei oberflächlicher Konversation. Als dann die Überreste des Mahls mit den kleinen Tischen beiseite geräumt waren, man sich bequem in seinen Kissen zurückgelehnt hatte, nahm Belhadji ein Buch zur Hand, das die ganze Zeit schon neben ihm gelegen haben musste, und schlug es auf. Er knüpfte tatsächlich an den Gesprächsfaden des vergangenen Abends wieder an. Seine sonst ebenen Gesichtszüge legten sich in gespannte Falten.
»Ich habe schon gestern Abend feststellen dürfen, dass Ihr einen festen Glauben mit konkreten Vorstellungen habt. Darum denke ich, dass wir über den Tod und die Auferstehung Eures Herrn Jesu disputieren können, so wie darüber in unserem Heiligen Buch, dem Koran berichtet wird, allerdings ganz anders, als in Euren Evangelien. Ich denke, diese andere Version wird Euch interessieren und unser Gespräch anregen. So wurde es uns von Allah persönlich - dem Barmherzigen und Erbarmenden sei Ehre und Dank - durch Muhammad mitgeteilt - Friede sei mit ihm. Ich zitiere Euch aus Sure 4: „Sie hatten ihn aber nicht getötet, und sie hatten ihn nicht gekreuzigt, sondern es erschien ihnen eine ähnliche Gestalt. Diejenigen, die über ihn uneins waren, waren im Zweifel über ihn. Sie hatten kein Wissen über ihn, außer dass sie Vermutungen folgten. Und sie hatten ihn mit Gewissheit nicht getötet, sondern Gott hat ihn zu sich erhoben. Gott ist mächtig und weise“. Ich merke an Euren Gesichtern, Ihr seid mit dieser Wahrheit nicht einverstanden. Bevor wir darüber diskutieren, bitte ich noch den Inhalt einer anderen Sure lesen zu dürfen, die sich auch mit ?s?s Tod beschäftigt. Diese Aussagen werden uns bestimmt hilfreich sein: “Ich werde Dich abberufen und zu mir erheben und Dich von denen, die ungläubig sind, rein machen“. Ihr hört, hier wird berichtet, dass ?s? ibn Maryam nicht gestorben ist, sondern im Gegenteil von Gott erhöht wurde. Allah – gepriesen sei Er – hat damit ein weiteres Wunder an ihm bewirkt, wie schon bei seiner Geburt. Ich muss aber gestehen, dass diese Textstelle bei vielen unserer Schriftgelehrten über die Jahrhunderte für Verwirrung gesorgt hat und ganz unterschiedlich ausgelegt wird.«
Für eine sehr lange Weile lag eine große Stille im Raum, nur der Wind knatterte in den Segeln und die Wellen rieben sich am Bug. Das Schweigen schien in diesem Moment beinahe zu erdrücken. Das stöhnende Atmen Caspars war für die Umsitzenden nicht zu überhören. Cornelius fiel kein Konsens mehr ein, wie er das noch am vergangenen Abend schaffte. Natürlich kannte er diese, für die Christen kritischen Sätze aus dem Koran. Das machte die Aussage aber nicht einfacher, milderte nicht die Schwere dieser unglaublichen Provokation, die er und, wie er wusste, auch Caspar aus tiefstem Herzen empfanden. Diese Passagen, die er während des Koranstudiums bereits gelesen hatte, waren heute, aus dem Mund eines Mannes, der berechtigt die Worte Muhammads zitierte, in ihrer Tragweite für einen guten Christen genauso inakzeptabel. Alles schrie in ihm auf. Auch Caspar zitterte förmlich vor Erregung, während sich Cornelius' Verstand aufbäumte. Habib spürte, was seine Worte bewirkt hatten. Er wollte, weiß Gott, die beiden nicht provoziert haben. So versuchte er die Situation zu entschärfen. Mit erhobenen Händen, gleichwohl beschwörend, fuhr er fort:
»Sein Volk, die Juden, benutzten die Person Jesu, um ihn zu erniedrigen und als Usurpator und Volksverhetzer zu verurteilen. Ihr Christen benutzt die Gestalt Jesu, um ihn zum Opferlamm und zum Sohn Gottes zu erhöhen. Wir im Islam bleiben in der Mitte und wollen in ihm den sehen, der er ist, ein Begnadeter, ein Gesandter Gottes. Jesus ist das Zeichen aller Zeichen im Koran, das auf Gott verweist. Allah – gepriesen sei sein Name – steht über allem, er erkennt alles, daher konnte er nicht hinnehmen, dass einer seiner Gesandten für ihn geopfert oder gar ermordet wurde, und schon gar nicht ?s? ibn Maryam. Nur Gott entscheidet was richtig ist.«
Cornelius hatte seine Stimme wiedergefunden. Er konnte nicht länger an sich halten, suchte aber seine Contenance zu bewahren. Er überlegte sich seine Worte genau, wie er das besondere Verhältnis von Jesu zu Gott erklären konnte. »Verzeiht bitte, werter Gastgeber, dass ich mir erlaube, Euch unser Glaubensbekenntnis zu erklären, zumindest sehe ich das ganz anders. Gott hat nicht verlangt oder musste verhindern, dass Jesus geopfert oder gar ermordet wurde. Jesus hat sich Jahwe selbst als Opferlamm, in alter jüdischer Tradition, angeboten, um damit Gottes Gnade und sein Erbarmen für die Sünden dieser Welt zu erflehen. Er hat mit seinem freiwilligen Opfergang bewirken wollen, dass Gott sein Reich auf Erden zur Erlösung der Menschen errichten konnte. Und Gott hat, wie wir wissen, sein Opfer angenommen. Er hat ihn vom Tod erlöst und direkt in sein Reich erhöht. Das habt Ihr uns ja selbst gerade aus eurem Koran vorgelesen und bestätigt. Gott sagte: „Jesus! Ich werde dich abberufen und zu mir in mein Himmelreich erheben und rein machen.“ Der Allmächtigste hielt im ewigen Bund mit Abraham sein Versprechen die Nachkommen seiner beiden Söhne zu großen Völkern zu machen. Darauf dürfen sich heute die Juden mit Isaak und die Araber mit Ismaël berufen. Hernach erlaubte Gott in seinem ewigen Ratschluss auch allen anderen Menschen ihn zu finden. Jesus ist der Auserwählte, diesen neuen Bund mit uns allen zu schließen. Durch ihn, den Wanderprediger aus Galiläa, wurde das Wunder vollbracht, dass sich der Gott der Juden allen Menschen auf der Welt offenbarte und der Glaube an ihn sich ausbreitete. Nun ist das Tor zu Gott für alle Menschen offen. Ohne Jesus und seine Botschaft gäbe es uns Christen nicht, hätten wir nie eine Chance gehabt von den Wundern, von der unendlichen Stärke und von der Gnade Gottes zu erfahren. Ohne Jesus wäre Gott immer ein Gott der Juden geblieben, aber durch ihn können wir nun wahrhaftig Gottes Kinder, seine Söhne und Töchter sein. Nur Jesus gibt uns dieses Privileg, diese einmalige Vaterbeziehung. Weder die Juden in Jahwe, noch ihr Muslime in Allah kennen und erlauben sich diese Intimität.«
Caspar sah staunend, ja bewundernd auf seinen Bruder. Mit einer solchen Inbrunst hatte er ihn noch nie reden gehört. Und Cornelius war noch nicht zu Ende.
»Gott hat Jesu Flehen erhört und errichtete tatsächlich sein Reich auf Erden. Wenn sich die Menschen an seine Botschaft halten würden, könnten alle drei großen Religionen, die an den einzigen und wahren Gott glauben, tatsächlich sein Reich auf Erden erleben. Dass es nicht so ist, daran sind nur wir selbst Schuld, und nicht Jahwe, Jesus oder Allah.«
»Allâhu a'lam, Gott weiß es am besten,« antwortete Habib mit abwesendem Blick.«
Für den Rest der Reise traf man sich zum gemeinsamen Essen, man redete über dieses und jenes, aber die Unterhaltung kreiste nur noch um Belangloses. Nein, man ging sich nicht aus dem Weg, dazu war das Schiff viel zu klein, nein, aber man vermied es, noch einmal solch heikle Themen aufzugreifen. Habib erzählte stattdessen bei einer ihrer Mahlzeiten noch eine andere, diesmal heitere Sufi-Geschichte:
»Der Heilige Nasruddin setzte einen Gelehrten über ein stürmisches Wasser. Als der etwas sagte, das grammatikalisch nicht ganz richtig war, fragte ihn der Gelehrte: „Hatten Sie denn nie Grammatik studiert?“ „Nein.“„Dann war ja die Hälfte Ihres Lebens verschwendet!“ Kurz darauf dreht sich Nasruddin zu seinem Passagier um: „Haben Sie jemals schwimmen gelernt?“ „Nein. Warum?“„Dann war Ihr ganzes Leben verschwendet, wir sinken nämlich!“«
Ihre eigene Überfahrt nach Marseille dauerte nur wenige Nächte. Sie konnten bequem auf Deck, ungestört, in genügendem Abstand von der Mannschaft schlafen, unter offenem Himmel, bei milder Brise, auf Kissen, nur in ihre Burnusse eingewickelt. Kommende Ereignisse berührten die beiden in diesen Tagen nicht, schienen noch in weiter Ferne zu liegen. Die See war die ganze Zeit ruhig. Am Ende der Reise waren alle Hühner, die in einem Käfig auf Deck verstaut gewesen waren, aufgegessen. Daneben fing die Mannschaft, die sonst nicht besonders viel zu tun hatte, den einen oder anderen Fisch, woraus der Koch köstliches Hut Bib Karfas bereitete, einen Eintopf mit Sellerie, den sie besonders mochten. Was war diese Reise doch ein Segen, denn durch die Speisen, die ihr überaus freundlicher und großzügiger Gastgeber auftischen ließ, konnten sie das Land, das für einige Monate zu ihrer unfreiwilligen, nicht besonders geschätzten Heimat geworden war, durch einen wohl gedeckten Tisch in guter Erinnerung behalten.
Am fünften Tag erreichten sie den Hafen von Marseille. Zum Glück war Habib Belhadji sehr damit beschäftigt sein kostbares Gut sicher an Land zu bringen, so dass der Abschied von ihm mit vielen Dankesbezeigungen nur kurz ausfiel und sie sich schnell entfernen konnten. Er fragte nicht einmal, warum der Onkel nicht zum Empfang gekommen war. Aber das wäre auch schnell zu erklären gewesen, nachdem sie ja ihre ursprünglich geplante Passage versäumt hatten.
»Und was machen wir nun, Connie? Wir können doch nicht so einfach nach Hause zurück. Papa wird uns rausschmeißen, falls es nicht noch schlimmer kommt!«
Für Cornelius war es im Augenblick wichtiger, ob der Orden sie suchen würde. Als er seine Bedenken gegenüber Caspar äußerte, war dessen prompte Antwort:
»Einen Ordenseid haben wir noch nicht abgelegt. Und sonst schulden wir denen auch nichts, oder?«
»Doch, Bruder,« warf Cornelius ein, »Wenn wir ganz korrekt sind, dann stehen wir bei denen mit ein paar Franc in der Kreide, nämlich mit der Reisekasse, die sie uns für Budschaja mitgegeben haben und natürlich auch für unseren Burnus. Aber sind wir froh, nicht das Geld ausgegeben zu haben. Wir brauchen es nämlich noch dringend genug für unsere Weiterreise.«
Ihre algerischen Kleidungsstücke mussten sie nun irgendwie los werden, denn die passten nicht mehr in ihre neue Umgebung, obwohl Marseille genügend arabische Einwohner hatte. Letztendlich war Algerien französisch und viele Einwohner wollten im Mutterland residieren. In einem Laden für gebrauchte Kleidung konnten sie ihre Ordensgewänder gegen einigermaßen ansehnliche und passende Anzüge ohne Aufgeld eintauschen.
Caspars Sorgen um die Zukunft waren zurückgekehrt, die ihn in den letzten Tagen so gar nicht geplagt hatten. Da konnte nur der große Bruder helfen. Der aber war auch ratlos und voller Zweifel, obwohl er sich das nicht anmerken lassen wollte. Es schmerzte ihn unendlich, dass sie nicht einfach nach Hause zurückkehren konnten, die Mutter in die Arme schließen, im Kreis der Geschwister von ihren Erlebnissen in Algerien erzählen. Aber der bigotte Vater, in seiner Verbohrtheit, war in ihrer Vorstellung ein unüberbrückbares Obstakel.
»Casparus, wir teilen das Geld und du schlägst dich am besten alleine zu den Großeltern nach Deutschland durch. Versuche so schnell es geht wieder in dein Studium einzusteigen. Du hast ja nur noch zwei Semester bis zum Abschluss. Und das musst du unbedingt durchhalten, sonst wirst du doch noch zum Militärdienst eingezogen. Dreimal wurdest du ja schon von der Ersatzkommission wegen deines Studiums suspendiert. Aber noch einmal werden sie kaum so großzügig sein. Dann kannst du damit rechnen, dich für König und Kaiser ein paar Jahre lang abzurackern, und das ist überhaupt kein Zuckerschlecken.«
»Cornelius, was weißt du denn davon, du hast gut reden! du brauchtest ja als Freiwilliger nur ein Jahr zu dienen und das hast du mit Großmutters Hilfe im Eliteregiment bei den Husaren ganz gut hinter dich gebracht. Davon kann ich nur träumen.« Darüber wollte der Ältere jetzt nicht reden. Im Augenblick war für ihn das Wichtigste, dass sein 'Bub' nicht ins Schlingern geriet, dass er zügig die Universität hinter sich brachte, um danach seine eigenen Entscheidungen zu treffen.
»Caspar, ich werde erst einmal nach Lille an die katholische Universität reisen. Das ist zwar auch in Frankreich, aber das nehme ich in Kauf, um weit genug vom Vater weg zu sein. Wenn du nicht verrätst, wo ich bin, werde ich dort fürs Erste vor ihm in Sicherheit sein.«
Cornelius war noch immer richtig bitter auf seinen Alten und glaubte, dass er ihm seine Karriere versaut hatte. Lille hatte ihm nämlich gleich nach der Promotion mit seinem Vorzeigeabschluss eine Dozentenstelle an der philosophisch-theologischen Fakultät angeboten. Das hätte er auch angenommen, aber der Vater hatte sie ja nach Algerien abkommandiert. Es war vielleicht ein Versuch wert, sich nochmals zu bewerben. Möglicherweise waren sie an ihm noch immer interessiert. Wo sonst konnte er hin?
Vielleicht gab es aber doch noch eine andere Alternative, die er in einer Unterhaltung der Ordensbrüder in Algerien hörte, als sie sich über den Unglauben der Indio-Bevölkerung in Süd- und Mittelamerika unterhielten, und das nach vierhundert Jahren spanisch christlicher Missionierung! Die Ordensbrüder behaupteten, dass die Bischöfe in Süd- und Mittelamerika dringend Priester zur Bewältigung ihrer prekären Lage suchen. Die spanischen Kolonien waren längst zusammengebrochen. Wie in einem Sog vollzog sich ein Wandel des wirtschaftlichen und politischen Aufbruchs. Die Kirche witterte ihre Chance, indem sie mit dem Elan junger Priester versuchte aus ihrem sozialen Abseits zu kommen.
Als Caspar von dieser Möglichkeit im fernen Amerika hörte, leuchteten seine Augen auf.
»Cornelius, wenn du dort hin gehst, dann lass mich das unbedingt wissen. Ich werde mich bestimmt mit meinem Studium beeilen. Das ist vielleicht ein Ansporn. Mit dir zusammen zu arbeiten, das wäre ganz nach meinem Geschmack! Denk dir bloß, mit dir gemeinsam, was könnten wir da alles bewegen! Du, mit deiner Begabung, da bin ich mir ganz sicher wirst ganz schnell Bischof, und ich immer an deiner Seite. Mensch, Bruder, da eröffnen sich auf einmal ungeahnte Aussichten!«
Er war richtig aufgeregt, nickte ein über das andere Mal mit dem Kopf, wie zur Selbstbestätigung und meinte: »Könnte vielleicht Vater mit Absicht die gleichen Initialen für unsere Namen gewählt hatten? Ist dir schon einmal aufgefallen, dass unsere Vornamen beide mit C beginnen? C und C, Connie und Caspar, was für ein Tandem, da kann einfach nichts schief gehen!«
Er malte mit seinen Händen ein Banner in die Luft. Seine jugendlichen Träume liefen sich geradezu heiß.