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5 Aufbruch in eine neue Welt

Die Fahrt nach Le Havre über Amiens war mit der Eisenbahn in wenigen Stunden geschafft. Der Fahrplan erlaubte es ihm im Hafen frühzeitig genug einzutreffen, um am gleichen Abend das Schiff zu borden. Das ersparte eine extra Übernachtung. Entlang der Straße zum Auswandererkai hatten sich die Agenturen in niederen Baracken, eine neben der anderen, eingerichtet. Das Geschäft lief gut. Viele Ausreisende erhofften sich eine bessere Zukunft in der Neuen Welt und gaben dafür ihr letztes Erspartes her oder verließen den alten Kontinent mit Schuldverschreibungen an Geldausleiher oder Verwandte. Über einem der Büroeingänge stand in großen Lettern auch der Name seines Agenten. Er trat ein, stellte sich vor und bekam gleich seine Bordkarte ausgehändigt: Dritte Klasse, Schlafkoje 179. Man deutete ihm an, dass er sich auf das Vorschiff in den Junggesellentrakt zu begeben hatte. „Das würde bei so vielen Mannsbildern heiter werden“, dachte Cornelius sarkastisch.

Wie bei der Buchung versprochen, half man ihm durch etliche Kontrollen, aber nur bis zur Kaianlage, dort sei er sich selbst überlassen. Da warteten bereits Passagiere, um an Bord gelassen zu werden oder Verwandte standen neben den Lieben, schmerzstumm beim Abschiednehmen. Viele stiegen in Le Havre nicht zu, die meisten kamen bereits von Hamburg, dem Heimathafen der 'Lenau’. Die legte hier in Le Havre nur einen kurzen Zwischenstopp ein, um noch restliche Passagiere und Cargo vor der langen Atlantiküberquerung aufzunehmen. Noch hatten Matrosen und Stauer alle Hände voll zu tun, das Schiff mit Proviant, und Gepäck - voluminöse Kisten, Pakete und Postsäcke - fertig zu beladen. Letztendlich reiste Cornelius ja auf einem Postdampfer. Der Warenverkehr über den Atlantik vom alten Kontinent zu den aufblühenden Metropolen der Neuen Welt hatte sich lawinenhaft entwickelt. Am Heck wurde immer noch Kohle für die mächtigen Dampfkessel im untersten Deck des Schiffes gebunkert. Aus dem Schlot stiegen bereits dicke, schwarze Rauchwolken und legten sich übelriechend auf den Kai. Alles stank nach Kohleruß.

Das Herumstehen gab Cornelius prächtig Gelegenheit, seine Umgebung zu beäugen. Um ihn herum warteten Menschen, wie es schien, bereits schön gruppiert nach der Klasseneinteilung in den Schiffskabinen. Wohlhabende Urlaubs- und Geschäftsreisende mit eleganten Koffern und Taschen standen abseits von den Leuten, die ins Massenquartier im Zwischendeck ziehen mussten. Die waren deutlich an der ärmlichen Kleidung und den schäbigen Gepäckstücken auszumachen: Rucksäcke, Leinwandbeutel, Kisten und Kanister. Die Damen der Hautevolee konkurrierten untereinander in mondänen Mänteln und übergroßen Hüten. Bei den Herren lugten weiße Schals unter dunklen, eng anliegenden Anzügen hervor; sie trugen Glaceehandschuhe und stützten sich nach der neuesten Mode auf silberbeknaufte Spazierstöcke. Selbst die Kinder waren fein herausgeputzt. „Diesen Leuten werde ich bestimmt an Bord nicht begegnen“, dachte Cornelius. Er empfand aber keinen Neid, nein, überhaupt nicht. Er schaute einfach erleichtert und mit reichlich Optimismus auf das Kommende, ohne viel darüber nachzudenken, was ihn eigentlich erwartete und auf was er sich da in Panama eingelassen hatte. Dabei war ihm natürlich klar - ohne dass er sich die finale Konsequenz in diesen Augenblicken eingestanden hätte, - dass nämlich das Ende seines eingeschlagenen Weges für ihn doch genau mit dem beginnen würde, was er so gar nicht vorhatte, nämlich in einen Priesterrock zu schlüpfen. Jetzt aber prickelte erst einmal sein ganzer Körper vor Aufregung. Die letzten Monate wollte er lieber vergessen, stattdessen sein Bewusstsein der momentanen Realität anpassen.

Das anfängliche Läuten der Schiffsglocke ging im einsetzenden Heulen der Sirenen unter. Der Landesteg wurde freigegeben, aber eine Reihe Matrosen versperrte immer noch den Aufgang zum Schiff. Man bedeutete der kleinen Gruppe Erste-Klasse-Passagiere sich auszuweisen, sie traten vor und wurden gemächlich die Gangway hinaufbegleitet. Die Reisenden der zweiten Klasse folgten; das waren auch nicht viele. Das Gepäck dieser Herrschaften wurde ihnen beflissentlich nachgetragen, wogegen man die Habseligkeiten der Reisenden im Zwischendeck genau inspizierte. Nur was Platz in der eigenen Koje hatte, durfte dabei bleiben, die größeren Stücke waren in einem separaten Gepäckraum unterzubringen, der auf See verschlossen blieb. Entsetzen und Geschimpfe ging durch die Menge, denn die meisten hatten doch geplant, jederzeit während der Überfahrt an ihr Hab und Gut heranzukommen. Hastig versuchte ein jeder Betroffene nun irgendwie umzupacken, was in der Eile nur sehr schwer möglich war oder überhaupt nicht gelang. Warum hatte man sie darüber nicht vorher unterrichtet? Viele waren regelrecht verzweifelt. Wieder einmal pries Cornelius seine Voraussicht, denn seinen Seesack durfte er anstandslos huckepack mit an Bord nehmen.

Alle Passagiere mussten zuerst über die Gangway an der Außenseite des Schiffes hinauf bis zum obersten Deck. Das war nicht ganz ungefährlich auf dem schmalen, wippenden, steilen Steg, besonders mit Gepäck beladen. Gleich am Ende stand Bordpersonal und reichte ohne weitere Erklärung jedem ankommenden Passagier eine Schwimmweste aus Kork. Man nahm wohl an, dass jeder wusste, was damit anzufangen war. Das Oberdeck war ganz in Teakholz gehalten, aber man durfte sich dort als Dritt-Klasse-Passagier nicht aufhalten. Überall standen Matrosen, die zwar nicht Hand anlegten und halfen, aber sehr darauf bedacht waren, dass die Passagiere auf den Oberdecks nicht belästigt oder vielleicht sogar in die luxuriösen Salons gelugt wurden. Lange, enge und niedere Gänge führten über separate Treppen zwei Decks tiefer zur Dritten Klasse, deren Quartiere direkt über dem Gepäck- und Maschinenraum lagen. Die Gänge waren hell mit elektrischen Lampen erleuchtet, was für Cornelius ein Novum war, denn bisher kannte er nur den Gasglühstrunk als Lichtquelle. Erst einmal auf seinem Deck, war der Weg zum Junggesellenquartier gut ausgeschildert. Die Schifffahrtsgesellschaft hatte zweifellos Routine und Erfahrung. »Wenn der Rest der Reise genau so gut organisiert abläuft«, murmelt Cornelius, »wie das Einschiffen, dann werden die paar Tage schnell vorbeigehen.« Was wusste er schon!? Seine Segeltour auf dem glatten Mittelmeer war ganz bestimmt nicht zu vergleichen mit dem häufig sehr rauen Atlantik. Aber einen Ozeanreisenden, der ihn hätte warnen können, hatte er bisher noch nicht getroffen.

Im Innern des Schiffes, mit jeder Stufe, die er tiefer hinabgestiegen war, hörte er um so deutlicher das Stampfen und spürte das Vibrieren der mächtigen Dampfmaschinen.

Als er endlich durch einen schmalen Gang in den Raum vordrang, aus dem es in den nächsten Tagen kaum ein Entrinnen geben würde, gewahrte er vor sich eine ziemlich große, aber nicht geräumige Behausung ohne Luken, schmal und lang, mit Kojen links und rechts entlang der Wände, doppelstöckig, eine hinter der anderen. Die beiden Reihen wurden durch einen nicht allzu breiten Korridor getrennt, in dem sich schon jetzt allerlei Zeug auf dem Boden staute oder an den Seiten der Bettgestelle herunterhing, so dass ein Durchkommen mit dem eigenen Gepäck nur mit Mühe, Gefluche oder Entschuldigungen gelang. Die Passagiere aus Hamburg lagen in ihren Kojen und musterten stumm, manche sogar etwas feindselig, die Neuankömmlinge. Auf den noch leeren Betten lagen ihre Kleidung und andere Gegenstände, was man nun genötigt war, knurrend für die Zugereisten wegzuräumen.

Die Nummer 179, das für Cornelius bestimmte Bettlager, war deutlich auf einer Blechscheibe eingestanzt und an das Holzgestell der oberen Koje aufgenagelt. Cornelius hatte schon wieder Glück. Der Abstand zwischen der unteren und der oberen Bettkante war bestimmt nicht mehr als 60 Zentimeter. Da konnte man sich kaum aufsetzen. Von seiner oberen Schlafstatt aus, in der zweiten Etage, hatte er wenigstens 80 Zentimeter bis zur Kabinendecke, wie er schnell schätzte. Er wuchtete den Seesack in seine Koje, die damit schon fast ausgefüllt war.

»Donnerwetter,« entfuhr es ihm laut, »das ist hier aber schmal, da ist ja kaum noch Platz für mich selbst.« Er schaute in die Runde und bemerkte quer über den Gang, auf gleicher Höhe mit seiner Schlafstelle, einen jungen Mann auf seiner Matte sitzen, hemdsärmelig, breite Gummiträger hielten seine Hose mit offenem Bund. Er schlief ohne Betttuch und Decke auf der befleckten Matratze, wie Cornelius sofort etwas verwundert feststellte. Er musste instinktiv auf Deutsch geschimpft haben, denn sein Gegenüber mit den melancholischen Augen nickte nur und seufzte. Die Kojen waren tatsächlich so schmal, dass die Matratzen auf beiden Längsseiten nach oben ragten. Die Lagerstatt glich mehr einem Kanu, in das sich nun Körper mit Gepäck quetschen sollten. Noch hatte Cornelius nicht erlebt, wie nützlich die aufgetürmten Matratzenseiten bei stürmischer See werden konnten, somit der Schläfer viel schwieriger über die Bettkante rutschte. Aber diese Erfahrung hatte er sehr wahrscheinlich noch vor sich. Sein Nachbar beobachtete interessiert, wie Cornelius versuchte sein Bett zu beziehen. Sein mitgebrachtes Leintuch ließ sich einfach nicht über die Ränder spannen; es hielt nicht fest. Das sah er letztendlich ein und war bereit, es in der Mulde liegen zu lassen, obwohl ihm das in seiner leicht pedantischen Art ein wenig zuwider war. Mit der ausgebreiteten Decke und dem kleinen Kissen wurde es beinahe zu einem richtigen Bett. Seinen Seesack legte er quer über das untere Ende der Koje. Das ließ ihn zwar nicht ausgestreckt schlafen, aber er hatte mit seinen 1.73 sowieso keine überdimensionierte Größe. Der Sack ragte etwas in den Gang, was Querelen mit den Passierenden auslösen konnte. Er ließ es aber erst einmal darauf ankommen, denn so wie er sich jetzt eingerichtet hatte, versprach sein Bett doch etwas mehr Komfort. Und letztendlich musste er an diesem Platz nicht nur schlafen, sondern in den nächsten Tagen auch logieren.

Der junge Mann gegenüber langweilte sich mächtig und wartete buchstäblich auf ein Gespräch mit dem Neuankömmling. »Isch bien Jagob Jung.« Sein Sächsisch war unüberhörbar. »Herr Nachbar, wie isch vernähme, sinn se nich fonn Vrangkreisch?« Er merkte, dass Cornelius Schwierigkeiten mit seiner Aussprache hatte und wechselt schnell in ein erträgliches Umgangsdeutsch, zu sehr war ihm offensichtlich an einer Unterhaltung gelegen.

»Weißt du, ich komme von Leipzig und ich bin Gärtner, meine Schwester ist im hinteren Teil des Schiffes bei den unverheirateten Fräuleins und wir sind auf dem Weg nach Amerika.« Jakob hatte eine sonore Stimme, die irgendwie zufrieden, ja beinahe etwas hochnäsig klang. Cornelius war sich nicht sicher, wovon das herrühren konnte, vielleicht dass er von Leipzig kam, Gärtner war oder eine Schwester hatte, die mit ihm reiste? Wohin würden sie denn sonst wohl reisen, als nach Amerika, dafür hatten sie ja alle gebucht. Und dass Fräuleins unverheiratet waren, das war wohl auch klar. Auf jeden Fall hatte er ihn mit du angesprochen, vermutlich weil sie so etwa gleich alt waren. Jakob hatte wirre blonde Haare, wirkte nach den ersten Tagen auf See seit der Abfahrt von Hamburg ungewaschen und seine Wangen zierte bereits ein Stoppelbart.

»Jakob, angenehm deine Bekanntschaft zu machen, du kannst mich Cornelius nennen. Du hast Recht, ich bin auch Deutscher, habe aber die letzten Monate hier in Frankreich gearbeitet.« Viel mehr wollte er in diesem Moment nicht von sich geben.

»Dann willst du also auch nach Amerika?«

Am liebsten hätte Cornelius geantwortet: „Ja wohin denn sonst, du Trottel, wenn sich der Kapitän nicht verirren sollte oder wir sonst wie untergehen, dann werden wir wohl alle mit diesem Schiff dort landen.“ Aber er verschluckte lieber diese bissige Bemerkung, letztendlich lagen Tage gemeinsamer Reise auf engstem Raum vor ihnen. stattdessen erwiderte er: »Wenn wir nicht untergehen oder sich der Kapitän verirrt, dann werden wir wohl gemeinsam dort ankommen.« Das war auch nicht wirklich freundlich, aber er war gerade jetzt nicht in Laune eine große Unterhaltung zu beginnen oder über sich zu erzählen, worauf sein Gegenüber offensichtlich gewartet hatte. stattdessen schwang sich Cornelius in seine, wie er sich einbildete, gemütliche Koje und vergrub sich in seine Matratzenbadewanne. Er tauchte einfach unter. Müde wie er von der Bahnfahrt war und dem frühen Aufstehen, der Anspannung und letztendlich dem Quartiernehmen, schlief er tatsächlich ein und wachte erst wieder durch das fortwährende Beben und Stampfen der Maschinen auf, das durch das ganze Schiff lief, wahrscheinlich am stärksten bei ihnen in der Enge des Zwischendecks wahrnehmbar. Er zog seine Taschenuhr aus der Westentasche, sein bestes Stück, das er schon als Zehnjähriger zur Kommunion von Großvater bekommen hatte. Damals lebte Papa noch nicht im Zank mit seinem Vater. Das entwickelte sich erst über die Jahre, je größer die Familie wurde. Laut seiner Uhr lagen drei Stunden tiefen Schlafs hinter ihm. Tageslicht gab es ja in dem Raum nicht, somit war wenigstens die Uhr ein guter Zeitmesser. Das Deckenlicht brannte immer noch und die grellen Birnen blendeten ein wenig, sobald er die Augen aufgemacht hatte. Vorsichtig über seine Matratzenkante lugend, sah er Jakob immer noch in seiner Koje sitzen. Er hatte seine Socken ausgezogen und diese fein ordentlich am Kopfende über die Bettlade gehängt. Die Kojen stießen nicht direkt aneinander, so dass ein kleiner Zwischenraum blieb, gerade Platz genug für seine Strümpfe. Jakob hatte seine Füße auf die Bettkante gestemmt und bearbeitete mit den Fingern eingehend jeden Zwischenraum seiner Zehen. Cornelius konnte seine Augen nicht von diesen Füßen wenden. So große, lange, knochige Zehen hatte er noch nie gesehen. Er schätzte, die nahmen mindestens ein Drittel von Jakobs Füßen ein. Lange Glieder, getrennt durch herausstehende Knöchel, am Ende mit langen, braunen Zehennägeln. So intensiv, wie Jakob zwischen seinen Zehen herumfummelte, mochte man meinen, er würde immer noch Gärtnererde dort finden und herausgraben.

Cornelius krabbelte zum Fußende seines Bettes, wühlte in seinem Seesack und fand die Äpfel und das Brot, von dem er ein Stück herunter brach und sich daran machte sein Abendbrot zu essen. Er bemerkte Jakobs hungrige Augen und konnte nicht anders, als ihm einen seiner kostbaren Äpfel über den Gang hinüber zu reichen. Jakobs Hand war schneller ausgestreckt, als Cornelius den Apfel loslassen konnte. Es fielen keine Worte, aber Jakobs Blick hatte so viel zu sagen, bot Freundschaft an, viel, viel mehr als nur Dankbarkeit.

In diesem Moment ging das Licht aus, wie zur selben Zeit auch an den nächsten Abenden auf dieser Reise. Das letzte Mal, als Cornelius auf seine Taschenuhr sah, war es neun Uhr. Pünktlich um sechs am nächsten Morgen wurde das elektrische Licht automatisch wieder angeknipst. Ohne Sonnenlicht, verriet dieser Rhythmus den Tagesablauf. Er hörte Jakob an diesem ersten Abend in der Dunkelheit herzhaft in den Apfel beißen. Auch er hatte Muße in Ruhe den Rest seines Apfels und die Brotkante zu genießen. Er war mit sich und der Welt zufrieden. Leise wünschte er Jakob einen guten Schlaf, was der in seiner angenehm dunklen Stimme erwiderte. Die Nacht verging sehr ruhig, es war erstaunlich friedlich, das Schnarchen blieb in Grenzen, wahrscheinlich, weil für alle im Zwischendeck der Alkohol verboten war. Ab und zu schlurfte jemand durch den engen Korridor, tastete sich an den Betten entlang, um den Abtritt zu finden. Cornelius kümmerte es nicht, wie viele Kojen belegt, noch wer die Insassen waren. Die Raumtemperatur und der Mief bleiben erträglich, trotz der vielen Insassen und geschlossenen Türen. Die großen Ventilatoren verfehlten nicht ihre Wirkung und ergossen viel Frischluft.

Sobald das Licht am nächsten Tag aufleuchtete, begann das Leben wie in einem Hühnerstall. Cornelius schlief wie alle in seinen Kleidern, manche sogar mit Mantel und Hut oder Kappe auf dem Kopf. Die Cleveren liefen schnell zur Toilette und zum Waschplatz. Für die vielen Leute gab es nur wenige Fazilitäten und bald begann ein Meutern unter den Wartenden. Zum Glück hatte es Cornelius nicht eilig. Stattdessen machte er sich mit seinem Blechnapf und Teesäckchen auf die Suche nach der Kombüse. Er fand sie mittschiffs zwischen dem Quartier für die Familien und seiner Behausung. Dort gab es auch einen winzigen Essraum mit ein paar grob gezimmerten Tischen und Bänken. Alles sah sehr provisorisch aus, die Einrichtung hier, wie auch die Bettgestelle. Er konnte sich denken, dass es auf der Rückfahrt von Amerika keine Auswanderer mehr gab, ein Grund, das ganze Mobiliar abzuschlagen, um Raum für Cargo zu schaffen.

Zu seinem Entsetzen herrschte ein riesiger Andrang, ein echtes Tohuwabohu in der Küche. Körper an Körper standen Frauen mit Kochgeschirr in Händen. In einem Herd loderte bereits ein Feuer, das jemand entfacht hatte und um den sich jetzt die Weibsleute schubsten und mit den Ellbogen versuchten ihre Pfanne oder den Topf auf die heiße Platte zu stellen, obwohl überhaupt kein Fleckchen mehr frei war. Ein Mann war bemüht sich mit einem Korb voller Holzscheide einen Weg zum Herd zu bahnen. Nach einigem Zögern und sein Unterfangen erkennend, wurde er durchgelassen. Er war keine Konkurrenz an der Herdplatte. Cornelius sah die Gelegenheit, dicht hinter den Mann gedrängt, sich mit nach vorne zum Wasserkessel zu schieben. Er kümmerte sich nicht um das Gemaule, goss sich schnell sein Gefäß mit heißem Wasser voll, verbrannte sich beinahe die Hände, umschloss mit seinem Taschentuch den heißen Becher und versuchte so schnell wie möglich den lauten Raum wieder zu verlassen. Wenigstens hatte er jetzt seinen heißen Tee. Für das spätere Nachfüllen plante er ab und zu in der Küche nachzusehen, ob vielleicht irgendwann zwischen den Mahlzeiten weniger Betriebsamkeit herrschte, auch um seine Pellkartoffeln zu kochen. Er konnte sie ja später kalt essen. Auf dem Weg zurück erhaschte er noch einen schnellen Blick in den Gemeinschaftsraum der Familien. Er war schockiert. Die Kojen waren zwar etwas größer als die seine, aber offensichtlich für eine ganze Familie bestimmt. In einer balgten vier Halbwüchsige, die gute Gelegenheit wahrnehmend, dass gerade einmal die Eltern nicht da waren. Überall krochen die kleinen Kinder herum und schrien. Bis auf den Gang hinaus roch der Unrat. Da war ihre Junggesellenkammer ja noch die reinste Superabsteige.

Irgendwann am Tag tauchte der Quartiermeister auf. Er baute sich, mit den Armen in die Hüften gestützt, wichtigtuerisch im Mittelgang auf und verkündete mit lauter, alles übertönender Stimme: »Männer, alle mal herhören, ich sag’s nur einmal. Also, in diesem Raum keinen Alkohol, keinen Tabak, keine Karten, keine Würfel. Es ist verboten eure Kleider zu waschen und hier im Raum zum Trocknen aufzuhängen. Keine Waffen, wer welche hat, abgeben. Er bekommt sie bei der Ankunft wieder zurück. Einer meiner Leute wird nachprüfen, dass meine Anordnungen befolgt werden, sonst .....« Er ließ offen, was er mit „sonst“ vorhatte.

»Ich erwarte, dass jeden zweiten Tag euer Boden mit Wasser und Seife von euch gesäubert wird. Teilt euch selbst dafür ein. Das gilt auch für die Toiletten und den Waschraum. Fragt nach Eimern und Putzzeug.«

Er war auf dem Weg nach oben, als er sich noch einmal umdrehte. »Ach ja, wir haben eure Kojen alle vor dem Ablegen von einem Kammerjäger säubern lassen. Wir sind ein reinliches und komfortables Schiff. Sollte es Läuse oder Wanzen geben, sind die von euch, dann habt ihr das mit euch selbst auszumachen. Findet den Übeltäter. Und da wäre noch etwas ganz Wichtiges. Vor einigen Wochen war auf einem anderen Postdampfer mitten auf dem Atlantik Cholera ausgebrochen. Ich kann euch versichern, das war eine verdammt schlimme Seuche, eine furchtbare Krankheit. Ihr müsst unbedingt melden, wenn einer von euch nicht mehr von der Latrine weg kommt und kotzt. Das hat nichts mit Seekrankheit zu tun. Also alles Auffällige sofort an den Kapitän!«

Er sprach nur Deutsch, unverkennbar mit hamburgischem Akzent. Es war wohl für ihn selbstverständlich, dass jeder an Bord seine Sprache verstand. Dabei waren alle europäischen Nationen vertreten; na ja, so ziemlich alle im Einzugsbereich der Deutschen Lloyd. Neben den Deutschen waren es vor allem Skandinavier, Polen und Tschechen, neben ein paar Schweizern, die sich der deutschen Schifffahrt anvertrauten. Natürlich waren da auch noch die Franzosen, die in Le Havre zugestiegen waren.

Schon in der Nacht wachte Cornelius auf. Das Schiff rollte bedenklich. Instinktiv hielten seine Hände links und rechts die Matratze umklammert. Er verkroch und presste sich in die weiche Mulde und fühlte sich plötzlich in seinem, wie er noch vor kurzem dachte sehr eigenartigen Bett sicher und geborgen. In der Dunkelheit wirkte das Ganze noch bedrohlicher. Um ihn herum hörte er Stöhnen und Jammern. Ein unerträglicher Gestank verbreitete sich im Raum. Er konnte sich denken, woher der kam, was die Lage auch nicht angenehmer machte. Ihm war zwar auch nicht besonders wohl, aber doch einigermaßen befindlich, denn viel hatte er seit dem letzten Tag nicht in den Gedärmen, außer etwas Brot, einem Apfel, Tee und viel Wasser, das es umsonst gab.

Die See hatte sich am nächsten Tag einigermaßen beruhigt, aber die meisten blieben in ihren Kojen, umgeben von ihrer nächtlichen 'Orgie'. Die es am übelsten getroffen hatte, waren so apathisch, dass sie das Desaster um sich herum kaum wahrnahmen. Die Übrigen hatten um so mehr darunter zu leiden.

Ein Matrose schaute in den Raum und stellte zwei große Eimer Sägespäne an die Tür. »Stinkt ja fürchterlich hier! Da, verteilt das Holzmehl auf dem Boden und in euren Kojen. Das saugt alles auf und ihr könnt es danach zusammenfegen. Ist ein probates Mittel, das könnt ihr mir glauben. Wenn ihr noch Kalk zum desinfizieren braucht und um den Gestank hier schneller weg zu bekommen, dann meldet euch.« Damit drehte er sich um und überließ sie ihrer Misere.

Am Heck des Schiffes gab es ein paar Meter, wo man ins Freie treten und frische Luft schnappen konnte. Von einem Promenadendeck war keine Rede. Aber man konnte dem Mief der Unterkunft für eine Weile entkommen und hoffen, dass irgendwann die großen Ventilatoren erfolgreich waren. Cornelius trat nach draußen und musste sich sofort an der Reling festklammern, so heftig blies der Wind. An den zwei Masten blähten sich die Segel, der Wind half Kohle zu sparen. Er atmete tief ein und aus und beobachtete die hohen Wellen, die sich im Kielwasser hinter dem Schiff aufbäumten. Unbemerkt war jemand hinter ihn getreten und legte den Arm um seine Schultern. Eine solche Vertrautheit war Cornelius nicht gewohnt. Es war Jakob. Er hatte einen Regenmantel an und eine ausladende Kappe fest über die Ohren auf den Kopf gezogen. Er war besser für das Wetter gerüstet als Cornelius, der sich zitternd gegen den Wind stemmte.

»Du solltest lieber wieder hereinkommen, du kriegst noch eine Lungenentzündung. Hast du nichts Wärmeres dabei?« Cornelius war noch immer nicht bereit seinem neuen Bekannten zu eröffnen, dass er eigentlich auf dem Weg in die Tropen war und überhaupt nicht in Erwägung gezogen hatte, dass es zwischen Abreise und Ankunft auch brachial kalt werden konnte.

»Komm, lass uns in die Kantine gehen, vielleicht finden wir Platz auf einer Bank. Ich glaube, im Augenblick sind nicht zu viele Leute unterwegs. Die meisten sind seekrank. Es wird kaum jemandem der Kopf danach stehen, sich den Bauch vollzuschlagen. Du kannst deinen Tee trinken und ich warmes Wasser. Wenn ich nur meine Schwester auch zu uns bitten könnte, aber man lässt mich nicht zu ihr durch.«

Ein Topf mit noch heißem Wasser stand tatsächlich auf dem bereits erloschenen Herd. Cornelius teilte selbstverständlich seinen Teeaufguss mit Jakob. Jemand hatte ein paar Stückchen Zwieback auf dem Tisch liegen lassen, den sie sich großzügig einverleibten. Jakob schien die raue See auch nichts anzuhaben.

Cornelius fand es an der Zeit und eine gute Gelegenheit, mit seinem Kojen-über-den-Gang-Nachbarn etwas zu schwatzen. »Also du bist Gärtner? Ein echt guter Beruf, da wirst du auch in Amerika nicht ohne Arbeit sein.« Jakobs sonst etwas traurige Augen leuchteten richtig und er nickte heftig mit dem Kopf.

»Genau das haben meine Schwester und ich uns bei dem Entschluss Leipzig zu verlassen, auch gesagt. Und du kannst mir glauben, wir haben uns das lange überlegt, war ganz und gar keine leichte Entscheidung. Aber ich glaube, in Amerika weht ein frischerer Wind als im alten Europa mit seinem Standesdünkel und den vielen Vorschriften. Sophie, was meine Schwester ist, war Lehrerin an einer städtischen Volksschule, und ich war auch bei der Stadt im Brot. Mein Leipzig ist ja in den letzten Jahren im Reich so richtig durch seine Kleingärten berühmt geworden. Sogar Ihre Königliche Hoheit, die Kronprinzessin besuchte uns. Davon hast du bestimmt gehört, oder?«

Deutschland verwandelte sich nach dem Krieg zwischen Frankreich und Preußen im neu gegründeten Deutschen Reich rasch von einem armen Bauernstaat in eine Industrielandschaft. Statt bitterer, überall verbreiteter Armut, setzte allmählich ein gewisser Wohlstand ein. Viele Menschen waren vom Land in die Städte gezogen und suchten nach Arbeit. Große Wohnghettos entstanden ohne Freiräume für die Kinder, ohne Grün. Man sehnte sich nach Platz, Licht und Luft, gewohnt, von wo man herkam. Ein Dr. Schreber setzte sich bei der Stadt Leipzig für den Bau von Spielplätzen nahe den Behausungen ein, die rasch zu Refugien, nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Eltern wurden, raus aus ihren tristen Wohnungen. Um die Spielplätze konnten die Kinder Beete mit Gemüsepflanzen anlegen, daraus wurden Beete von den Eltern, was sich allmählich in kleine Gartenanlagen mit Lauben entwickelte. Die Stadt erkannte schnell die Annehmlichkeiten, die ein gehegter Garten mit sich brachte und begann sich darum zu kümmern, dass Kleingartenvereine gegründet wurden. Unerwartet wuchs aus Spielplätzen willkommener, zusätzlicher materieller Nutzen durch die Ernte von Obst und Gemüse für den eigenen Haushalt. Die Lust auf Natur und das Familienleben wurde gefördert. Es entstand so ganz nebenbei ein neuer staatstragender Zusammenhalt.

Viele Amateurgärtner suchten nach Anleitung, damit die Pflänzchen auch richtig wuchsen. Stadtverwaltung und Kleingartenverein fanden in Jakob Jung den richtigen Idealisten, den Enthusiasten, der mit großer Hingabe und Geduld den Freizeitwerklern das Gärtnern beibrachte.

Cornelius musste Jakob eingestehen, dass er von diesem neuen Zeitgeist in Leipzig nichts mitbekommen hatte. Er wuchs in einer Straße auf, nicht gesäumt von Bäumen, sondern von Reihenhäusern, deren Wohnungen seine Stadt, den kinderreiche Familien für billige Miete zur Verfügung stellte. Da war kein Raum für einen Spielplatz oder Gärtchen vorm Haus. Welch ein Traum! Seine Familie hätte sich in einem solchen Umfeld ganz anders entwickelt.

»Jakob, du hast also auch so einen Kleingarten gehabt, du Glücklicher?«

»Nein, nein, Cornelius, ich habe den Leuten geholfen, wie man am besten einen Garten anlegt und bewirtschaftet. Dazu gehörte auch sie zu lehren, wie man Pflänzlein anziehen und pflegen soll, welche Pflanzenorgane zum guten Wachsen und Gedeihen wichtig sind, ich meine die Aufgabe der Wurzeln, des Stängels oder des Stamms, der Blätter, der Blüten und der Samen.«

»Nimm die Blätter, die bilden im Einklang mit den Wurzeln die hauptsächlichsten Ernährungsorgane der Pflanzen. Sie sind die Lunge und der Magen der Pflanze, denn durch die Poren an den Blättern wird im Sonnen-licht die für uns giftige Kohlensäure eingesaugt, welche in den Zellen der Pflanze in Kohlenstoff und Sauerstoff zersetzt wird. Der Kohlenstoff wird gespeichert, den Sauerstoff haucht die Pflanze zum größten Teil wieder durch die Blätter aus. Das Blatt ist also Atmungsorgan der Pflanze, die ebenso gut wie wir Menschen, zur Atmung des Sauerstoffes bedarf, der aus der Luft aufgenommen, im Blattinnern teilweise mit dem Kohlenstoff verbrennt und als Kohlensäure im Schattendunkel ausgeschieden wird. Die Blätter nehmen auch noch andere Gase und wässerige Düfte auf und lassen das überschüssige Wasser entweichen.«

»Stopp, stopp, Jakob, das war für mich zu viel auf einmal. Das weißt du alles? Da bist du ja ein richtiger Botaniker!«

»Also, ich will nicht unbescheiden sein, aber ich möchte anmerken, dass ich da noch eins drauf setzten kann. Ich bin mehr als nur ein studierter Pflanzenheini, denn ich weiß auch, wie Pflanzen kultiviert werden, welchen Boden und welche Nahrung sie brauchen, wie man sie gesund erhält und welche Arten sich am besten vertragen und zusammengepflanzt werden.«

»Das ist wirklich faszinierend und bei alledem lebst du als Gärtner noch in der Natur mit den Vögeln und den Schmetterlingen.«

»Ja, Cornelius, aber bei aller Romantik, die du da gerade verbreitest, vergiss bitte das schlechte Wetter nicht, das wir doch recht häufig in unserem geliebten Deutschland haben. Und das Bücken, da ist mir so manches Mal das Kreuz abgebrochen.«

»Du hast Recht, Jakob, ich habe in Gedanken nur die schönen Blumen und den großen Gärtnerhut gesehen. Das alles ist sehr weit weg von mir. Ich bin in meinem jungen Leben, und auch noch heute, immer ein Stubenhocker gewesen. Aber du solltest mit deinem Wissen ein Buch darüber schreiben, oder hast du das schon? Denk dir nur, du könntest mit einem Buch so viel mehr Menschen mit deinem Wissen erreichen und beglücken, als nur die paar Leute, mit denen du dich im Kleingartenverein abgegeben hast.«

Jakobs Augen waren wieder melancholisch geworden. Er hatte seine linke Faust in seine rechte Handfläche gelegt und presste einen Finger nach dem anderen, bis es laut knackte. Er konnte das prächtig, Cornelius aber bereitete es Unbehagen und machte ihn nervös. Jakob schien das aber zu helfen beim heftigen Nachdenken.

»Nein, Cornelius,« erwiderte er endlich zögerlich und mit leiser Stimme, die gar nicht mehr so euphorisch klang, wie noch vor einem kurzen Augenblick. »Nein, ich bin eher ein praktischer Mensch, könnte mir nicht vorstellen lange mit einem Griffel in der Hand herumzusitzen. Da ist mir der Spaten und ein Schweißtuch doch lieber.«

Cornelius streckte impulsiv seine Hand über den Tisch, presste Jakobs Arm verständnisvoll und nickte. »Kann ich mir vorstellen, jeder soll das machen, was er am besten zu können glaubt und was einem Spaß macht. Ohne Spaß sollte man erst gar nichts anfangen.« Im selben Augenblick, wo er diese, ach so lebenskluge Floskel von sich gab, da wurde ihm klar, wie seine eigene, noch nicht einmal begonnene Lage, unweigerlich enden würde. Er hatte sich selbst mit seiner Bewerbung ad absurdum geführt, wusste aber keine Lösung für den Konflikt, in den er sich mit seinem Entschluss nach Panama aufzubrechen, gebracht hatte.

Ihre Umgebung wurde lebhafter, andere kamen in die Küche und setzten sich mit gefüllten Blechnäpfen um den Tisch. Die Erholung nach der rauen See hatte also eingesetzt. Ein Blick in die Schüsseln und eine Nase voll des Odeurs genügte, um ihnen den Appetit vergehen zu lassen. In der Kantine konnten sich Passagiere des Zwischendecks für ein paar Groschen ein warmes Abendessen kaufen. Heute gab es ein grau-grünes Gestampftes – dem penetranten, angebrannten Geruch nach war es wohl Kohl – offensichtlich zu Tode gekocht, in dem ein Stück sehr fetter Schweinebauch eingebettet lag. Im Aufstehen überhörten beide, wie einige sich darüber beschwerten, dass das Gepökelte furchtbar salzig sei.

Ziemlich angewidert von diesem kulinarischen Angebot verließen sie schwankend die Kombüse zurück zu ihren Kojen; Seegang hatte wieder eingesetzt, das Schiff rollte stetig.

»Komm Cornelius, ich hab noch eine schöne, große Gurke, die teilen wir uns, bevor sie verdirbt. Ist nun schon eine Woche alt, aber ich hatte sie ganz frisch geerntet.«

»Und ich habe für uns noch Brot und Schmalz und sogar Salz dafür.«

Die beiden hatten sich so richtig daran gewöhnt ihre Vorräte zu teilen. Ganz nebenbei machte es auch Spaß gemeinsam zu essen, auch wenn es nicht gerade viel und abwechslungsreich war.

In ihrer Kajüte hatten sich tatsächlich einige nützlich gemacht und auf den Gängen das Sägemehl ausgestreut. Der Mief war ziemlich verflogen, aber die Kabine glich nun mehr einem Stall. Cornelius versuchte seine Schuhe so vorsichtig es ging von den Füßen zu streifen, um die Streu nicht auch noch auf seiner Matratze auszubreiten. Er wollte ja seine Koje nicht in einen Pferch verwandeln. Neugierig beäugte er das Bändchen, in dem Jakob blätterte. Mehrere rot gebundene Büchlein lagen um ihn verstreut.

»Was liest du denn da, Jakob?«

»Hier, nimm dir ein Buch, das ist 'Die Gartenlaube', da ist richtig kurzweilige Lektüre drin. Die Zeitschrift wird in meiner Heimatstadt aufgelegt. Habe mich damit reichlich vor meiner Abreise eingedeckt. Ist ja auch hübsch handlich, oder? Da hatten mehrere Jahrgänge in meinen Rucksack gepasst. Ich denke, die Geschichten werden in der Neuen Welt für ein wenig Heimat sorgen.«

Die Gartenlaube, Illustrirtes Familienblatt’, erschien bereits 1853 zum ersten Mal und war inzwischen so populär, dass es in Millionen deutschen Familien, in Bibliotheken und in Cafés eifrig gelesen wurde. Cornelius kannte natürlich den Namen, hatte aber noch nie eine in der Hand gehabt. Jakob reichte ihm den Band von 1886, indem Cornelius nun blätterte.

»Hör dir das an, Jakob, da bietet einer ein „Handbuch über Produktion und Konsum“ an und schreibt einen Artikel über „Das wirthschaftliche Leben der Völker“. Er behauptet, in seinen vielen überseeischen Reisen genug Erfahrung zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit sämtlicher Kulturvölker gesammelt zu haben. Dieses Wissen bietet er nun als Leitfaden deutschen Kaufleuten und Industriellen an. Sie sollen damit in ihrer Entscheidung befähigt werden, in welchem Land sie die besten und fleißigsten Arbeiter für ihr Geld finden. Das ist doch ein starkes Stück. Der wagt sich meines Erachtens sehr weit vor.«

»Mensch, Cornelius, du bist vielleicht eine Type, für was du dich alles interessierst, daran hätte ich beim Lesen dieses Artikels nie gedacht, wenn ich ihn überhaupt beachtet hätte. Sag endlich, warum gehst du nach Amerika?«

Da war sie schon wieder, die Frage, die er sich nicht einmal selbst so recht beantworten konnte, und nun von jemand anderem hörte. Ungewollt stieg Cornelius das Blut ins Gesicht. »Geh ich gar nicht, Jakob,« quetschte er zwischen beinahe geschlossenem Mund hervor, »ich bin auf dem Weg nach Panama.«

»Nach Panama? Wo liegt denn das? Da brat mir einer einen Maulwurf. Damit kann ich nichts anfangen. Cornelius, jetzt heraus damit, das musst du mir schon erklären.«

»Also gut, Panama ist ziemlich weit weg von den Vereinigten Staaten von Amerika, viel weiter im Süden, da wo schon die Kokospalmen wachsen. Den Baum kenn ich zwar nicht, du aber bestimmt aus dem botanischen Garten, oder? Ich muss in New York das Schiff wechseln und entlang der Ostküste gen Süden schippern. Keine Ahnung, wie lange. Jakob, ich sag dir die Wahrheit, ich werde in Panama Priester.«

»Was? du siehst aber gar nicht wie ein Pfaffe aus und du benimmst dich auch nicht wie einer!«

»Wie benimmt sich denn ein Pfaffe, Jakob?« fragte Cornelius total gereizt.

»Na ja, ich bin lutherisch, in Leipzig haben wir nicht allzu viele Katholische. Unsere Pastoren sind ziemlich liberal. Einige sind sogar Mitglied in meinem Ortsverein der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Will nicht ablenken, aber weißt du, dass die Partei in Leipzig gegründet worden ist? Meine Stadt ist schon immer eine richtige Kulturhochburg gewesen. Ach, das ist nun alles vorbei. In Amerika, habe ich gehört, haben sie für eine so wohltätige Arbeiterorganisation überhaupt nichts am Hut. Aber du hast gefragt, wie ich mir einen katholischen Pfarrer vorstelle? Bin da nicht wirklich Experte, aber habt Ihr nicht so ein Buch, Brevier nennt sich das, glaube ich? Hab dich in all den Tagen auf dem Schiff hier nicht ein einziges Mal darin lesen gesehen. Ihr tragt das doch immer mit euch herum, werft mit frommen Sprüchen nur so um euch, ob man sie nun hören will oder nicht, damit man sieht, wie fromm ihr seid.«

Jakob hatte Cornelius mit seinen treuen Augen von unten herauf angeschaut, so, als wollte er einschätzen, ob er sich da auch wirklich nicht verhört hatte, oder sich mit seinem offenherzigen Kommentar zu viel herausnahm.

Cornelius presste die Lippen fest zusammen und schloss die Augen für einen Moment, um nicht wütend herauszuplatzen. Was hatte er mit seiner Offenbarung auch anderes erwartet? Nun war es also heraus. Er wusste auch nicht, weshalb er das Jakob gesagt hatte. Freilich, er brauchte daraus kein Geheimnis zu machen oder sich dafür zu schämen. Aber es fuchste ihn doch, was sich die Leute so unter einem Geistlichen vorstellten.

»Zuerst einmal, Jakob, bin ich noch gar kein Priester, ich geh ja dort hin, um die Priesterweihe zu bekommen. Und das versichere ich dir, so wie du gerade eben einen Pfaffen, wie du einen Geistlichen genannt hast, dieser Ausdruck gefällt mir übrigens überhaupt nicht, das ist für mich ein Schimpfwort, also wie du dir einen Priester vorstellst, so will ich überhaupt nicht werden. Niemals! Niemals!«

Für einen kurzen Augenblick sah es beinahe so aus, als ob es zu einem Wortgefecht zwischen den beiden kommen könnte, aber ein Blick in Jakobs betroffenes, schuldbewusstes Gesicht mit dem offenen Lächeln um die Lippen ließ keinen Streit aufkommen. Jakob nickte nur und Cornelius ergriff über den Korridor mit einem festen Händedruck die ausgestreckte Hand. Sie vertieften sich beide wieder in ihre Lektüre.

Das Rütteln und Stampfen des Schiffes, an das sich die beiden jungen Männer, direkt über der Maschine, während der letzten Tage allmählich gewöhnt hatten, war unverändert, und doch legte sich auf die Insassen mehr und mehr eine unmerkliche, nicht erklärbare Spannung in der fensterlosen Kabine, als wenn sie auf etwas warteten. Vielleicht spürten oder hörten sie die Unruhe auf den Oberdecks, wo die Passagiere einen Ausblick bis zum Horizont hatten. Das einzige, winzige Areal mit Tageslicht war für die Menschen im Zwischendeck draußen am Schiffsheck, nicht besonders einladend zum Verweilen im ewig kalten Wind. Und sowieso, was war da schon viel zu erwarten, außer Wasser und Wellen. Nun aber platzte die Hiobsbotschaft mit der lauten Stimme eines älteren, untersetzten Matrosen in ziemlich schmutziger Arbeitskleidung in ihr Einerlei.

»Leute, in sechs Stunden legen wir in Hoboken am Pier 3 an. Ihr habt dann noch weitere drei Stunden um euer Gepäck im Stauraum zu holen und klar Schiff zu machen. Ihr könnt aber erst in den Stauraum, wenn wir angelegt haben. Das wird durch sechs lange Sirenentöne vom Kapitän bekannt gegeben, die ihr sogar hier unten hört. Dann ist die Reise für euch zu Ende. Wenn ihr New York sehen wollt, dann geht so in vier Stunden von jetzt nach draußen. Ihr solltet am Hafeneingang die Freiheitsstatue nicht verpassen, sie ist das neue Wahrzeichen der Stadt und eurer zukünftigen Heimat.«

Er war ein anständiger Kerl und wünschte ihnen viel Glück für die Zukunft. Hatte er doch über die Jahre schon viele Auswanderer über den Atlantik geschleust und wusste, wie nötig sie ein wenig Fortune brauchten.

Wie weit diese Ankündigung nun Freude, Erleichterung oder vielleicht sogar ein klein wenig bange Ahnung auf Ungewisses bei den Wartenden verursachte, war nicht ganz klar. Auf alle Fälle herrschte plötzlich ziemlicher Tumult, dabei war doch noch reichlich Zeit bis zum Aufbruch und viel zu packen hatte niemand. Sie würden demnach nicht im großen Hafen von New York an Land gehen, sondern im Hudson-Fluss weiter aufwärts einlaufen, wo Hoboken am linken Ufer lag. Viele deutsche Reedereien hatten dort, weg vom großen Trubel der ankommenden Immigranten, ihre eigene Abfertigung für ankommende und abreisende Passagiere, und vor allem viel mehr Platz zum Be- und Entladen von Frachtgut. Diese Anlandung, weg vom umtriebigen New Yorker Haupthafen nahm eine ganze Menge Hektik von den Passagieren und der Besatzung. Viele andere Reedereien beneideten die Deutschen um dieses Privileg. Hoboken hatte sich über die letzten zehn Jahre in ein Klein-Deutschland gemausert mit Fabriken, vielen Handwerksbetrieben, mehreren Faktoreien, zwei Bierhäusern und nicht zu zählenden Tavernen für Einheimische, Passagiere und Seeleute. Auch drei kleine und zwei große, luxuriöse Hotels zierten die Stadt, daneben gab es genügend einfache Quartiere für die Ankömmlinge, die sparen mussten, bis es weiter ging. Die schnelle Entwicklung und die Ordnung verdankte die Stadt denen, die sich ganz einfach hier niedergelassen hatten und nicht mehr fort wollten.

Da Cornelius nur Handgepäck hatte, war er einer der ersten aus dem Zwischendeck, der schnell von Bord kam und sich gleich hinter den Passagieren der ersten und zweiten Klasse einreihen durfte. Bevor er sich von Jakob trennte, der seine Schwester und dann im Stauraum sein Gepäck suchen musste, hatten sie sich gegenseitig versprochen in Verbindung zu bleiben. Cornelius gab Jakob als Kontaktadresse das Sekretariat des Bischofs von Panama, bis er und seine Schwester, die er immer noch nicht gesehen hatte, eine neue Heimat gefunden hatten. Er ging fest davon aus, dass der Bischof bestimmt immer seinen Aufenthalt wissen würde.

Nun hatte sich Cornelius erst einmal geduldig in die lange Schlange der Wartenden vor der Einwanderungsbehörde aufzustellen, wo Beamte die Personalien eines jeden handschriftlich in lange Passagierlisten eintrugen. Die Prozedur dauerte durch die ungewohnt klingenden Namen viel länger als notwendig. Dieses Verständigungsproblem war für alle der erste Vorgeschmack auf das Zukünftige in der fremden, neuen Heimat von Amerika. Auch Cornelius konnte zu diesem Zeitpunkt kaum ein Wort Englisch. Ein Glück, dass während der Überfahrt keine Seuche auf dem Schiff ausgebrochen war. Das ersparte die peinliche Fragerei, gar die Untersuchungen des Gesundheitsamtes. Den Zoll brauchte Cornelius nicht zu passieren, da er als sein Bestimmungsland Panama angegeben hatte, somit gleich in ein Durchgangslager eingewiesen wurde, wo er bis zu seiner Weiterreise zu bleiben hatte. Das war ihm nicht unlieb, denn das Zimmerchen, das er für ein paar Dollar mieten konnte, war zwar spärlich eingerichtet, hatte aber ein Bett, eine Wasch-kommode, ein paar Kleiderhaken, einen kleinen Tisch mit Stuhl und sogar einen, schon ein wenig blinden Spiegel an der Wand. Er war entsetzt, als er da hineinschaute. Ein ungewaschenes und unrasiertes Gesicht mit einem wilden Haarschopf starrte ihm da entgegen. So hatte man ihn tatsächlich ins Land gelassen?! Er musste seine Kleidung wechseln, sich endlich waschen und wenigstens Unterwäsche und Hemd und Kragen wechseln. Auf dem Schiff kam mit kaltem, salzigen Seewasser nur die Zahnbürste in die Nähe seines Gesichts. Endlich auch mal wieder ohne Anzug in einem Bett schlafen und ungestört in einem eigenen Zimmer sein, ohne so viele Menschen um sich herum haben zu müssen.

Das eingezäunte Transitgelände war ziemlich weitläufig, er fühlte sich ganz und gar nicht eingesperrt. Die frühsommerlichen Temperaturen in dieser Jahreszeit an der Ostküste waren angenehmer als in Lille und lockten raus, nach den engen, erbärmlichen Verhältnissen im Schiff. Er verspürte einen ungeahnten Tatendrang. Mit dem Reisegeld des Bischofs besuchte er ein Badehaus, vertraute einem Friseur Haare und Bart an und wagte sich sogar in eine Taverne für eine warme Mahlzeit. Ein so saftiges Steak mit Bratkartoffeln und zarten Möhren existierte nicht einmal in seinen Träumen. So etwas Feines hatte er noch nie gegessen. Ihm drehten sich noch immer die Gedärme um, wenn er sich in Gedanken die Menschen auf dem Schiff bei Salzheringen und fettem Pökelfleisch vorstellte. Im Quartier gab es auch einen kleinen aber gut bestückten Kolonialwarenladen, die Besitzer waren ein deutsches Ehepaar. Sie schickten ihn zu einer Schiffsagentur am Platz um seine Weiterreise zu regeln. Ein Wechsel des Bischofs, den er mit sich führte, war für die Schiffspassage von New York nach Colón ausgestellt und garantierte die Bezahlung direkt bei Ankunft in Panama. Eine solche Regelung war ungewöhnlich, aber mit dem bischöflichen Siegel akzeptabel.

Die Zeit des Wartens verstrich zu schnell. Er hatte sich in den letzten Tagen als Stammgast in der Taverne so richtig wohl gefühlt, wo er sich einmal am Tag zum reichhaltigen und schmackhaften Mittagessen einfand. Es gab genügend Muße für kleine Spaziergänge im warmen Sonnenschein ums Quadrat und er hatte ausreichend Zeit über seine Zukunft nachzudenken, die er nach alledem für gar nicht so übel hielt. Er erwartete eine sichere Stellung und ein geregeltes Auskommen. Alles andere musste sich finden. Bestimmt würde er irgendwann Lust verspüren, dem Vater zu schreiben, nachdem er letztendlich dessen Willen gefolgt war. Ganz fest nahm er sich vor, schnellstmöglich Caspar zu sich zu rufen. Dafür wollte er eisern sparen.

Wie ein Dornenbusch

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