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Christen und Moslems –Toleranz der Konfessionen?

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Das vorchristlich-archaisch-orientalische Fundament von Christentum und Islam wird allerdings sehr deutlich in der wohl keltisch geprägten Parzivalsgeschichte des Dichters Wolfram von Eschenbach gelegt. Wolfram, vor 1200 geboren, nach 1217 gestorben und in der Deutschordenspfarrkirche von Wolframs-Eschenbach begraben (durch verschiedene Umbaumaßnahmen seit dem 17. Jahrhundert soll sein Grab verloren gegangen sein), stammt aus einer leider nur bis ins 16. Jahrhundert nachweisbaren Ministerialenfamilie. Die exakten geographischen Beschreibungen französischer Orte in seinen drei Epen Willehalm (blieb ein Fragment), Titurel und Parsifal erwecken den Eindruck, als ob er in den fränkischen Landen, deren Hauptteil ja damals Frankreich ausmachte, viel herumgekommen und dabei auch persönlich mit Moslems in Kontakt gekommen ist. Vielleicht hat der 1190 in Palästina gegründete Deutsche Ritterorden, der durch die Schenkung der Kirche „mit allen Pertinenzien“ durch Graf Boppo II. von Wertheim um 1212/1220 erstmals in Eschenbach Fuß fasste, seine Epen angeregt und sein dichterisches Schaffen unterstützt.131 Natürlich ist auch eine Unterstützung des Dichters durch den Templerorden, welcher in besonderem Maße ein westfränkischer Orden war, nicht auszuschließen. Nachweise dafür haben sich weder für die Deutschordensherren noch für die Templer erhalten.

Der fränkische Minnesänger schildert in seinem Epos „Willehalm“ auch die Auseinandersetzung zwischen den Franken und anderen Völkern, zu denen auch die iberischen Moslems gehören. Der Kampf zwischen den beiden feindlichen Brüdern Parzival und Feirefiz, der erste ein Christ, der zweite ein Moslem, steht modellhaft für die Rivalität von Christen und Muslimen im Mittelalter. Feirefiz Mutter war eine „schwarze Königin“ in Nordafrika. Parzival und Feirefiz waren die Söhne des Gahmurets von Anjou. Vorfahre von Gahmuret und Stammvater des Hauses Anjou soll ein gewisser Mazaran sein, ein semitischer Name. Noch heute ist Mazaran ein Vorort von Algier, der Hauptstadt von Algerien, Mazar eine größere Stadt in Afghanistan.


Abb. 5: Fotografie der Altstadt von Wolframs-Eschenbach durch Hermine Kaltenstadler am 12.10.2008, im Hintergrund die Pfarrkirche

Gahmurets beide Söhne hatten aber verschiedene Mütter und wuchsen nicht gemeinsam auf. Gahmuret stand in den Diensten des moslemischen Kalifen von Bagdad, im Kampf für seinen Freund und Kriegsherrn fand er auch von der Hand eines Sarazenen den Tod.132

Die erste Begegnung zwischen Parzival und Feirefiz erfolgte im Kampf und war eine feindliche. Dieses Aufeinandertreffen der beiden Halbbrüder kann ebenso wenig wie der Dienst eines christlichen Ritters für einen moslemischen Kriegsherrn ein bloßes Produkt der dichterischen Phantasie sein. Auch wenn die von Wolfram geschilderten Details Ausschmückungen des Dichters sein mögen, deuten diese Episoden darauf hin, dass es auch außerhalb des moslemischen Spaniens nicht nur feindliche Kontakte zwischen Moslems und Christen gegeben hat.133 Die Ehe zwischen dem Christen Willehalm und der hochgebildeten Arabel beweist das.134 Für die Figur des Willehalm bei Wolfram v. Eschenbach hat wohl der heilige Wilhelm, ein Graf von Toulouse (+ 812), Modell gestanden. Wilhelm der Heilige „war ein Verwandter Karls des Großen und eroberte das muslimische Barcelona, das zum Hauptort der spanischen Mark des Frankenreiches wurde.“135 Wilhelm von Aquitanien, wie er offiziell hieß, zog sich 806 in ein Kloster zurück und soll im Jahre 1066 offiziell heiliggesprochen worden sein. Karl der Große wurde dagegen wie viele andere ‘Heilige’, z.B. die „Heiligen Dreikönige“, nie heilig gesprochen.136

Der Wolfram’sche Willehalm, der „christliche Protagonist“, lernte Arabel als Kriegsgefangener in dem Lande „Arabi“ kennen, wo sie bereits mit dem heidnischen König Tybalt (der Name klingt eher germanisch) verheiratet war. Über die Liebe zu Willehalm findet sie den Weg zum Christentum und nimmt in der Taufe den Namen „Gyburc“ an:

„Willehalm besetzt Tybalts Land in der Provence und gründet dort seine Grafschaft Orange. Tybalt zieht daraufhin mit seinem Schwiegervater und einem riesigen heidnischen Heer gegen Willehalm in den Krieg. Was als Minnefehde um Gyburc beginnt, wächst sich im Verlauf der Handlung zu einem mächtigen Glaubenskrieg aus, in dem sich Gyburc mehrmals standhaft weigert, ihren neuen Glauben aufzugeben, und vehement ihre Religion und ihre Liebe zu Willehalm verteidigt.“137

Dieser Konflikt zwischen dem Christen Willehalm und dem Muslim Tybalt, dem ersten Ehemann von Arabel, spricht nicht für ein harmonisches Zusammenleben von Christen und Muslimen im frühen Mittelalter. Minnefehde und Glaubenskrieg sind in dieser Auseinandersetzung untrennbar miteinander verbunden. Die leider wenig bekannte „Toleranzrede“ der Arabel/Gyburc vor dem imaginären Fürstenrat macht deutlich, dass die Liebesgeschichte von Willehalm und Arabel entweder eine freie Erfindung des Dichters ist oder von ihm in einer sehr idealisierten die Realität überhöhenden Weise wiedergegeben wird. Historisch ist, zumindest nach Auffassung des Germanisten Werner Greub, dass der fränkische Gaufürst Willehalm zwei Schlachten gegen die Muslime in Südfrankreich mit Erfolg geschlagen hat. Ob allerdings die Arabel die oben schon erwähnte Toleranzrede vor einer Schlacht je gehalten hat und ob ihr Appell an die fränkischen Männer, „im Falle eines Sieges über die Heiden diese gnädig zu behandeln, da auch Heiden Geschöpfe Gottes seien“,138 jemals erfolgte, ist höchst unwahrscheinlich. Gerade diese wohl nicht historische Toleranzrede, in welcher eine konvertierte Christin um Schonung für die Muslime bittet, zeigt aber, dass die Idee der religiösen Toleranz im Mittelalter durchaus existierte, aber in der Zeit der „Reconquista“ und der Kreuzzüge, sowohl auf der christlichen als auch islamischen Seite, im Laufe des hohen Mittelalters immer mehr verloren ging.

Aus dieser Sicht der Dinge muss man das Happy End der feindlichen Brüder, des christlichen Parsifal und des muslimischen Feirefiz, in Wolframs Epos „Parsifal“ relativieren. Nachdem Parzival seine letzte Prüfung bestanden hatte und Mitglied der Tafelrunde von König Artus geworden war, wählte er seinen moslemischen Bruder zum Lebensgefährten im Dienste des Grals. Wie Arabel kam auch Feirefiz nicht darum herum, sich dem Christentum zuzuwenden. Verbrüderung und Konversion von Feirefiz gingen also Hand in Hand. In welcher Form diese Verbrüderung erfolgte, geht aus dem Epos von Wolfram von Eschenbach nicht hervor. Es wäre aber denkbar, dass der neue Bund zwischen den beiden Brüdern als Blutsverbrüderung geschlossen worden war. Diese Form des Lebensbundes war als prägendes Element der feudalistischen Clan-Gesellschaft ebenso wie die Blutrache auf dem Balkan und den griechischen Inseln noch bis ins 19. Jahrhundert hinein (in abgelegenen Regionen sogar noch heute) praktiziert worden.139 Blutrache und Blutsbruderschaft sind deutlich erkennbar Ausdruck einer archaischen Gesellschaft, in welcher noch heute auf dem Balkan die Ehre einen sehr hohen Stellenwert genießt.

Wolfram von Eschenbach schildert Feirefiz, den Moslem, als gleich edlen Charakter wie Parzival. „Offenkundig stellt er ihn, den Nichtchristen, ganz bewusst über die Mehrheit der christlichen Ritterschaft“140. Die Wiedervereinigung von Christentum und Islam, welche sich beide auf den Stammvater Abraham141 berufen, wird dann später auf geistig-ideeller Ebene durch den sagenhaften Priester Johannes von Jerusalem vollendet. Wolframs „König der Könige“ vereinigt „in seinem mit dem Paradies vergleichbaren Reich, in dem Christen und Muslime gleichermaßen vertreten sind, sowohl weltliche Macht als auch geistige Autorität und wird damit letztlich zum Symbol für den ‘Weltkönig’.“142 Mir scheint, dass der Dichter in dieser zentralen Botschaft der Parzivalsgeschichte mehr sah als eine zu Herzen gehende „Story“.143 Er hat wohl auch Moslems persönlich kennen gelernt und daran geglaubt, dass die Unterschiede zwischen Christen und Moslems nicht unüberwindlich waren. Diese Geschichte zeigt aber auch, dass in der Zeit des Dichters das alte vorchristliche Weltbild wohl nicht nur die christliche, sondern auch die islamische Kultur geprägt haben muss, so dass dogmatische Differenzen entweder kaum vorhanden waren oder nicht als unüberwindbar betrachtet wurden. Das verdeutlicht ja auch die Geschichte, dass nach dem Eindringen der Araber in Südspanien zu Beginn des 8. Jahrhunderts die Moschee von Granada mit ausdrücklicher Erlaubnis des Sultans 20 Jahre lang von Moslems und Christen als gemeinsames Gotteshaus genutzt wurde und der Sultan, nachdem dieses für beide Konfessionen zu klein geworden war, den (wohl arianischen) Christen reichlich Kapital und Unterstützung für den Bau einer eigenen christlichen Kirche zur Verfügung stellte.144

Die beiden einstmals feindlichen Brüder Parsifal und Feirefiz, die sich zum gemeinsamen Wirken die Hände reichen, verkörpern im Epos von Wolfram von Eschenbach im Grunde nicht nur zwei unterschiedliche Religionen, sondern auch den Okzident und den Orient, also die westliche und die östliche Kultur. Diese Verbrüderung der beiden steht für die mögliche Koexistenz in Toleranz, der Krieg zwischen Willehalm und Tybalt für die Konfrontation zwischen Christentum und Islam. Wolfram schildert in seinen beiden Epen „Willehalm“ und „Parsifal“ beide Wege und steht dem Islam erstaunlich positiv gegenüber. Eine solche Einstellung war wohl im 12. Jahrhundert, als Wolfram seine Epen verfasste, schon damals nicht mehr allgemein üblich.

Es gab also wohl im Hochmittelalter ein religiös-geistiges Klima, welches ein relativ friedliches harmonisches Zusammenleben zwischen Christen, Moslems und Juden – wie am Hofe des staufischen Kaisers Friedrich II. im Königreich Sizilien – möglich gemacht hätte. Die Leitung der katholischen Kirche war allerdings an einer Zusammenarbeit mit den Repräsentanten der Juden und Muslime nicht interessiert. Die Päpste machten den christlichen Herrschern, welche die Kultur der Muslime tolerierten und kriegerische Auseinandersetzungen mit ihnen vermieden, die Hölle weiß. Die freundschaftlichen Beziehungen von Kaiser Friedrich II. zum muslimischen Sultan al-Kamil und seine offen zur Schau getragene Vorliebe für arabisch-orientalische Lebensformen erschienen Papst Gregor IX. (Papst von 1227-1241) als so ungeheuerlich, dass er diesen nicht nur zweimal mit dem Kirchenbann belegte, sondern ihn öffentlich als Antichrist deklarierte.145 Sein Nachfolger Innozenz IV. (Papst 1243-1254) konnte sich rühmen, dass er „den Drachen Friedrich zu Boden streckte“.146 Weder Gregor IX. noch Innozenz IV. orientierte sich an den Prinzipien des Neuen Testamentes.

Es gab Tendenzen religiöser und geistiger Erstarrung nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch bei den Moslems, welche die zarten Ansätze religiöser Toleranz147, wie sie auf der iberisch-sephardischen Halbinsel für einige Jahrhunderte sichtbar geworden waren, wieder zum Ersticken brachten. Wolframs Welt- und Menschenbild war anders als die Machtpolitik des Hohen Mittelalters auch vom Islam geprägt und reichte weit über das katholische Weltbild hinaus.148 Doch diese große Idee des Mittelalters scheiterte vor allem am unseligen Machtstreben des Papsttums und einiger sog. christlicher Mächte, welche das Christentum für ihre Zwecke einspannten und missbrauchten. Der Fanatismus des römischen Papstes scheute nicht einmal davor zurück, ab 1250 alle (wirklichen und vermeintlichen) arabischen Spiele, auch das Schachspiel, zu verbieten. Dieses wohl nie wirklich durchgesetzte Verbot war vielleicht „eine Reaktion auf den Stauferkaiser Friedrich II., der nur zu interessiert war an arabischer Kunst und Wissenschaft.“149

Mit dem Antiislamismus und Antijudaismus nach innen, oft mehr Ideologie als Praxis, korrespondierte die Ablehnung der orthodoxen Christen durch die sog. westlichen Christen nach außen. Diese westliche Antiorthodoxie trieb vor allem während der Kreuzzüge besondere Blüten. So führte der 4. Kreuzzug (1202-1204) unter Leitung des venezianischen Dogen Dandolo zur Errichtung des sog. lateinischen Kaisertums im christlichorthodoxen Konstantinopel. Die Kreuzfahrer plünderten dabei die Stadt, vergewaltigten Frauen und verübten noch weitere Gewalttaten gegenüber den orthodoxen Christen. Die massiven Wirtschaftsinteressen der venezianischen Kaufleute und anderer europäischer Machte genossen höhere Priorität als christliche Ideen.

Eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen stellten die Malteserritter auf Rhodos und Malta dar, welche dort den Glauben der orthodoxen Christen, zumindest nachweisbar seit dem 14. Jahrhundert, tolerierten. Der maltesische Großmeister förderte die religiöse Eigenständigkeit der Orthodoxie sogar, „ohne aber eine gewisse Kontrolle aufzugeben.“ So verwundert es nicht, dass die orthodoxen Griechen „den Malteserorden als Protektor ansahen“. Die Toleranz des Ordens ersteckte sich auf Malta und Rhodos auch auf die Gerichtsgebräuche. Die Kreuzfahrer, welche auf der Insel Zypern Fuß fassten, hielten nicht so viel von Toleranz. Zeitweise verboten die Herren von Zypern sogar die orthodoxe Kirche, was immer wieder zu Erhebungen gegen die westlichen Gewaltherrscher führte. Diese westliche Herrschaft scheint als so drückend empfunden worden zu sein, dass die Zyprioten nach der Eroberung von Zypern durch die Osmanen zunächst die osmanische Herrschaft begrüßten, „unter der sie ihre Religion wieder frei ausüben durften.“150 Anders verhielten sich die Rhodier. Diese verließen bei der Invasion der Türken mit ihrem ehemaligen Landesherrn die Insel, „obgleich sich die Eroberer verpflichtet hatten, die Religionsfreiheit zu achten.“151 Die Malteser hatten nämlich dort ein sehr humanes Strafrecht praktiziert. Der Rechtshistoriker Barz weist ausdrücklich auf die „Milde im rhodischen Strafrecht“ und auf die Tatsache hin, dass die in der gerichtlichen Praxis gefällten Urteile übrigens auch in Mitteleuropa milder waren als die in den diversen Strafgesetzen festgelegten Normen. Als Beispiel diene die Gerichtspraxis in Ingelheim am Rhein im Spätmittelalter.152

Nicht nur den orthodoxen Christen, sondern auch den Moslems gegenüber verhielten sich die Kreuzritter nicht so, wie man es von Christen hätte erwarten können, welche auszogen, um durch die Kreuzzugsidee (angeblich) Gott zu dienen. Es gab allerdings auf ‘westlicher’ Seite wahrhaft fromme Christen, welche der Idee der Kreuzzüge sehr skeptisch gegenüberstanden. Dazu gehörte Gerhoh von Reichersberg, der Propst des Augustinerchorherrenstifts von Reichersberg am Inn. Er machte aus seiner Auffassung, dass der 2. Kreuzzug (1147-1149) – wie auch alle anderen Kreuzzüge – „von der Habsucht eingegeben“ war153, kein Hehl. Die Pervertierung der Kreuzzugsidee hatte beim 2. Kreuzzug noch lange nicht ihren ‘Höhepunkt’ erreicht.

Mit der aggressiven Politik der europäischen Staaten gegenüber den islamischen Staaten des Vorderen Orients im Rahmen der Kreuzzüge korrespondierte die Politik der spanischen Könige (Kastilien, Aragon etc.) auf der iberischen Halbinsel. Die tieferen Ursachen, die in Spanien zum Rückfall in religiöse Intoleranz gegenüber dem Islam führten, bleiben uns weitestgehend verborgen. Die Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen im Rahmen der Reconquista auf der iberischen Halbinsel war keine Auseinandersetzung zwischen den spanischen Königen und den Arabern, sondern zwischen den spanischen Königen und den nordafrikanischen Stämmen, vor allem den Berbern, wie Peter Altmann in seiner Frankfurter Magisterarbeit nachwies.154

Die Berber155, welche bei der islamischen Eroberung, Erschließung und Beherrschung von Iberien eine große Rolle spielten156, waren in Nordwestafrika, bevor der Islam kam, bis ins 8. Jahrhundert hinein Christen. Noch gibt es in Marokko nicht nur eine jüdische, sondern auch eine christliche Minderheit. Noch heute treten Muslime in Marokko geheim zum Christentum über. Im Gegensatz zum sephardischen Judentum in Marokko wird aber die „unsichtbare Kirche“ nicht offiziell vom Staat anerkannt, sondern nur toleriert.157 Das spricht nicht gerade dafür, dass der Islam wirklich so attraktiv war, wie er selbst von europäischen Universitätswissenschaftlern, nicht zuletzt für den osmanischen Balkan, gerne dargestellt wird.

Angesichts der großen Attraktivität des Islams für viele Christen auf dem Balkan, auf welche der französische Historiker Fernand Braudel158 verweist, wundert man sich über die negative Bewertung des Islam in dem Dialog, den der byzantinische Kaiser Manuel II. Paläologos im Jahre 1391 mit einem gebildeten Perser über Christentum und Islam geführt haben soll. Papst Benedikt XVI. hat diesen christlich-islamischen Dialog in seiner berühmten Regensburger Vorlesung im September 2006 erörtert, dabei aber auch die Einseitigkeit des Standpunktes des orthodoxen byzantinischen Kaisers ziemlich unreflektiert im Raum stehen lassen. Diese Vorlesung des Papstes ist von so zentraler Bedeutung für die künftige Perspektive einer europäischen Kultur, dass die den christlich-islamischen Dialog betreffenden Aussagen hier wörtlich wiedergegeben werden:

„In der von Khoury herausgegebenen siebten Gesprächsrunde159 kommt der Kaiser auf den Dschihad, den Heiligen Krieg160, zu sprechen. Dieser wusste sicher, dass in Sure 2,256 steht: Kein Zwang in Glaubenssachen – es ist eine der frühen Suren aus der Zeit, in der Mohammed selbst noch machtlos und bedroht war. Aber der Kaiser kannte natürlich auch die im Koran niedergelegten – später entstandenen – Bestimmungen über den heiligen Krieg bei den Moslems. Ohne sich auf Einzelheiten wie die unterschiedliche Behandlung von ‘Schriftbesitzern’ und ‘Ungläubigen’ einzulassen, wendet er sich in erstaunlich schroffer Form ganz einfach mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt überhaupt an seinen Gesprächspartner. Er sagt: ‘Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, daß er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.’161 Der Kaiser begründet dann eingehend, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. ‘Gott hat kein Gefallen am Blut, und nicht vernunftgemäß zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung… Um eine vernünftige Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tod bedrohen kann’.“162

Mit den Aussagen seiner oben zitierten Regensburger Vorlesung ging es Papst Benedikt XVI. vor allem darum, zu zeigen, dass die christliche Lehre im Einklang stehe mit den Idealen der griechischen Philosophie und dem daraus abgeleiteten Logos, den er – mit deutlicher Anspielung auf die europäische Aufklärung – mit dem Wort „Vernunft“ wiedergibt. Die Aussagen von Kaiser Manuel II. (und die Argumentation von Papst Benedikt XVI.) erweisen sich jedoch als einseitig, wenn man die militante Praxis vor allem der westlichen Christen (Kreuzzüge) verkennt und die nachfolgende Stellungnahme des Moslems Mudarris, des Gesprächspartners von Kaiser Manuel, unbeachtet lässt. Mudarris ist kein Feind des Christentums, er gibt sogar zu, dass „das Gesetz Christi schön und gut und viel besser ist als das alte Gesetz“ [des Alten Testamentes]. Er lässt aber keinen Zweifel daran, „dass mein Gesetz [des Islam] den beiden anderen überlegen ist.“ Das Gesetz des Mahomet (Mohammed) stellt für ihn einen Mittelweg dar, der „realisierbare Vorschriften“ garantiere. Das islamische Gesetz sei „in allen Punkten gemäßigt und schaltet die anderen Gesetze aus“163, mache sie also überflüssig, da es den Gegebenheiten der menschlichen Natur mehr Rechnung trage als die Gesetze des Alten und Neuen Testamentes. Mudarris erläutert diesen islamischen Mittelweg an konkreten Beispielen, z.B. in einer Stellungnahme zur christlichen Feindesliebe.

Im Gegensatz zum Islam verwundert die starke Fundierung des von Kaiser Manuel II. vertretenen Christentums auf den Säulen der antiken griechischhellenistischen Philosophie. Weitgehend unerwähnt bleibt sowohl bei ihm als auch bei Benedikt XVI. die alttestamentarisch-jüdische Basis, ein Sachverhalt, der noch zu hinterfragen wäre, hier jedoch sekundär ist. Besonders hervorhebenswert an der Rede von Papst Benedikt XVI. sind für mich die Einseitigkeit der Betrachtungsweise und die Nichtberücksichtigung byzantinischer (und selbst westlicher) Quellen, welche sich positiv zum Islam äußern. In diesem Zusammenhang hätte nicht unterschlagen werden dürfen, dass es in der byzantinischen Kultur des späten Mittelalters eine „byzantinische Polemik gegen den Islam“164 gegeben hat. Es gibt immerhin 26 islamisch-christliche Kontroversen, wobei es problematisch ist, sich auf die Aussagen einer Kontroverse, nämlich der Kontroverse Nr. 7, isoliert von den anderen 25 Kontroversen zu berufen. Die letzte Kontroverse (Nr. 26) gilt übrigens dem Sakrament der Eucharistie.165

In der 7. Kontroverse stellt also Kaiser Manuel II. der Gewaltbereitschaft des Islam166 stillschweigend die auf der griechisch-hellenistischen Logos-Philosophie beruhende christliche Toleranz gegenüber. Auf der einen Seite also die islamische Gewaltanwendung, auf der anderen Seite die auf der göttlichen Vernunft (Gott als die Inkarnation der Vernunft) aufbauende christliche Lehre. Diese überwiegend philosophische Sicht verkennt aber geradezu paradox die historische Entwicklung von Islam und Christentum und die Dimension der praktischen Toleranz im historischen Ablauf. Unerwähnt bleibt, dass auf der einen Seite die islamischen Eroberer in Iberien und auf dem Balkan die Religionsausübung der Christen im praktischen Leben weitestgehend tolerierten167, doch diese steuerlich stärker belasteten als die Moslems, auf der anderen Seite Papst, Bischöfe und führende Christen in unheiliger Kooperation mit den weltlichen Mächten nicht zuletzt seit dem Hohen Mittelalter massive Gewalt anwandten gegen christliche Abweichler wie Waldenser, Albigenser (mit den Katharern identisch), Templer, Hexen etc. und auch vor Zwangsmissionierung (z.B. in Südamerika), Raub, Folter und Verbrennung nicht zurückschreckten. Christliche Intoleranz nahm vor allem seit dem späten Mittelalter immer skurrilere Formen an, nicht zuletzt gegen die Juden. Der historischen Wahrheit zuliebe muss festgehalten werden, dass auch innerhalb des Christentums die Aggressionen der christlichen Staaten massiv zunahmen und die Kriege, welche christliche Staaten, nicht zuletzt seit der Reformation, gegeneinander führten, immer grausamer wurden. Vom griechischen Logos war in der politischen und militärischen Praxis der christlichen europäischen Staaten keine Rede, wohl nicht einmal in den theologischen Vorlesungen der immer zahlreicher werdenden europäischen Universitäten. Toleranz galt den Gläubigen der christlichen Konfessionen sogar als absolut negativ und verwerflich. „Alle Formen von Toleranz und Kompromissbereitschaft galten als Gefährdung des eigenen Seelenheils und als Verrat an der für allein richtig eingestuften Wahrheit. Diese Überzeugung erklärt den oft unbarmherzigen Umgang mit Andersglaubenden ebenso wie die erstaunliche Leidensbereitschaft einzelner oder auch ganzer Gruppen. Dass Pastoren mit ihren Familien oft mehrere Male vertrieben wurden, war keine Seltenheit.“ 168 Christliche Intoleranz gab es nicht nur gegen die Mitglieder anderer christlicher Konfessionen, sondern auch gegenüber Juden und Moslems. Auch die Politik christlicher Staaten gegen orthodoxe und muslimische Staaten war in der Regel nicht von christlichen Grundsätzen getragen.

In der Balkanpolitik der Habsburger Monarchie basieren die politischen Ziele nicht unbedingt auf christlichem Gedankengut. Aus der Sicht der religiösen Toleranz darf man dabei nicht verkennen, dass die christliche Gegenoffensive auf dem Balkan unter Habsburgs Führung nach der Niederlage der Osmanen vor Wien (1683) nicht Ausdruck einer wahren christlichen Gesinnung, sondern in erster Linie eine Gelegenheit zu einer Expansion der habsburgischen Macht nach dem Osten und Südosten bis in das 19. Jahrhundert hinein war. In diesem Sinne war die habsburgische Balkanpolitik den nichtchristlichen Religionen gegenüber in devotem Opportunismus auf keinen Fall toleranter als die osmanische, wie auch aus dem Roman „Die Brücke über die Drina“ von Ivo Andric hervorgeht.

Wenn man die Zeichen der Zeit richtig zu deuten weiß, stellt man fest, dass in den letzten Jahrzehnten im Islam und weltweit eine Radikalisierung und Fundamentalisierung – welche an die Konfessionspolitik der christlichen Staaten in der Frühen Neuzeit erinnert – stattgefunden haben. Diese muslimische Radikalisierung und Fundamentalisierung richten sich nicht nur gegen ‘christliche’ Staaten und Christen in den islamischen Staaten, z.B. im Irak und Ägypten, sondern auch gegen andere muslimische Gemeinschaften. Es sei nur an die massiven Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten im Irak erinnert.

Die religiöse Toleranz der Moslems den Christen gegenüber ist in den letzten Jahrzehnten erheblich zurückgegangen. Selbst in der Türkei werden trotz gegenteiliger Behauptungen immer noch Christen wegen ihres Glaubens ausgegrenzt und schikaniert. Vor allem die nicht als Minderheit anerkannten aramäischen Christen haben in der Türkei einen schweren Stand. Das Kloster Mor Gabriel, „geistliches Zentrum der [aramäischen] Christengemeinschaft“, wird seit Jahren mit einer Prozessflut überzogen. Mit dieser „Einschüchterungskampagne“ soll erreicht werden, dass die „letzten Aramäer“ das laut Verfassung in Religionsfragen angeblich tolerante Land verlassen. Während in den 60er Jahren noch 200.000 aramäische Christen in der Türkei lebten, sind es heute „vielleicht 2000“. Die europäischen Bürokraten belieben solche Menschenrechtsverletzungen in befreundeten Staaten gerne zu übersehen, auch die europäische Presse zeigt wenig Interesse am Schicksal der aramäischen Christen in islamischen Staaten. Auch die deutsche Politik setzt sich nicht für mehr Toleranz gegenüber den aramäischen Christen in den islamischen Staaten ein, sondern fördert deren Auswanderung in die EU-Staaten. Man bevorzugt also in falsch verstandener Toleranz den Weg des geringeren Widerstands. Von einer wirklichen Religionsfreiheit ist die Türkei im Vergleich zu den sog. westlichen Staaten noch weit entfernt.169 Es geht also beim Papstbesuch und überhaupt bei der Kooperation von Christen und Moslems um weit mehr als nur darum, „die Missverständnisse zwischen Muslimen und Christen auszuräumen“, um einen Ausspruch des türkischen Außenministers Abdullah Gül vom November 2006 zitieren.

Im Mai 2008 beklagte Ishak Alaton, Chef der Alarko-Holding, einer der bekanntesten Geschäftsleute in der Türkei, in einem offenen Brief an die türkische Wirtschaftszeitung ‘Refrans’ „eine wachsende ‘Paranoia’ in der Türkei gegenüber den Minderheiten.“ Dabei übte er auch Kritik an einem Verfassungsgerichtsurteil, „mit dem der Immobilienverkauf an Ausländer gestoppt worden war.“ Diese „ultranationalistischen Entwicklungen“ führen nach Auffassung von Alaton „zu Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit“. Dieser Nationalismus richte sich gegen alle, „die nicht sunnitische Muslime sind“. Von einem speziellen Antisemitismus in der Türkei nahm Alaton die Regierung Erdogan und die Regierungspartei AKP jedoch „ausdrücklich“ aus. Träger dieser nationalistischen Fremdenfeindlichkeit seien „vielmehr die Bürokratie und die Medien“, welche mit dem Appell an niedere Instinkte Geschäfte machen.170

Erschwerend für die christlich-islamischen Beziehungen, auch in der Türkei, kommt in der Gegenwart noch hinzu, dass die von Christen und Moslems praktizierten Wertvorstellungen, auch für die Türkei zutreffend, zunehmend auseinanderdriften. In den christlichen Staaten von Europa und USA geht der Stellenwert der Familie immer mehr zurück. Im Islam ist die Frau das Symbol für den Zusammenhalt der Familie und zuständig für die Aufzucht, Erziehung und Sozialisation der Kinder. Für orthodoxe Moslems ist die von Gott geschaffene Familie nicht vereinbar mit der an westlichen Vorstellungen orientierten Emanzipation. Gläubige Moslems vermissen im westlichen System den Gemeinschafts- und Familienbezug, der für den Islam unverzichtbar ist. Moslems können mit dem westlichen Geist des Individualismus, einem Produkt der europäischen Aufklärung, nichts anfangen. Es fehlen ihnen zum Verständnis der Emanzipation auch die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen. Denn die geistes- und religionsgeschichtliche Entwicklung im Islam ist völlig anders verlaufen.

Wie für die orthodoxen Juden sind auch die im Westen immer mehr um sich greifenden Formen gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, Rumpffamilien allein erziehender Mütter oder Väter und andere vergleichbare reduzierte Lebensformen für den Moslem nicht tragbar. Anders als in den westlichen Staaten, wo die „Würde des Menschen“ zwar noch in den Verfassungen steht, aber nicht wirklich die Gesellschaft prägt, wird im Islam die menschliche Würde, z.B. auch in Gestalt der Gastfreundschaft, respektiert, vorausgesetzt dass man kein Jude ist! Die Gastfreundschaft ist in den islamischen Staaten noch immer sehr ausgeprägt. Das wird auch durch das Islam-Handbuch von Dumont bestätigt: „Einen reisenden Fremdling als Gast aufzunehmen, galt als vornehme Pflicht. Für ihn auch die letzten Nahrungsreserven zu mobilisieren und eventuell das letzte Kamel zu schlachten galt als selbstverständliche Norm.“171 Der Koran verlangt nicht nur wie das Alte Testament eine Respektierung von Witwen und Waisen, sondern auch ein großzügiges Verhalten den Reisenden und Fremden gegenüber. Das hat dann dazu geführt, „dass sich in den islamischen Gesellschaften zahlreiche Einrichtungen entwickelt haben, die zur Unterstützung und Versorgung von Reisenden dienen“. Es wurden sogar „Fromme Stiftungen“ ausschließlich für diesen Zweck gegründet. In diese Stiftungen flossen nicht primär Geld, sondern u.a. „die Erträge aus Landgütern und Gärten, aus der Verpachtung von Ladengeschäften und Mühlen“.172 Allerdings wollen auch die islamischen Gastgeber vom Gast respektiert werden. Muslime achten weitaus mehr als die Christen auf ihre Ehre. Sie steht im islamischen Wertekatalog ganz weit vorne.

Die eigene Ehre, welche einst auch in der vorindustriellen feudalistischen Gesellschaft, z.B. im Zunftwesen, der westeuropäischen Staaten eine leitende gesellschaftliche Idee war, hat in den meisten islamischen Staaten oft einen höheren Stellenwert als das fremde Leben. Für viele Moslems wäre ein Leben in Schande schlimmer als der Tod. Dieser ungeschriebene Ehrenkodex wirkt natürlich auch massiv in das Privatleben der Menschen, nicht zuletzt der Mädchen und Frauen, hinein. In diesem Sinne verletzt eine Frau, die sexuelle Kontakte vor der Ehe pflegt, nicht nur ihre eigene, sondern auch die Ehre ihrer Familie und sogar der sozialen Gruppe, der sie angehört. Liebe und Ehe sind bei vielen Muslimen noch immer keine Privatsache. Junge Leute wohnen vor der Eheschließung nicht zusammen und haben auch keine sexuellen Kontakte. Diesen strengen Ehrenkodex behalten viele Moslems auch in ihren europäischen Gastländern bei, dabei kommt es auch zu sog. Ehrenmorden: Der Vater tötet seine Tochter bzw. der Bruder seine Schwester, die sich vor der Ehe sexuell mit einem Nichtmoslem eingelassen hat und mit diesem unter einem Dach lebt, oder eine orthodox-türkische Familie schließt einen Sohn aus dem Familienverband aus, weil er eine christliche Frau geheiratet hat und zum Christentum übergetreten ist. Die Zerstörung des religiösen Bandes ist für gläubige islamische Familien auch ein Zerreißen der sozialen Zusammengehörigkeit. Ernstzunehmende Islamforscher vertreten allerdings die Auffassung, dass Zwangsheiraten, welche mit den Grundsätzen des deutschen Grundgesetzes (wie auch anderer europäischer Verfassungen) unvereinbar sind, und Selbstmordattentate dem Geist und Buchstaben des Korans widersprechen.

Man kann den Vergleich zwischen dem orientalischen Islam und dem westlichen ‘Christentum’ auf einen knappen Nenner bringen: Hier eine extreme, vielfach überbordende Strapazierung des Individualismus mit der wachsenden Verherrlichung des sog. Single-Daseins und zunehmende Vereinsamung und Entfamilialisierung nicht zuletzt alter Menschen mit steigender Selbstmordrate, dort im Islam weitaus mehr ein Leben in der Gemeinschaft und in Sippschaften und Großfamilien. Der einzelne zählt hier wenig, die Sippe als Großfamilie ist (fast) alles. Die starke gegenseitige soziale Kontrolle wird aber, abweichend von unserer Mentalität, nicht als Verlust, sondern von den meisten Mitgliedern eher als ein Gewinn an persönlicher Freiheit empfunden. Der Islam hat zudem einen anderen Begriff von Freiheit. Diese kommt allerdings den meisten Frauen in den meisten muslimischen Staaten immer noch viel zu wenig zugute.

Die jüdisch-christlich-islamische Kultur Europas

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