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Einleitung

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Symptomatisch für die moderne Geisteshaltung der europäischen Elite (und derer, die sich dafür halten) ist die aktuelle Diskussion über die künftige Gestaltung Europas und die fundamentalen Werte des modernen Europa. Die europäische Verfassung beschränkt zum Beispiel die Wurzeln der europäischen Kultur nämlich im Wesentlichen auf die griechischrömische Antike, die Aufklärung und die vor allem daraus abgeleiteten Menschenrechte. Freiheit und Gleichheit, wie sie im Grundgesetz verankert wurden, sind immer noch stark formaljuristisch ausgerichtet. Das hat sich auch in der mit Hängen und Würgen im Jahre 2007 in Lissabon beschlossenen Verfassung nicht geändert. Es wird nicht hinterfragt, woher wir diese Ideale und Werte in Wirklichkeit haben.1

In den „Sprüchen der Väter“ gründet Rabba Simon die Weltordnung auf drei „Dinge“, nämlich auf Recht, Wahrheit und Frieden.2 Daraus leiten sich drei wesentliche Handlungsanweisungen ab: „Liebe den Frieden! Strebe nach Eintracht! Liebe die Menschen und leite sie nach dem Gesetz!“3 Von diesen Anweisungen ist kein weiter Weg mehr zum Liebesgebot des Neuen Testaments: Liebe Gott am meisten, aber liebe den Nächsten wie Dich selbst. Alle anderen Gebote lassen sich nach Jesus von diesem einen Gebot ableiten.

Im Rahmen der immer wichtiger werdenden fundamentalen Menschenrechtsdebatte wäre es darum ein großer Erkenntnisfortschritt, wenn man das Judentum und seine Kopie, das Christentum, wieder zum Gegenstand des allgemeinen Interesses machen würde. Auf die Notwendigkeit dieses Schrittes haben Ralph Davidson und Roman Landau mit Nachdruck hingewiesen. Die Entfernung des Juden-Christentums aus der Zivilisationsgeschichte und seine Verbannung ins metaphysische Reich der Religionen, die vom Historismus des 19. Jahrhunderts vollzogen worden ist und die erstaunlicherweise immer noch das Denken der modernen Historiker prägt, dürfte damit zusammenhängen, dass man damals im 19. Jahrhundert den hellenistisch-römischen Imperialismus als bewundernswert und den pazifistischen Geist des Judentums als verweichlichend betrachtete. Diese ‘entjudete’ und ‘entchristlichte’ Weltanschauung (Roman Landau) und Welterklärung scheinen sich im 20. Jahrhundert noch verstärkt und radikalisiert zu haben. Deshalb finden wir dann in der Mitte des 20. Jahrhunderts angesehene Historiker damit beschäftigt, dieser unschönen Geschichtsklitterung eine solide wissenschaftliche Grundlage zu geben, indem sogar das praktiziert wird, was das genaue Gegenteil von historischer Forschung ist, nämlich die Vernichtung, Fälschung und Manipulation von Quellen.

Nicht nur im Mittelalter wurden nämlich systematisch Dokumente vernichtet und Geschichte gefälscht.4 Ein solcher Fall der Vernichtung jüdischer Quellen ist jetzt auch aus der neuesten Zeit bekannt geworden und erscheint mir symptomatisch. Es ist die traurige Geschichte des Wirtschaftshistorikers Hermann Kellenbenz, der seine Habilitationsarbeit über die Sephardim5, welche zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus Spanien vertrieben worden waren, an der Philosophischen Fakultät der Universität Würzburg unterbrachte. Kellenbenz hat in diesem Werk die große wirtschaftliche Bedeutung jener Sephardim für Norddeutschland mit den Methoden der Wirtschaftsgeschichte6 herausgestellt und hat dafür sogar öffentliche Anerkennung gefunden. Im Katalog der Ausstellung „Vierhundert Jahre Juden in Hamburg“ erscheint Kellenbenz nämlich noch als „unverdächtiger Gewährsmann“.7 Doch nach einiger Zeit kamen die wahren Motive von Kellenbenz ans Licht. Die von ihm durchgeführte Aktion erscheint mir so schwerwiegend, dass ich den Sachverhalt aus der mir zur Verfügung stehenden Quelle wörtlich wiedergeben möchte:

„Doch die Würzburger Fakultät hatte einen Barbaren zum Professor habilitiert. Kellenbenz hatte, wie Engelmann8 berichtet, im April 1945 tagelang das ihm zur Verfügung stehende umfangreiche Akten- und Archivmaterial verbrannt und damit unersetzliche Dokumente der Wissenschaft für immer entzogen. Der junge Wirtschaftshistoriker Kellenbenz war 1939 vom ‘Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschland’ des fanatischen Judenhassers Walter Frank damit beauftragt, ‘Das Hamburger Finanzjudentum und seine Kreise’ zu erforschen. Das einzige, was Kellenbenz 1945 nicht vernichtete, war seine eigene Arbeit. Er schrieb sie um, entnazifizierte sie oberflächlich, um sich so zu habilitieren – mit Erfolg.“9

Diese Quellen- und Aktenvernichtung durch Kellenbenz ist nicht nur bezeichnend für die Art und Weise, wie man mit jüdischen Quellen – nicht nur in Deutschland – umgegangen ist, sondern legt auch nahe, dass die Pariser Talmudverbrennung von 124210, die italienischen Talmudverbrennungen von 1553 in Rom, Mailand, Ferrara, Mantua, Venedig „und vielen anderen Städten Italiens“11 wie auch die Hamburger Aktenvernichtung von 1945 sicher keine Einzelfälle waren. Allein aus dieser Tatsache muss man den Schluss ziehen, dass das Bild der Juden in der europäischen Geschichte durch diesen bewusst erzeugten Quellenmangel nicht nur unvollständig und teilweise sogar entstellend ist, sondern auch die Leistungen der Juden in Wirtschaft, Kunst und Kultur bisher nicht ausreichend dokumentiert und dargestellt worden sind.

Nicht nur im Mittelalter, sondern auch in der Neuzeit bis in die unmittelbare Gegenwart wurden also systematisch Dokumente vernichtet und somit auch die Geschichtsschreibung verfälscht.12 Auch Ereignisse und Sachverhalte der Geschichte der christlichen Ketzer, zu welchen die Kirche beispielsweise die Templer zählte, kennen wir nur aus der Sicht der Sieger. Denn die Überlieferung der Templer war weitestgehend ausgemerzt worden. Wahrscheinlich sind aber jüdische Quellen noch viel mehr vernichtet worden als die der sog. Ketzer, wobei sicher nicht alle gegen die jüdische Tradition gerichteten Zerstörungen der Nachwelt überliefert sind. Vermutlich wurden auch unter der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht nur Synagogen und hebräische Kultobjekte, sondern auch immer wieder jüdische Quellen und Bücher verbrannt.

Sichere Nachweise für eine massive Verbrennung hebräischer Bücher um 1500 herum bringen Vogl und Benzin im Kapitel „Der Streit um die Vernichtung der hebräischen Bücher“ ihres Buches „Die Entdeckung der Urmatrix“.13 Der Hauptinitiator dieser Zerstörungsaktion und Gegenspieler von Reuchlin war Jakob Hoegstraeten, Prior des Dominikanerkovents zu Köln und Inquisitor. Um „den Keim der Ketzerei zu ersticken“, wurden vor allem jene Werke ein Opfer seiner Zerstörungswut, „welche sich in irgendeiner Weise gegen das Christentum aussprachen“. Dazu gehörten seiner Meinung nach „so gut wie alle Werke hebräischen Ursprungs“, vor allem die kabbalistischen Schriften. Vogl-Benzin vermuten, dass damals „große Schätze kabbalistischen Wissens den Flammen übergeben worden sein“ müssen. Reuchlin sah in diesen Zerstörungsorgien die Vernichtung des „vom Schöpfer an ADaM übergebene[n] und an die gesamte Menschheit gerichtete[n] Wissen[s] der Schöpfung“ und zudem auch „ein Werk des Teufels selbst.“14 Der Streit, der sich daraus zwischen Hoogstraeten und Reuchlin entwickelte, war auch ein Konflikt zwischen der mittelalterlichen Scholastik und dem Humanismus. Letzterer war nach herrschender Auffassung mehr als die Scholastik dem Geist der Renaissance15 verbunden.

Der aufgeklärte und weltoffene Geist der Renaissance wird allerdings seit einigen Jahren selbst von den amtlichen Historikern zunehmend in Frage gestellt. So stellte der amerikanische Historiker William Bouwsma ernüchtert fest, dass „das gesamte Konzept der Renaissance als einer aufgeklärten Epoche fragwürdig geworden sei“16, und zog daraus den Schluss eines „collapse of the traditional dramatic organisation of Western history“.17

Die Renaissance war tatsächlich alles andere als die von vielen zeitgenössischen europäischen Historikern noch heute gefeierte „Epoche humanistischer Aufklärung“.18 Es gab nämlich am Ende des Mittelalters und in der frühen Neuzeit weder wirklichen Humanismus noch echte Aufklärung. Denn immerhin wurden damals Menschen und Bücher verbrannt.

Aus diesen bisher gern übersehenen Tatsachen kann man wie gesagt den Schluss ziehen, dass das Bild der Juden in der europäischen Geschichte durch diesen bewusst erzeugten Quellenmangel (als Folge der massiven Büchervernichtung) nicht nur unvollständig und teilweise sogar entstellend ist, sondern auch die Leistungen der Juden in Wirtschaft, Kunst und Kultur bisher nicht ausreichend dokumentiert und dargestellt worden sind.

Schon vor langer Zeit war mir aufgefallen, dass bestimmte historische Sachverhalte einfach nicht zusammenpassen. Mir wurde immer mehr klar, dass nur die Juden mit ihrer großen internationalen Tradition in der Lage gewesen sein können, umfassende kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen in Gang zu setzen und voranzutreiben. Diese Gedanken trug ich ein Leben lang in mir, bis ich auf die Werke von Davidson und Landau19 gestoßen bin.

Vor allem die wegweisenden Arbeiten von Davidson verstärkten meine ein Leben lang in mir ruhenden Zweifel, ob die bisherige Sicht der Geschichte, vor allem der Antike und des Mittelalters, gelinde ausgedrückt, nicht korrekturbedürftig sei. Ralph Davidson hat es gewagt, als einer der ersten historische Tabus der europäischen Kulturgeschichte in Frage zu stellen.20 Davidson hat eine fast unlösbare, aber absolut notwendige Aufgabe in Angriff genommen und dabei tatsächlich erfolgreich eine Reihe von historischen Tabus gebrochen. Es ist sehr zu hoffen, dass die konventionellen Geschichtsforscher durch seine Thesen provoziert werden, sich sachlich mit seinen Forschungsergebnissen auseinanderzusetzen. Wahrscheinlicher aber ist, dass man ihn totschweigen wird.

Sehr verdienstvoll ist es, dass Davidson die von den Historikern so sträflich vernachlässigte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in ausgeprägter Kombination mit den historischen Hilfswissenschaften (Epigraphik21, Paläographie, Genealogie etc.) wesentlich mehr als üblich für sein Werk heranzieht und damit zu Fragestellungen kommt, die beachtenswert neue Ansätze dafür liefern, wie Feudalismus, Industrialismus, Kapitalismus und überhaupt die europäische Zivilisation entstanden sind.

Allzu viele Historiker sind m. E. allerdings nicht in der Lage, in größeren Zusammenhängen zu denken. Sie sind zu sehr auf ein enges Fachgebiet begrenzt und nehmen allzu leichtgläubig historische Überlieferungen kritiklos zur Kenntnis. Hinzu kommt noch, dass es den meisten Historikern an umfassenden und fundierten Sprachkenntnissen fehlt. Es gibt kaum einen deutschen Historiker, der z. B. mit der für die Antike so wichtigen hebräischen Sprache vertraut ist. Ohne die Einbeziehung hebräischjüdischer Quellen ergibt sich „ein unvollständiges Bild der jüdischen Kultur in Deutschland“22 und wohl auch in Europa. Viele Historiker verfügen auch nicht über solide Kenntnisse des Griechischen und Lateinischen, von slawischen Sprachen ganz zu schweigen. Bereits Cosmas von Prag beklagt sich in seiner zu Beginn des 12. Jahrhunderts publizierten Chronik der Böhmen (Chronica Boemorum) über „die den Deutschen angeborene Arroganz“ und „deren hochnäsige Ablehnung der Slawen und ihrer Sprache.“23 Die Ausgrenzung der slawischen Sprachen und Kulturen in West- und Mitteleuropa hat also eine lange ‘Tradition’.

Wirklich neue Erkenntnisse zu den Fundamenten der europäischen Kultur sind nur zu erwarten, wenn Historiker verschiedener Epochen und Fachgebiete bereit sind, mit Wissenschaftlern anderer Fachgebiete international zusammenzuarbeiten. Es wäre fürs Erste aber überhaupt schon ein großer Fortschritt, wenn die zweifelhaften, unsicheren und vielfach gefälschten Quellen der Antike und des Mittelalters mit den Methoden, Kenntnissen und Erkenntnissen des 21. Jahrhunderts völlig neu analysiert würden.

Es ist Ralph Davidson zu danken, solch einen neuen Anfang versucht zu haben. Sein zentrales Anliegen ist es, die wesentlichen Faktoren des europäischen Zivilisationsprozesses zu finden. Dazu sammelt er zunächst einmal die harten Fakten. Das zentrale Ergebnis seiner umfassenden Faktensammlung und Fakteninterpretation: Die Grundlage der europäischen Zivilisation scheint weder die griechisch–römische Antike noch das „aufsteigende Bürgertum“ des Mittelalters24 und der Neuzeit zu sein, sondern primär das Juden-Christentum.25 Dieses hat nicht primär als Religion, sondern als kulturelle Institution Entwicklung und Aufstieg Europas angestoßen und gefördert. Diese Erkenntnis ist ein völlig neuer Denk- und Forschungsansatz in der europäischen Geschichtsforschung.

Die jüdisch-christlich-islamische Kultur Europas

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