Читать книгу Die jüdisch-christlich-islamische Kultur Europas - Wilhelm Kaltenstadler - Страница 13
Die Glaubwürdigkeit der Quellen der Antike
ОглавлениеRömische Quellen
Die Forscher waren im Mittelalter und noch weit bis in die Neuzeit hinein völlig auf die Geschichte des oströmischen Byzanz fixiert, aber auch hier nicht real, sondern mehr mythisch wie in der Alexandersage, welche mit den uns überlieferten Quellen nicht übereinstimmt. Dazu passt auch sehr gut die Tatsache, dass das mittelalterliche Europa kaum Kenntnis von der griechischen Sprache und Geschichte hatte. Doch auch in den uns überlieferten Texten des Neuen Testamentes, die ja immerhin in der Zeit der hellenistischen Kultur geschrieben sein sollen, hört man überhaupt nichts über die alten Griechen173 und kaum etwas über die Römer.174 Zahlreiche mittelalterliche Geschichtsschreiber und Chronisten, welche die ihrer Gegenwart vorausgehende Zeit behandeln, berichten nichts von der griechisch-römischen Antike, von der Geschichte Ägyptens und Mesopotamiens ganz zu schweigen. Ein österreichischer Chronist des ausgehenden 14. Jahrhunderts aus dem Kreis um Herzog Albrecht III. – es handelt sich wohl um Gregor Hagen – „bringt die Entstehung Österreichs mit der jüdischen Geschichte des Alten Testamentes“175 in unmittelbare Verbindung. Bei der Beurteilung dieser erstaunlichen Nähe der frühen österreichischen Historiographie und des österreichischen Herrschaftssystems, das ja in Hagens Geschichtswerk seinen Niederschlag findet, zum Alten Testament kommt es nicht auf den Wahrheitsgehalt dieser Verbundenheit an, sondern darauf, dass mittelalterliche Chronisten wie Gregor Hagen ihre Frühgeschichte mit dem Alten Testament beginnen, nicht jedoch mit der uns heute bekannten antiken Geschichte der Ägypter, Mesopotamier, Griechen und Römer. Die auf Hagen folgende „Österreichische Chronik“ des Thomas Ebendorfer (deren Originalhandschrift um 1450 herum nicht mehr erhalten ist) „enthält die Darstellung der heidnischen Vorzeit“ in einer recht nebulosen Form. Die „Zeit von den christlichen Anfängen bis zu den Habsburgern“176 ist dagegen schon plastischer und greifbarer. Die klassische Antike war für ihn jedoch noch ein verschlossenes Buch mit sieben Siegeln und ihm erstaunlicherweise völlig unbekannt! Daraus kann man folgern, dass die klassische Antike selbst in Österreichs Spätmittelalter noch weit davon entfernt war, ein prägender Faktor von Herrschaft und Kultur zu sein.
Die klassische Antike wird in Europa angeblich schon im 16. Jahrhundert wiederentdeckt, aber erst seit dem 18. Jahrhundert wandten sich dann auch nördlich der Alpen breitere Kreise der Intelligenz und des Bürgertums der Antike zu. Man fragt sich aber, warum es immerhin zwei Jahrhunderte gedauert hat, bis man sich in Europa wirklich gezielt der Erforschung der Antike zuwandte. Von einer ernst zu nehmenden Entdeckung der Antike im 16. Jahrhundert kann also nicht die Rede sein. Denn beim europäischen Hochadel bestand noch in der frühen Neuzeit die Tendenz, die Ahnen möglichst auf Adam und Eva zurückzuführen. Die bürgerlichen Wappengraveure passten sich nach wie vor dieser Neigung an. Noch im „Wappenbüchlein“ des Nürnberger Graveurs Johann Siebmacher177 von 1596 finden sich bei den ersten Wappen nicht Ägypter, Griechen oder Römer, sondern neun jüdisch-alttestamentarische. Sie sind betitelt als „Der ersten Welt; Deß Adams; Deß Noha178“, dann folgen „Die drey guten Juden Fürst Josua, König David, Judas Maccabeus“ und „Die Drey guten Jüdin[nen] Hester179, Judith, Jael.“ Noch vor den drei guten Christen (Carolus Magnus, König Artus, Herzog Gottfried von Bulion [Bouillon]) und Christinnen (Kaiserin Helena, Brigitta von Schweden, Elsbeta [Elisabeth von Thüringen]) kommen die jeweils drei Wappen der „Drey guten Heyden“ (Hector von Troja, Alexander der Große, Julius Caesar) und der „Drey guten Heydin[nen] (Lucretia, Veturia, Virginia). Nach den Wappen der guten Christen und Christinnen kommen weitere drei Wappen, welche im weiteren Sinne nicht der klassischen Antike, sondern dem Neuen Testament angehören, nämlich „Die Heiligen Drey König“ Caspar, Balthasar, Melchior“. Von den 24 Wappen des „Wappenbüchleins“ kann man also insgesamt 18 der jüdisch-christlichen Welt zuordnen. Die 6 ‘heidnischen’ Wappen geben zudem nicht die reale, sondern – vor allem bei den Frauen – die mythische Sicht der Antike wieder. Man könnte somit glauben, dass selbst in einer so weltoffenen Stadt wie Nürnberg die Renaissance mit der Wiederentdeckung der Antike völlig unbekannt war.
Wenn man jedoch über den europäisch-christlichen Gartenzaun hinauszublicken wagt, dann stellt man mit Erstaunen fest, dass die islamischen Autoren, auch diejenigen in Al Andalus, der römischen und vor allem der griechischen Antike näher stehen als die christlichen von West- und Mitteleuropa. Nicht nur die jüdisch-islamischen Ärzte wie z.B. Avicenna180 und Maimonides181 bauen nach herrschender Lehre auf Hippocrates, Galen, Plato und vor allem auf dem griechischen Philosophen Aristoteles auf. Die iberischen Juden und Muslime betrachten sich, worauf der Arabist aus Sevilla, Emilio Gonzales Ferrín, immer wieder hinweist, als die wahren Erben der Antike und des Römischen Reiches. Der geistig-kulturelle Mittelpunkt dieses Reiches, der nicht zuletzt durch die Präsenz der Juden geprägt war, lag bis weit in die römische Kaiserzeit hinein nicht in Rom, sondern in der ägyptischen Weltstadt Alexandria, welche vor allem von der Kultur der Griechen und Juden geprägt war. Hier wirkten nicht nur die großen Theologen, Philosophen und Ärzte, sondern auch bedeutende Naturwissenschaftler und Techniker. Nicht nur in Alexandria, sondern auch im südspanischen Andalusien wurden die Errungenschaften der materiellen Kultur der Römer, z.B. die Wasserleitungen und das Kanalisationssystem, übernommen und vielfach sogar weiter ausgebaut.
Recht abenteuerlich erscheint das, was wir von Aristoteles aus islamischen Quellen (sie weichen nicht selten von christlichen Quellen ab) wissen.182 Es gibt zu ihm eine arabische Quelle, nämlich Abd al-Latif al Bagdadi (11621231), der im Zusammenhang mit der sog. Pompejussäule in Alexandria über den Philosophen Aristoteles berichtet. Ich zitiere diese wichtige Stelle aus Strohmaier:
„Ich bin der Meinung, daß dies die Säulenhalle ist, in der Aristoteles und nach ihm seine Schüler lehrten, und daß es das Haus der Wissenschaft war, das Alexander errichtete, als er seine Stadt erbaute, und in ihm war die Bibliothek, die Amr Ibn al-As mit Erlaubnis Umars verbrennen ließ.“183
Für Bagdadi ist also Aristoteles, der Lehrer von König Alexander dem Großen, ein Bewohner der Weltstadt Alexandria. Darüber dass Aristoteles ein Grieche sein soll, weiß er aber nichts zu berichten. Das im wesentlichen im 19. Jahrhundert entstandene Bild der Antike, welches das jüdischchristliche Modell ablöste, weist nicht wenige „logische und faktische Widersprüchlichkeiten“ wie auch offensichtliche Unstimmigkeiten auf, auf welche nicht zuletzt Gunnar Heinsohn, Professor an der Universität Bremen, mehrfach hingewiesen hat.184 Diese Unstimmigkeiten wirken sich auch auf die antike und mittelalterliche Chronologie aus. So gibt es z.B. eine christliche Kölner Handschrift, „die eine Zeitrechnung verwendet, die sich nicht an der Geburt Christi ausrichtet, sondern an dem Wiederaufbau des jüdischen Tempels orientiert.“185
Auch in der Überlieferung der römischen Geschichte und Sprache vermutet Davidson Lücken.186 Latein (das sog. klassische Latein) war wohl genauso wie Hebräisch und (klassisches) Griechisch eine reine Kunstsprache. Hebräisch war „schon in frühesten Zeiten in Palästina keine lebende Sprache, sondern nur noch eine heilige Gelehrtensprache.“187 Es war auch in Europa bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Sprache einer sehr begrenzten geistlichen und wissenschaftlichen jüdischen Elite. Die große Masse der Aschkenasim sprach Jiddisch, der sephardischen Juden Ladino und Judezmo (romanische Sprachen). Die Aschkenasim bezeichneten ihre Sprache nicht als jiddisch, sondern als „taitsch“ (deutsch).
Im Gegensatz zum Jiddischen und Ladino waren das angeblich unter Alfons X., dem Weisen (1252-1282), – unter Mitwirkung der spanischen Juden – geschaffene Kastilisch188 und das in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts in der Prager Kanzlei geschaffene Deutsch reine Kunstsprachen. Kastilisch soll sich nach Aussage des im 15. Jahrhundert lebenden Grammatikers Antonio de Nebrija wohl schon im Hohen Mittelalter „nach Aragon, Navarra und Italien“ ausgebreitet haben. Im Gegensatz zu Hebräisch, Latein und Griechisch war in großen Teilen des südlichen Iberiens bis ins späte Mittelalter das Arabische noch eine lebende Sprache.189
In Dantes Sprachkonzeption ist im Unterschied zum Arabischen und zu den historisch gewachsenen romanischen Volkssprachen, welche linguae naturales, also Natursprachen, sind, das klassische Latein eine lingua artificialis, also eine Kunstsprache, quam Romani grammaticam vocaverunt (welche die Römer als Grammatik bezeichneten). Auch für Dante ist das klassische Latein eine Sprache, in welcher die Grammatik eine wesentlich größere Rolle spielt und welche auch wesentlich anspruchsvoller zu erlernen ist als die Volkssprachen.190
Es ist somit undenkbar, dass ein einfacher Römer z. B. das Werk von Sallust oder Reden des Cicero hätte lesen und verstehen können.191 Mir ist ja immer seltsam vorgekommen, dass auch noch das heutige moderne Spanisch in der Grammatik dem Lateinischen viel näher verwandt ist als das moderne Italienisch. Vielleicht besteht des Rätsels Lösung darin, wie Ralph Davidson davon auszugehen, dass die romanischen Sprachen nicht Tochtersprachen des Lateinischen sind, sondern evtl. einer älteren „romanischen“ Sprachschicht Europas angehören, welche einst von Portugal bis Rumänien reichte. Neben anderen hat sich auch Horst Friedrich dieser erstmals von Davidson im Jahre 1995 geäußerten Auffassung angeschlossen.192
Verglichen mit dem Lateinischen weist die Entwicklung des Hebräischen vom Bibelhebräischen bis zum modernen Israelhebräisch eine einmalige Kontinuität auf. Interessant ist für mich, dass das jüdische Volk das einzige der westlich-abendländischen Kultur ist, das wirklich aus der Sicht von Sprache und Kultur noch in einer wirklich antiken Tradition steht. Die hebräische Sprache hat sich, von modernen Wortbildungen wie tazgig (Email), mechonit (Auto), monit (Taxi) etc. abgesehen, bis zum heutigen Tag in ihren Grundfesten erhalten. Es ist auch heute noch viel schwieriger, einen unpunktierten hebräischen als einen deutschen Text flüssig zu lesen.
Nicht so einfach liegen die Probleme bei allem, was mit „deutsch“ zu tun hat. Was die deutsche Geschichte und damit auch die Begriffe deutsch und Deutschland betrifft, darf man getrost von einer germanischen Ideologie sprechen. Höchst verdächtig ist, dass die meisten antiken Texte – auch solche, welche mit den Anfängen Deutschlands zu tun haben – ausgerechnet „erst von den frühen Humanisten durch systematische Suche vor allem in den Klosterbibliotheken193 des deutschen Kulturraumes und Sprachgebietes ans Licht befördert worden“194 sind. Dazu gehört auch die Germania von Tacitus, an deren Echtheit Brasi195 mit Berufung auf Herbert Hunger196 zu Recht zweifelt. Die Tacitushandschrift ist unter seltsamen Umständen erstmals 1425 im deutschen Kloster Hersfeld entdeckt und noch später publiziert worden.197
Über die hier angeschnittene Frage hinaus ist zu beachten, dass auch literarische Quellen, welche Ereignisse und Vorgänge der Antike betreffen, nicht nur aus dem Mittelalter stammen, sondern – zu einem sehr geringen Teil – auch antiker Provenienz sind. Es hat sich noch nicht einmal bei allen Historikern herumgesprochen, dass „viele Dutzende von längeren und kürzeren Fragmenten der antiken Literatur“, vor allem der altgriechischen, auf antiken Papyri überliefert worden sind und sich bis heute erhalten haben. Die Fragmente griechischer Papyri sind für die Wirkungsgeschichte des Hellenismus ohne Bedeutung und bringen auch sonst, wenn man von medizinischen Spezialfragen absieht, keinen allgemeinen historischen Erkenntnisgewinn.
Noch geringfügiger sind die Funde lateinischer literarischer Papyri. „Sie beschränken sich auf bescheidene Fragmente aus bereits bekannten Klassikern, die in der Schule gelesen wurden (Cicero, Livius, Sallust. Vergil).“198 Festzuhalten ist, dass auch die Merowinger, Araber, das Frankenreich und seine Nachfolgestaaten Papyri für ihre Urkunden verwandten. Neben dem Papyrus und dem Papier diente im Mittelalter das Pergament als Hauptbeschreibstoff für alle möglichen Quellen. Texte der antiken Literatur liegen uns bereits vereinzelt seit dem 2. nachchristlichen Jahrhundert vor. „Mehr oder weniger vollständige Pergamentkodizes begegnen uns zum erstenmal im 4. Jh. mit den beiden berühmten griechischen Bibelhandschriften, dem Sinaiticus und Vaticanus“. Vom 5. und 6. Jahrhundert an „besitzen wir bereits eine größere Zahl christlicher und profaner Pergamenthandschriften in Ost und West, d.h. in griechischer und lateinischer Sprache“199, so z.B. unter anderem auch Codices über Terenz, Vergil und Livius. An die Stelle der Rolle trat schon in der römischen Kaiserzeit zunehmend der Codex, der ja im Grunde der Vorläufer des modernen Buches war. Seit dem 2. Jahrhundert u. Z. wurden heidnische Schriftsteller in der Regel auf Pergamentrollen, christliche Autoren auf Papyruscodices festgehalten.
Bei den Handschriften sollten wir uns aber stets vor Augen halten, dass wir wirklich tragbare Ergebnisse über die Echtheit von Papyrus- und Pergamenthandschriften erst dann bekommen, wenn man deren Alter genauer, als bisher möglich, ermitteln kann. Die Radiokarbonmethode und Dendrochronologie sind für solche erdgeschichtlich relativ kurze Perioden, wie Oleinikov und andere dargelegt haben, nur in begrenztem Maße geeignet.200 Man hat sie darum auch nie dafür herangezogen.
Ein auffallend großer Anteil von Abschriften lateinischer Autoren, welche aus dem Mittelalter erhalten bzw. im Mittelalter entstanden sind, wurde, wie oben bereits angedeutet, durch von der römischen Kurie beauftragte Humanisten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit in deutschen Klöstern entdeckt. Erstaunlicherweise erstreckte sich diese bibliophile Schatzsuche vor allem auf deutschsprachiges Gebiet, „weil auf deutschem Boden noch Schätze zu finden waren, die keine italienische Bibliothek besaß.“201 Italienische Gelehrte wühlten also im Auftrag der Kurie und anderer kirchlicher Kulturträger bevorzugt in deutschen bzw. deutschsprachigen Klosterbibliotheken herum, um antike Autoren zu entdecken, welche überwiegend ihre Werke im antiken Italien verfasst hatten:
„Im Gefolge des Pisaner Papstes Johannes XXIII. zogen zahlreiche Humanisten als Sekretäre oder Schreiber der Kurie nach dem Norden, unter ihnen Bruni und Poggio.“202
Letzterer, seit 1423 apostolischer Sekretär der römischen Kurie, führte allein vier intensive Bibliotheksreisen nach Frankreich und vor allem nach Deutschland durch und wurde „im Gefängnis der Barbaren“, z.T. durch widerrechtliche Aneignung, auch fündig.203 Im deutschen Sprachraum besuchte er vor allem die Klöster St. Gallen mit Nachbarklöstern, die Klöster in Fulda, Hersfeld und Köln. Rossi meint, der Humanist “erweiterte mit seinen wunderbaren Entdeckungen außerordentlich den Horizont der klassischen Studien“.204 Die gefundenen Codices wurden regelmäßig sofort kopiert, vielleicht auch deswegen, weil sich viele gefundene Handschriften (angeblich) in einem „erbärmlichen äußeren Zustand“205 befunden haben sollen. Nicht auszuschließen ist aber, dass diese Schnellkopien auch deswegen durchgeführt worden, weil man daran interessiert war, die mehr oder weniger gut erhaltenen Handschriften so schnell als möglich zu vernichten, wohl um eine Nachprüfbarkeit der Inhalte der gefundenen Handschriften zu verhindern.206 Auf den leichtfertigen Umgang mit Druckvorlagen in den Kulturzentren der Renaissance, vor allem in Rom, weisen Davidson und Luhmann207 bereits im Jahre 1998 hin. Antonio Rossi beschönigt diese seltsame Kopiermethode von Poggio mit folgenden Worten:
“Somit vollbrachte er bisweilen wahre Rettungstaten, da von einigen jener Werke (Handschriften) jedes Manuskript vor seiner Kopie verloren ging.”208 Das Verlieren eines uralten Manuskriptes wäre heute keine Rettungstat.
Wie zweifelhaft diese Entdeckungen in deutschen Klöstern waren, zeigt ein Bericht aus dem Werk des Byzantinisten Herbert Hunger über die Entdeckung der kleinen Schriften von Tacitus:
„Auch nach seiner Rückkehr leitete Poggio209 von Rom aus die Suche nach neuen Kodizes. In seinen Diensten stand ein ungenannter Mönch aus Hersfeld, der 1425 mit einer Liste von Desiderata aus Rom heimkehrte. Durch ihn erfuhr Poggio u.a. von der Existenz dreier unbekannter Schriften des Tacitus im Kloster Hersfeld, der Germania, dem Agricola und dem Dialogus über den Verfall der Rhetorik. Erst kurz vor seinem Tode glückte es, der mit allen Mitteln verfolgten Kodizes habhaft zu werden. Einer der Bücheragenten Nikolaus V., Alberto Enoch d’ Ascoli (gest. 1457), scheint das Manuskript 1455 von einer Bibliotheksreise, die ihn bis nach Skandinavien führte, nach Italien gebracht zu haben. Als erster verwertete Enea Silvio Piccolomini Nachrichten aus der Germania und verglich das moderne mit dem alten Deutschland zugunsten der (damaligen) Gegenwart und der humanistischen Bildung. Dadurch wurden die deutschen Humanisten auf den Schatz aufmerksam, der ihnen entgangen war, und nachdem Leo X. (Papst von 1475-1521) Tacitus hatte drucken lassen, wurde die Germania zur bevorzugten Quelle über die deutsche Vergangenheit.“210
Neben Poggio und seinen Helfern spielte auch der rombegeisterte Dichter Petrarca, der von 1304 bis 1374 gelebt haben soll, eine bis heute wenig durchschaute Rolle. Chlodowski bezeichnet ihn emphatisch als den Mann, welcher der erste gewesen sein soll, der „could understand and bring into light the ancient elegance of the style that had been forlorn and forgotten before“211. Bei seiner Ankunft in Rom findet der Dichter nicht die großen Gebäude und Monumente der römischen Antike, die er sich in seinen Träumen erhofft hatte. Die folgenden Zeilen von Petrarca, aus denen seine ganze Enttäuschung spricht, lassen den Zustand von Rom in der Spätantike und Frührenaissance in einem äußerst realistischen Licht erscheinen. Dieser Bericht von Petrarca über die ‘Größe Roms’ ist so bezeichnend, dass ich ihn in voller Länge in deutscher Übersetzung wiedergeben will:
„Wo sind die Thermen von Diokletian und Caracalla? Wo ist das Timbrium von Marius, das Septizonium und die Thermen von Severus? Wo ist das Forum von Augustus und der Tempel des Rachegottes Mars? Wo sind die heiligen Plätze von Jupiter, dem Donnerträger, auf dem Capitol und von Apollo auf dem Palatin? Wo ist der Porticus von Apollo und die Basilica von Caius und Lucius, wo ist der Porticus von Libya und das Theater des Marcellus? Wo ist der Tempel von Hercules und den Musen, erbaut von Marius Philippus, und der Tempel der Diana, erbaut von Lucius Cornifacius? Wo ist der Tempel der artes liberales von Avinius Pollio, wo ist das Theater von Balbus, das Amphitheater von Statilius Taurus? Wo sind die zahlreichen Bauten, die Agrippa errichtete, von welchen nur das Pantheon übrig bleibt? Wo sind die prächtigen Paläste der Kaiser? Man findet alles in den Büchern; aber wenn man versucht sie in der Stadt zu finden, so zeigt sich, dass sie entweder verschwunden sind oder dass nur magere Spuren übrig geblieben sind.“212
Bei diesem ausführlichen Petrarca-Bericht über die vermeintlichen bzw. realen Kulturstätten des antiken Rom fällt auf, dass das heute wohl bekannteste und neben dem antiken Forum am meisten besuchte Gebäude, das Colloseum, nicht erwähnt wird. Doch störte das Petrarca keineswegs bei seinen weiteren Aktivitäten bei der Suche nach den Relikten des alten Rom.213
Nachdem Petrarca einige Tränen vergossen hatte, machte er sich gleich an die Arbeit, suchte nach Statuen, sammelte römische Münzen und versuchte die Topographie von Rom zu rekonstruieren. Sein größter Eifer galt aber der Suche nach Werken der ‘antiken’ Autoren. Dabei war er nicht besonders kritisch, was das Alter derselben betraf. Schließlich konnte er es sich leisten, eine Werkstatt mit Schreibern und Sekretärin zu gründen. Immer wieder bekniete er Freunde und Bekannte, dass sie für ihn alte Bücher und Handschriften beschaffen sollten. Wertvolle Funde bezahlte er fürstlich. Und diese landeten aus allen Himmelsrichtungen in seinem Büro, darunter auch Reden und Briefe von Cicero, von welchen fast eineinhalb Jahrtausende niemand etwas gewusst hatte. Ciceros Briefe entdeckte Petrarca angeblich in der Kapitelbibliothek von Verona, wo seltsamerweise zuvor niemand von deren Vorhandensein wusste.
Wie bei vielen anderen spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Bücherfunden durch Humanisten „the original was soon lost by Petrarch, and he demonstrated a copy instead.“214 Es gibt noch andere Merkwürdigkeiten bei Petrarca wie z.B. den Brief an den römischen Geschichtsschreiber Titus Livius215, der nach konventioneller Geschichtsauffassung als Ausgeburt seiner dichterischen Phantasie betrachtet wird.
Ein unbefangener Betrachter, der nicht mit althistorischer Fachblindheit geschlagen ist, kann bei der Lektüre dieser abenteuerlichen Entdeckungsgeschichten, welche vor allem die römische Antike betreffen, leicht den Eindruck gewinnen, dass es bei dieser Entdeckung der antiken Schriften zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist. Es ist wohl nicht auszuschließen, dass man das, was man nicht finden konnte, erfunden haben könnte.
Dieser Verdacht gilt nicht nur für die Germania des Tacitus, ist jedoch hier besonders angebracht. Viele Aussagen dieser Schrift von Tacitus passen überhaupt nicht zu Methode und Stil von Tacitus und seinem historiographischen Konzept sine ira et studio („ohne Zorn und Leidenschaft“). Denn die Germanen sind hier im Positiven wie im Negativen arg drastisch dargestellt. Diese Schilderung der Germanen passt viel eher in das Konzept der römischen Kurie und des italienischen Humanismus, die Vorfahren der Deutschen – im Gegensatz zu denen der Italiener – recht barbarisch erscheinen zu lassen. Es ist darum der in Deutschland vorherrschenden Ideologie, welche sich primär von der Germania des Tacitus ableitet, von einem 2000 Jahre alten Deutschland zu sprechen, mit äußerster Skepsis zu begegnen. Von einem einheitlichen Volk der Germanen und auch von einem deutschen Freiheitskampf unter Hermann dem Cherusker gegen die römische Besatzungsmacht kann keine Rede sein. In dem feucht moorigen „Waldland mit barbarisch wilden Bewohnern“ gab es „nur Häuptlinge, Clanchefs und deren Gefolgschaften“.216 Erschwerend kommt in der Frage der Überlieferung der Germania noch hinzu, dass die mit Hilfe des ungenannten und unbekannten Hersfelder Mönches entdeckte mittelalterliche Ab- bzw. Urschrift dieses Werkes nicht mehr auffindbar ist und dass auch andere sich auf die Antike beziehenden mittelalterlichen Handschriften im Zeitalter des Humanismus vernichtet worden sind, angeblich wegen des schlechten Erhaltungszustandes.
Wenn man bedenkt, wie groß der Prozentsatz der gefälschten und manipulierten mittelalterlichen Urkunden und sonstigen Quellen ist, was übrigens auch von den konventionellen Mediävisten anerkannt ist, dann ist wohl nicht auszuschließen, dass manche antike Handschriften gar nicht aus der Antike stammen, sondern Spezialanfertigungen des Mittelalters sind. Zhabinsky bringt eine Menge von Argumenten vor, welche bezeugen, „that all ‘ancient’ manuscripts are literary works of the 15th and 16th centuries and that there never was in reality an ‘ancient’ Rome and Greece as modern historical science teaches us.”217 Selbst wenn man diese Auffassung von Zhabinsky, die im Grunde Davidson schon vorher geäußert hat, nicht teilt, führen die Forschungen zur römischen Antike zunehmend zu der Erkenntnis, dass das uns überlieferte Bild vom klassischen Rom verzerrt ist und in vielen Punkten nicht mehr der Wirklichkeit entspricht.
Fälschungen und Erfindungen von antiken Handschriften bzw. deren Abschriften in der Zeit der Renaissance konnten lange nicht mit hundertprozentiger Sicherheit im Sinne eines juristisch tragfähigen Beweises nachgewiesen werden. Solche Fälschungen im literarischen Bereich sind allerdings sehr naheliegend. Denn es ist inzwischen immer wahrscheinlicher, dass selbst renommierte Künstler der Renaissance sich als Erfinder und Fälscher von antiken Kunstwerken betätigten.
„Even the great Michelangelo sinned with counterfeits in his youth. He created a figurine of Cupid and at the suggestion of a friend sold it as an antique original. The forgery presently was uncovered, but the sculptor was already well known: they thought that he was able to ‘ascend to the mastery of the ancient sculptors.’“
Der berühmte italienische Architekt Benvenuto Cellini (1500-1571) berichtet in seiner Autobiographie, “how he created vases which were declared as antique”.218 Natürlich gab es auch im 19. und 20. Jahrhundert erfolgreiche Fälscher, wie z.B. Israel Rouchomovsky und Aleco Dessena. Ihnen gelang es, antike Kunstwerke herzustellen, welche selbst von Experten als echt akzeptiert und sogar an Museen verkauft worden waren.219
Fälschungen bleiben aber nicht auf die griechische und römische Antike beschränkt. Selbst die ägyptische Geschichte ist dagegen nicht gefeit. Vogl und Benzin, die sich intensiv mit der Medizin der alten Ägypter auseinandersetzen, stellten bei der Auswertung zahlreicher Pharao-Mumien fest, dass „das ungefähre Sterbealter eines Leichnams … recht oft nicht mit den aus geschichtlichen Quellen erschlossenen Regierungsjahren übereinstimmt.“ Beide Autoren ziehen aus dieser Inkongruenz den Schluss, dass „alle Herrscherlisten [im alten Ägypten] große Mängel aufzeigen“.220 Da stellt sich natürlich die Frage, ob die Herrscherlisten der Antike (nicht nur des alten Ägypten, worauf Heinsohn immer wieder hinweist) bewusst gefälscht oder nur das Produkt einer fehlerhaften antiken Chronologie sind.
Ein Musterfall einer lange nicht erkannten neuzeitlichen Fälschung ist die Büste der Nofretete. Der Schweizer Kunst- und Architekturhistoriker Henri Stierlin stellt deren Echtheit in Frage:
„Die Nofretete sei während der Ausgrabungen 1912 als Experiment der deutschen Grabungsmannschaft entstanden und somit erst knapp 100 Jahre alt“, meint Stierlin. Dieser begründet seine These folgendermaßen: „Bei einem Grabungsbesuch sei die von dem Bildhauer Gerhardt Marks geschaffene Skulptur Vertretern des regierenden sächsischen Königshauses aufgefallen und fotografisch festgehalten worden. Anschließend habe man sich nicht mehr getraut, ihre Echtheit zu dementieren, um die Hoheiten nicht lächerlich zu machen.“221
Der Innsbrucker Althistoriker Raoul Schrott bringt sogar gute Argumente dafür, dass Troia mehr als ein Jahrhundert lang am falschen Platz erforscht und ausgegraben wurde. Schrott verlegt Troja in den Südosten der heutigen Türkei und vermutet in Homer keinen Griechen, sondern einen mit dem Griechischen vertrauten Schreiber des assyrischen Herrschaftssytems. Es scheint die griechische Sprache sehr alt zu sein, wohl älter als Hebräisch, Arabisch und wohl älter auch als Assyrisch. Diese Erkenntnis ist das Ergebnis der jahrelangen Forschungen von Joseph Yahuda, welche weiter unten näher erörtert werden.
Die israelischen Althistoriker Arye Edrei und Doron Mendels vertreten die Auffassung, dass das Griechische erstaunlicher Weise nicht nur in Alexandria, sondern sogar im Westen des Römischen Reiches in der Spätantike und im frühen Mittelalter die am meisten gebrauchte Verkehrssprache der Juden war.
Die oben erwähnten Beispiele aus der ägyptischen, griechischen und römischen Geschichte zeigen, dass nicht nur literarische, sondern auch Sachquellen Fälschungen sein können. Auf welchen dubiosen und fragwürdigen Quellen – vielfach aus zweiter und dritter Hand – unser Wissen über die antike Geschichte gebaut ist, zeigt Roman Landau in seinem Kapitel „Ungelöste Rätsel der Antike“ in seinem Buch von 2006.222
Die Möglichkeit, dass also auch sachliche Quellen der Antike gefälscht oder falsch datiert sein können, sollte aber die Historiker der Antike und des Mittelalters nicht dazu verleiten, die literarische Überlieferung allzu einseitig in den Vordergrund zu stellen und auf den Primat der schriftlichen Quellen zu pochen. Die ausschließliche Auswertung literarischer Quellen zur Beschreibung und Beurteilung der Antike würde also, als Quintessenz meiner obigen Betrachtungen, nicht nur zu einem verzerrten, sondern sogar zu einem einseitigen Bild der Antike und nicht zuletzt der ägyptischen Geschichte führen. Es gibt nämlich einige technische Funde, welche auf die technologische Dominanz von Ägypten, vor allem seiner Hauptstadt Alexandria, gegenüber Italien bzw. Rom sowie anderen Regionen des Römischen Reiches hindeuten. Es hat sich ja inzwischen nicht nur bei Technikhistorikern herumgesprochen, dass die Ingenieure Ktesibios und Hieron in Alexandria im 3./2. Jahrhundert funktionsfähige Automaten entwickelten und die Weltstadt Alexandria, wo zahlreiche Juden lebten, nicht nur ein hohes technologisches, sondern auch ein hohes kulturelles Niveau (z.B. Bibliothekswesen) erreichte. Durch einen ausgeklügelten Automatismus öffneten sich in Alexandria die Türen des Tempels, nach Abkühlung der Luft schlossen sich diese wieder. Die Gläubigen mussten annehmen, dass ihr Gott „eine hydropneumatische Maschine war“. Nur ein kleiner „eingeweihter Kreis der schlauen Priester“ wusste, wie diese Technik wirklich funktionierte.223 Es gibt aber noch weitere Techniken, welche nicht in das von uns gelernte Schulwissen passen, z.B. der „Mechanismus von Antikythera“. Dieses Gerät, welches man heute als „Mechanismus von Antikythera“ bezeichnet, entdeckten Schwammtaucher Ende des 19. Jahrhunderts in rd. 60 Meter Tiefe vor der kleinen Südägäisinsel Antikythera. Ob das hier gefundene Gerät etwas mit Alexandria, welches auf den östlichen Mittelmeerraum ausstrahlte, zu tun hat, ist nicht erwiesen, aber doch wahrscheinlich. Dieser bisher noch nicht geklärte Apparat, aufbewahrt im Archäologischen Museum von Athen, ähnelt „nach Beschreibungen von Archäologen einer Art Computer der Antike“ und könnte nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen „ein Zeitrechner und Orientierungsgerät für Seefahrer“ gewesen sein. Das Gerät „stammt nach Angaben der Forscher aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert und ist vermutlich auf der Insel Rhodos vom Astronomen Poseidonios konstruiert worden.“224 Das Gerät soll nach dem neuesten Stand der Forschung (Mike Edmunds von der Universität Cardiff in Wales) etwa 150 bis 100 Jahre vor Christus gebaut worden sein. Hier der neueste Stand der Erkenntnisse aus dem Internet:
„Mit einer überraschend komplizierten astronomischen Rechenmaschine haben die alten Griechen den Lauf der Himmelskörper berechnet. Der Mechanismus von Antikythera, eine im 2. Jahrhundert vor Christus gebaute Zahnradapparatur, ist weit komplexer als alle bekannten technischen Geräte, die in den folgenden tausend Jahren entwickelt wurden. Das berichtet ein internationales Forscherteam im Journal ‘Nature’ nach einer erneuten Untersuchung der Apparatur.“225
Diese umwerfende Entdeckung auf dem Meeresgrund könnte nicht nur dazu beitragen, dass neue archäologische Quellen der Antike nicht bloß eine Ergänzung der literarischen Quellen sind, sondern auch dazu führen, unser Bild von der Antike zu revolutionieren.
Griechische Quellen
Noch schwieriger als für das Römische Reich ist die Quellenlage im Bereich der griechischen Antike. Selbst Ferdinand Gregorovius226 ist höchst verwundert, dass über Athen, die einst die größte und bedeutendste Stadt des antiken Hellas gewesen sein soll, so wenig überliefert ist. Bezeichnenderweise waren, wie Ferdinand Gregorovius feststellen musste, die Originalnamen der Mehrheit der antiken Monumente von Athen vergessen. Von ihnen hatten sich ohnehin meist nur spärliche Ruinen erhalten. Auch die antiken Landschaftsbezeichnungen waren durch moderne Namen ersetzt worden. Man reiste z.B. nicht mehr zum Peloponnes, sondern nach Morea. Auf dem Peloponnes lebten seit dem frühen Mittelalter so gut wie keine Griechen mehr. Diese wurden in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts angeblich durch hellenisierte „jüdische Skythen“ in Kooperation mit den Slawen nach Sizilien verjagt.227 Der gesamte Balkan wurde durch die slawische Expansion besiedelt. Diese „slawische Infiltration“ führte schließlich dazu, dass griechische Sprache und Kultur so gut wie vollständig verdrängt wurden.228 Das gilt auch für die griechischen Namen.
Nach der Befreiung Griechenlands vom sog. osmanischen Joch musste in der antiken griechischen Überlieferung nach den ursprünglichen Namen gesucht werden bzw. nach den Namen, welche nach Auffassung der antiken Autoren die ursprünglichen gewesen sein sollen. Die Monumente bekamen also die Namen verpasst, welche man in der altgriechischen Literatur gefunden bzw. neu entdeckt hatte. Sehr seltsam, dass die nichtgriechischen ausländischen Forscher über die Denkmäler und historischen Relikte besser Bescheid wussten als die Bewohner von Athen in der Neuzeit. Auch im Athen der Renaissancezeit haben wir ähnliche ‘Verluste’ von wichtigen Quellen zu beklagen wie in Italien. Der Katalog von Inschriften und lokalen Namen von Denkmälern in Athen, welcher in der Mitte des 15. Jahrhunderts eingerichtet worden sein soll, ging bezeichnenderweise vollständig verloren und wurde nie mehr gesichtet.229
Hier stellt sich die Frage: Kann man das angebliche Schweigen der Quellen so interpretieren wie im 19. Jahrhundert der bayerische Fallmerayer, der diese Tatsache damit erklärte, dass die Awaro-Slawen die gesamte Bevölkerung des alten Griechenland niedergemetzelt hätten? Seit dem 7. Jahrhundert A.D. findet man bei den byzantinischen Schriftstellern viel häufiger Namen italienischer als griechischer Städte. Nirgendwo ist jedoch überliefert, dass Athen von Feinden angegriffen oder zerstört worden sei. Nicht einmal die berühmten Monumente der Stadt werden bei dem Schriftsteller Sinesius erwähnt. Viele antike Tempel sollen im Mittelalter in christliche Kirchen umgewandelt worden sein. Es lassen sich auch keine Schulen und Bibliotheken im Mittelalter nachweisen. Höchst glaubwürdig ist die Enttäuschung von Michael Choniates aus Konstantinopel, welcher 1174 zum Bischof von Athen ernannt worden war. Er soll anlässlich seiner ersten Reise nach Athen statt glänzender Marmorbauten nur „zerfallene Mauern und hüttengleiche Häuser zu seiten armseliger Gassen“ zu Gesicht bekommen haben. Er gewann den Eindruck, dass die Bewohner des 12. Jahrhunderts wie „auf Schutthaufen“ hausten.230 Es lebten in Griechenland und auch in Athen fast keine Griechen. Noch im 19. Jahrhundert bezeichneten sich die Bewohner von Griechenland und der griechischen Inseln als Pωμαιοί, als Römer, und wurden auch von den Türken so genannt.231 Nicht einmal die Einwohner Athens sprachen mehrheitlich Griechisch. Die griechische Sprache wurde erst wieder seit der Renaissance, nicht zuletzt auch auf die Initiative des Westens hin, die offizielle Sprache der in Griechenland lebenden Menschen. Voll durchgesetzt hat sich die griechische Sprache in Griechenland aber erst nach der Loslösung vom Osmanischen Reich. Und auch erst dann wurden aus den „Römern“ wieder „Hellenen“ (Έλλενες). Zur Bildung der griechischen Nation und zur Etablierung einer einheitlichen neugriechischen Sprache in Griechenland haben, was heute kaum noch jemand weiß, auch das wittelsbachische Königshaus und das Königreich Bayern einen bedeutenden Beitrag geleistet. Selbst die modernen Olympischen Spiele von 1896 in Athen sind ohne bayerische Initiative und Kapital nicht denkbar.232 Die Erinnerung an die antiken Olympischen Spiele war im modernen Griechenland komplett verloren gegangen.
Das mittelalterliche Griechenland ist im Grunde, ethnisch betrachtet, kein griechisches Land, es war überwiegend von Slawen bewohnt. Slawisch sind auch die Namen fast aller Orte und Siedlungen gewesen. Davidson schließt nicht aus, dass „slawische Kulturen Träger dieses Griechentums sein könnten“.233
Erst seit dem 16. und 17. Jahrhundert A.D. tauchen allmählich wieder griechische Namen in Griechenland auf. Höchst bezeichnend ist die wenigen Historikern bekannte Tatsache, dass Griechenland für das griechisch geprägte Byzantinische Reich234 im Grunde lange Zeit ein Fremdkörper gewesen war und im 8. Jahrhundert u. Z. wie ein feindliches Land erobert werden musste. Im 8. Jahrhundert diente Griechenland sogar nachweislich als Exil für politische Kriminelle. Erst seit dem 15. Jahrhundert taucht Griechenland wieder aus dem angeblichen Dunkel der Vergangenheit auf, und vor allem Athen gewinnt für die Handelsmacht Venedig strategische Bedeutung. Nicht einmal die konservativsten Historiker können leugnen, dass das Bild des klassischen Hellas erst im Rahmen des modernen humanistischen Bildungsideals (Griechisch und Latein als Hauptsprachen an den Gymnasien) entscheidend durch die klassische Restauration des 19. und 20. Jahrhundert geprägt worden ist. Wir dürfen heute davon ausgehen, dass im Rahmen dieser euphorischen Restaurationsideologie manche Schwachstellen der antiken Überlieferung übersehen und auch literarische und sachliche Quellen gefälscht worden sind. Für diese Behauptung liefert Zhabinsky235 gute Argumente, wie sie auch Davidson, Landau und andere Autoren der Hamburger Schule schon vor Jahren gebracht haben. Zhabinsky stellt sogar die Behauptung auf, dass seit dem 18. Jahrhundert A.D. archäologische Expeditionen „purposefully destroyed all the discoveries that contradicted the established views on history. In the best case, they declared them as erroneous.”236
Es sind also auch für das antike Griechenland gewichtige Bedenken anzumelden. Auch hier bestimmt nicht die historische Realität die öffentliche Meinung, sondern die Forscher suchen nach Dokumenten und Zeugnissen, welche in das Bild der öffentlichen Meinung passen. In diesem Sinne empfiehlt Nicolò Macchiavelli, ein typischer Vertreter der Renaissance, den Fürsten, sich die Geschichte als ein Instrument nutzbar zu machen, mit welchem man die Untergebenen wirkungsvoll regieren kann. Das bedeutet ja wohl, dass sich die Herrschenden genauso wenig an die Objektivität der historischen Aussage halten müssen wie an die Regeln der Moral.237 Für die Machtpolitik der Renaissance wie der sog. westlichen Großmächte gilt: Wenn man die Dokumente, welche die Nachfrager wie Politiker, Medien, wissenschaftliche Institute und sonstige Machtträger haben wollen, nicht findet, dann muss man etwas nachhelfen. Wer sucht, der findet. Wer für das Finden der richtigen Dokumente und Daten gut bezahlt wird, findet noch mehr. Die Brotgeber von Macchiavelli, die Medici in Florenz, scheinen kein ausgeprägtes Wissen von der Antike gehabt zu haben. Udo Kultermann, der die Geschäftskontrakte der Medici studierte, fand nämlich heraus, dass „die Medici über Vertreter in Brügge Teppiche aus Flandern hatten kommen lassen, durch die sie mit Szenen der antiken Geschichte vertraut wurden“.238 Aussagen dieser Art, welche sich übrigens auch bei Fomenko und anderen russischen Gelehrten finden, werfen einen Schatten auf die landläufige These, dass die Renaissance tatsächlich „die Wiederentdeckung der heidnischen Kultur der Antike nach dem langen Schlaf des Mittelalters“ auf allen Lebensgebieten war. Diese Frage zu stellen, ist nicht nur im Fall des Weiterlebens der römischen, sondern auch der griechischen Antike angebracht.
Eine zentrale Frage der altgriechischen Geschichte ist in diesem Sinne die attische Demokratie, welche ja einen wichtigen Bestandteil der europäischen Ideologie der Renaissance und des Humanismus wie auch des Neuhumanismus in der politischen Gegenwart bildet.
Besonders relevant erscheint mir dazu eine Stelle aus den Historien von Herodot über den persischen, durch Kleinasien führenden Feldzug des Xerxes gegen 480 v. u. Z. gegen Festlandgriechenland, vor allem gegen das ‘aufmüpfige’ Athen. Neuere Forschungen machen deutlich, dass der „Despot Xerxes“ ein Produkt der altgriechischen und modernen amtlichen europäischen Historiographie ist.239
In diesem hoch brisanten Bericht Herodots wird uns glaubhaft versichert, dass der persische Feldherr Mardonios, Schwiegersohn des persischen Königs Dareios, anlässlich dieses Feldzuges im jonischen Kleinasien wohl im Jahre 592 vor u. Z. „alle [griechischen] Tyrannen in den jonischen Städten“ absetzte und die Demokratie wieder einrichtete. Anschließend fuhr er weiter zum Hellespont.240 Im Zusammenhang mit dieser Maßnahme des Mardonios verweist Herodot 6,43 auf „jene Hellenen, die nicht glauben wollen, dass Otanes damals den persischen Sieben die Einführung der Demokratie in Persien vorgeschlagen und empfohlen hat.“ Otanes, Utâna, war einer von den sieben adeligen persischen Verschwörern, welche den Usurpator Gaumâta getötet und Dareios I., dem Großen, geholfen hatten, den Thron zu besteigen. Die Einführung einer Demokratie im Persischen Reich ist wohl letztlich daran gescheitert, dass sich die Demokratie für ein großes Imperium nicht so eignet wie für einen relativ kleinen griechischen Stadtstaat. Wenn es auch im alten Persien keine formelle Demokratie gab, so gab es doch wohl schon seit elamischer241 Zeit Prinzipien, wie man sie in der Antike nirgendwo anders findet. König Kyros gestattete nicht nur „den in Babylon versklavten Juden die Rückkehr nach Jerusalem, damit sie ihren Tempel wieder aufbauen konnten“, sondern schuf auch „das erste religiös und kulturell tolerante Reich der Welt“, in welchem immerhin 23 verschiedene Völker unter königlicher Zentralregierung friedlich zusammenlebten. Die humanen und politischen Errungenschaften, welche die europäische Forschung seit dem 19. Jahrhundert den alten Griechen und Römern zugeschrieben hatten, gab es im alten Persien also schon weit früher.
Um die attische Demokratie in ihrer wahren Qualität zu beurteilen, ist zudem zu bedenken, dass sie im wesentlichen auf eine kurze Zeitspanne im 5. Jahrhundert vor u. Z. beschränkt und fast ausschließlich im Peloponnesischen Krieg von Thukydides überliefert ist. Bei der Beurteilung der griechischen Klassik beachtet die amtliche Historiographie viel zu wenig, dass es in Athen noch bis zum Ende des 6. Jahrhunderts vor Chr. eine klassische Tyrannis unter Hipparchos und Hippias gab. Bei der Lektüre der klassischen griechischen Geschichtsschreiber gewinnt man zwar den Eindruck, als ob die attische Demokratie massiv am Sturz der attischen Tyrannis mitgewirkt habe. Das stimmt aber leider nicht. Es war nämlich eine Interventionsarmee der Spartaner, den (aus athenischer Sicht) antidemokratischen Prototypen, welche 510 die Herrschaft des Tyrannen Hippias beseitigt hatte. Es ist paradox, dass dieses Ereignis ausgerechnet in der „Lysistrate“ des Komödienschreibers Aristophanes überliefert ist. Die Athener verstanden es also schon damals, „in den Festen und Ritualen eine kollektive Erinnerung“ einzuüben, „welche die spartanische Intervention austilgte und die Befreiung den Tyrannentötern [von 414 vor u. Z.] zusprach.“242 Die Vorstellung der Athener zur Entstehung ihrer Demokratie steht also im Widerspruch zu bestimmten historischen Ereignissen, welche allerdings in der attischen Komödie anders überliefert worden sind als von den politisch-historischen Schriftstellern, welche dazu neigten, Tatsachen, die nicht in die politisch-demokratische Ideologie der attischen Demokratie passten, einfach zu verschweigen.
Zu dieser einseitigen Interpretation der politischen Realität kommt noch hinzu, dass die attische Demokratie nur einem relativ kleinen Teil der Bevölkerung, welche Steuern zahlten, vorbehalten war. Ausgeschlossen waren alle Frauen, die meist nicht griechischen Periöken, Freigelassene und Sklaven. Ich erinnere weiterhin auch an die leichte Verführbarkeit der Athener durch Demagogen aller Art, z.B. in den sog. Scherbengerichten (ostrakismoí) und beim sizilianischen Abenteuer des Alkibiades. Auch Martin Freksa kommt in seinem Buch „Genesis Europas“ an mehreren Stellen zu der Erkenntnis, dass selbst „zu der Zeit, als Perikles auf der Höhe seiner Macht stand, Attika nur dem Namen nach eine Demokratie war.“243 Sie war eine „bloße Fassade“.244 Das Bürgerrechtsgesetz von 451 v. Chr., auch als „Bastardgesetz“ betitelt, wurde „im Zusammenhang mit einer wirklichen oder angeblichen Überfremdung Attikas“245 beschlossen. Bestimmungen dieses Gesetzes, dass z.B. „Kinder, deren Mutter nicht aus Attika stammt, als Ausländer gelten“246, sind weder ein Ausdruck von Toleranz gegenüber ‘Fremden’ noch ein Argument für die angeblich so hochentwickelte attische Demokratie.
Wie wenig die Athener demokratische Prinzipien auch anderen Städten und Staaten gegenüber anwandten, zeigt ja nicht nur der Überfall auf Syrakus, sondern auch die von jeglicher demokratischen Ethik losgelöste Behandlung der peloponnesischen Melier, wie diese Thukydides in seinem berühmten Melierdialog problematisiert hat. Den attischen Demokraten galt bei der Behandlung der Melier Macht vor Recht. Demokratie hatte in der attischen Außenpolitik keinen Platz. Daraus wird aber auch ersichtlich, dass die heute immer wieder als Vorbild gepriesene attische Demokratie völlig losgelöst war von rechtsstaatlichen Prinzipien sowohl nach innen als auch nach außen. Nach modernem Demokratieverständnis ist jedoch Demokratie ohne Rechtsstaatlichkeit undenkbar.
Die hier geschilderten Fälle mahnen zu einem kritischeren Umgang mit den literarischen Quellen und den affirmativen Historikern, die uns diese vorsetzen. Sie lassen es aber auch durchaus realistisch erscheinen, dass Dichter wie Aristophanes historische Sachverhalte und Ereignisse objektiver darstellen als die politisch gesinnten Autoren, falls nicht die einen wie die anderen in der frühen Neuzeit frei erfunden sein sollten.
Es ist ein großes Verdienst von Morosov, auch Sachquellen in seine kritischen Betrachtungen der griechischen Antike einbezogen zu haben. Er verweist dabei auf Abbildungen, die bis heute von der althistorischen Geschichtsforschung als antik eingestuft werden. Die von ihm ausgewählten Bilder (Anhang II) zeigen in erstaunlicher Weise typisch christliche Symbole, wie sie im Mittelalter und in der Neuzeit immer wieder vorkommen. Aus der Fülle der von ihm gebrachten Beispiele möchte ich nur auf den angeblich mesopotamischen assyro–babylonischen König Ashur– Nazareh–Khabal, der angeblich gegen 930 vor u. Z. gelebt haben soll, verweisen. Doch dieser vermeintlich in der Antike lebende König hat ein christliches Kreuz auf seiner Brust und schaut unverkennbar wie ein orthodoxer Eparch des Mittelalters aus.
Aus der Tatsache dieser äußerst problematischen und vielfach dubiosen Überlieferung der klassischen Autoren und Sachquellen der Antike und ihrer vielfach zweifelhaften Zuordnung kann man den Schluss ziehen, dass das uns überlieferte Bild der Antike weitgehend nicht der bisher herrschenden Lehre entspricht. Das Bild, das wir heute von der Antike, vor allem der griechischen Klassik, haben, ist unvollkommen, unvollständig und verfälscht, da ja viele antike Autoren verloren gegangen, die erhaltenen durch permanentes Abschreiben fehlerhaft sind und manche Autoren auch erfunden sein können.
Auch bei unverfälscht und korrekt überlieferten Quellen der Antike gab es die Möglichkeit, geschichtliche Ereignisse und Sachverhalte tendenziell darzustellen und ideologisch zu verzerren. In diesem Sinne regte sich in der späten römischen Kaiserzeit ab dem 4. Jahrhundert der „Geist der Lüge“ in der „offiziellen Schriftstellerei“, auch bei den christlichen Autoren. Dieser beherrschte in besonderem Maße die Kirche im 5. und 6. Jahrhundert. Der bekannte deutsche evangelische Theologe Adolf von Harnack charakterisiert diese Entwicklung mit dem lapidaren Satz:
„In diesen Jahrhunderten hat keiner mehr irgendeiner schriftlichen Urkunde, einem Aktenstück oder Protokoll getraut.“247
Um ein komplettes Bild der Antike zu erhalten, ist es daher unbedingt erforderlich, das gesamte Quellenmaterial, das uns aus der Antike geblieben ist, heranzuziehen und im Sinne der von Herbert Hunger getätigten kritischen Analyse neu auszuwerten und zu bewerten. Auch die lange Zeit verfemten Forschungen von Wilhelm Kammeier248 wären es wert, von der konventionellen Forschung ernster als bisher genommen und kritischer analysiert zu werden.
Die reiche archäologische Hinterlassenschaft großer antiker Städte wie Alexandria, Ephesus, Konstantinopel bleibt bei vielen Antike-Kritikern völlig ausgeklammert. Auch die lateinischen Inschriften, vor allem die 16 Bände des ab 1863 herausgegebenen Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL)249 wie auch die Supplemente zum CIL, die Zwölftafelgesetze und die sich daraus ergebende Rechtsentwicklung, die großen Rechtseditionen des Codex Theodosianus250 und des Corpus Iuris251 wie auch die reichen Papyruseditionen, z.B. von Petrie, und nicht zuletzt die etruskischen Relikte252 müssten im Sinne der Thesen von Davidson, Landau und anderen, in Verbindung mit der konventionellen Geschichtsmethodik, systematisch ausgewertet werden. Das ist eine Arbeit, welche die Kräfte eines einzelnen Forschers bei weitem übersteigt, aber nach wie vor ein Desideratum einer kritischen historischen Forschung sein sollte. Eine solche umfassende Forschung könnte sicher auch neue Erkenntnisse zur Wirksamkeit des Juden- und Christentums auf Europa bringen. Zumindest könnte eine systematische zielorientierte Quellenanalyse aller antiken Quellen mehr Licht in den römischen-katholischen Kulturtransfer und dessen Auswirkungen auf Europa bringen.