Читать книгу Ein Tropfen Geduld - William Melvin Kelley - Страница 10
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ОглавлениеLudlow war gerade nach unten gegangen, um Missus Scott zu bitten, ihm einen Knopf an seinem Bühnenjackett wieder anzunähen. Hätte er Nadel und Faden gehabt, hätte er das auch selbst machen können, man hatte ihnen das im Heim beigebracht. Als er sich durch den schmalen Flur tastete, der in den hinteren Teil des Hauses und zur Küche führte, drang der Klang neuer Schritte an seine Ohren. Sie waren jünger und schneller als die von Missus Scott, aber genauso schwer. Er hielt inne, versuchte sie einzuordnen: Es waren die Schritte einer massigen Frau, dann ging er weiter, bis seine Finger auf dem Türpfosten landeten. Die Füße auf der Schwelle, blieb er stehen. Die Hitze aus der Küche legte sich wie ein Waschlappen auf sein Gesicht. Missus Scott und ihre Besucherin kochten. »Missus Scott?«
»Hallo, mein Junge.« Sie war fröhlicher als sonst. »Komm rein. Ich möchte dir jemanden vorstellen.«
Er trat einen winzigen Schritt vor.
»Ludlow Washington, das ist Etta-Sue, meine Tochter.« Ihre Stimme war voller Stolz.
Ludlow blieb, wo er war, wartete auf ein Geräusch, eine Stimme, an die er sich wenden könnte. Die neuen Schritte kamen vor ihm zum Stehen. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mister Washington.« Sie war fast so groß wie er, die Stimme hoch und angespannt.
Er streckte die Hand aus. Ihre Hand war für diese piepsige Stimme zu groß, zu rau, zu kräftig.
Er nickte. »Ganz meinerseits.«
»Bist du wegen was Bestimmtem runtergekommen, Ludlow?« Missus Scott stand auf der anderen Seite des Raums beim fauchenden Gas und rührte mit einem Holzlöffel in einem Topf.
»Ich wollte Sie nicht stören, Missus Scott. Nur ein loser Knopf. Vielleicht könnten Sie mir Nadel und Faden geben.«
»Du störst nicht. Ich bin am Kochen, aber Etta-Sue hat nichts zu tun. Du machst das doch, Schätzchen, oder?«
Etta-Sue sagte nichts, und Ludlow blieb reglos stehen und überlegte, was er jetzt tun sollte. Er kam zu dem Schluss, dass Missus Scott dieses Angebot nicht gemacht hätte, wenn das Mädchen nicht bereit wäre, es zu tun. Er hielt das zusammengerollte Jackett nach vorn. Das Gewicht verließ seine Hand. »Wo hast du deinen Nähkorb, Mama?«
Missus Scott hatte sich weggedreht. »In meinem Schlafzimmer unter dem Bett.« Zwei Schritte. »Komm rein, Ludlow, setz dich.« Jetzt sprach sie in seine Richtung. »Ich hab Limonade gemacht.«
Die Küche war ihm mittlerweile einigermaßen vertraut, und so ging er zum Tisch, tastete nach einem Stuhl und setzte sich. Missus Scott gab Eiswürfel in ein Glas und goss die Limonade darauf. Sie stellte das Glas vor ihm auf den Tisch, und im selben Moment kehrten die schnelleren schweren Schritte zurück, und die Tochter setzte sich seufzend Ludlow gegenüber.
Ihm war nicht recht wohl dabei, dass sie das übernahm. »Sie müssen das wirklich nicht tun. Ich hab gelernt, wie man das macht.«
Ein Weidenkorb wurde leise knarrend aufgeklappt. »Das ist schon in Ordnung, Mister Washington. Mama will, dass ich es mache.« Sie raschelte im Korb herum und schloss ihn wieder.
»Vielen Dank.« Er lehnte sich zurück, etwas verunsichert.
Missus Scott klopfte den Löffel am Topf ab und legte ihn dann auf den Herd. »Etta-Sue ist Dienstmädchen bei weißen Leuten, in einem vornehmen Haus in Willson City.«
Willson City war die Hauptstadt des Bundesstaats. Ludlow war noch nie dort gewesen, aber jetzt hatte er wenigstens etwas, worüber er mit Etta-Sue reden konnte. In der Hitze und der Stille, die in der Küche herrschten, hatte er sich unbehaglich gefühlt. »Das muss größer sein als New Marsails.«
»Neuer. Größer nicht.« Sie kriegte die Zähne kaum auseinander.
Seit er das Heim verlassen hatte, war Ludlow nur Mädchen wie Malveen und Small-Change begegnet. Wie er jetzt hier so saß, der Küchenstuhl hart unter seinem Hintern, die Hose in der Hitze an seinen Beinen klebend, fragte er sich, ob alle anständigen Mädchen so zugeknöpft, kühl und unfreundlich waren wie Etta-Sue. Oder vielleicht war das einfach nur ihre Haltung ihm gegenüber, die Haltung, die tags arbeitende Leute gegenüber nachts arbeitenden Leuten hatten. Er fragte sich, ob sie vielleicht wegen seiner Blindheit so schweigsam war, ob ihr nichts zu sagen einfiel, weil sie befürchtete, ihn zu beleidigen oder zu kränken. Wie auch immer, er mochte sie nicht. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie mein Jackett in Ordnung bringen.«
Er hatte erwartet, dass sie noch einmal sagen würde, es mache ihr keine Umstände, doch stattdessen hörte er ihre Stimme, die auf ihren Schoß gerichtet war, nach seiner Arbeit fragen.
»Es ist eine gute Stelle. Ich verdiene gutes Geld.«
»Ich wette, Sie sind auch gut. Ich muss mal vorbeikommen und zuhören.«
Er war überrascht und konnte nicht erkennen, ob sie es ernst meinte oder ob sie sich über ihn lustig machte.
Missus Scott lachte. »In dieses Lokal setzt du mir keinen Fuß. Sonst mach ich dir die Hölle heiß!« Sie scherzte, aber ihre Stimme hatte einen harten Unterton.
Die Stimme des Mädchens wandte sich der älteren Frau zu. »Wenn ich da reinwill, geh ich auch rein.« Sie war leicht verärgert. »Vielleicht schau ich wirklich mal vorbei.« Das galt wieder ihm. »Ich lass mich nicht mein Leben lang rumkommandieren«, murmelte sie vor sich hin.
»Tun Sie das.« Er ermunterte sie nicht weiter.
Schließlich hörte er neben dem Blubbern vom Herd – Blattgemüse, dachte er –, wie ein Faden abgerissen wurde. »Fertig, Mister Washington.« Ihr Stuhl scharrte über den Boden, und ihre Schritte kamen um den Tisch. »Hier.« Das Jackett fiel in seinen Schoß.
Er stand auf und bedankte sich, nahm an, dass sie direkt vor ihm war. »Ich muss jetzt üben gehen.« Seine Hand lag auf der Tischkante, er orientierte sich und hielt dann auf die Tür zu. Als er einen kühlen Luftzug spürte – der Flur –, blieb er stehen. »Dann bis später, nehm ich an. Vielen Dank noch mal.«
»Nichts zu danken.« Missus Scott antwortete vom Spülbecken aus. Er wusste nicht, wo Etta-Sue jetzt war.
Er ging durch den Flur, fand die Figur des drallen Engelchens auf dem glasglatten, aber klebrigen Knauf am unteren Ende des Treppengeländers und ging in sein Zimmer hinauf. Sein Instrument, bereits aus dem Kasten genommen, lag auf dem gemachten Bett. Elf Jahre lang hatte er jeden Morgen sein Bett gemacht und sich und seine Habseligkeiten für die morgendliche Inspektion hergerichtet, diese Gewohnheit ließ sich nicht einfach so wieder ablegen.
Er nahm sein Instrument und spielte Skalen, ohne es an die Lippen zu setzen. Die Noten hüpften und tanzten in seinem Kopf. Wenn er sich vergriff, merkte er das immer. Er konnte stundenlang lautlos üben, wusste genau, was er spielte. Er setzte sich ans Fenster. Es war mitten am Nachmittag, die Sonne knallte herein, und er begann zu schwitzen. Irgendwo draußen lief in einer Jukebox die neuste Platte von Inez Cunningham. Es schien, als würde sie nicht von anderen Musikern begleitet, da war nur ihre dunkle Stimme in der Hitze. Zwei Männer gingen am Haus vorbei und unterhielten sich lautstark darüber, wie sehr sie ihre Arbeit hassten. In der Nachbarschaft bereitete jemand Spareribs zu und jemand anders Schinken mit Gewürznelken. Eine Wolke Parfüm, dazu das Klackern hoher Absätze, eine Frau lachte, dann ein Mann, dann wieder die Frau.
Er dachte an etwas, was Hardie ihm erzählt hatte: »Du musst einfach ruhig bleiben. Als ich das erste Mal in der Situation war, bin ich nicht ruhig geblieben. Ich war wie ein Hund, der es gar nicht erwarten kann, aus dem Haus rauszukommen. Und das hat das Mädchen gemerkt. Sie hat mir gesagt, sie hätte schon richtige Männer gehabt und würd ihre Zeit nicht mit so ’nem Spund wie mir verschwenden. Also, bleib ruhig, wenn sich die Gelegenheit bietet, so als hättest du es schon tausend Mal gemacht. Selbst wenn sie dir erzählt, ihr Ding wär auf ihrer linken Fußsohle, bleib ruhig. Denn wenn sie erst mal meinen, sie wären schlauer als du, machen sie dich fertig.«
Dann dachte er an Etta-Sue Scott:
Er würde müde nach Hause kommen. Vom langen Spielen würde sein Hals angespannt sein und schmerzen, die Lippen wären taub. Er würde den Schlüssel im Schloss umdrehen, gegen die Tür drücken und in die Stille des Hauses treten. Dann würde er merken, dass Etta-Sue am Fuß der Treppe stand. »Mister Washington?« Sie würde in ihren Schläppchen zu ihm schlurren, und er würde wissen, dass sie nur ein Nachthemd trug.
»Sind Sie das, Missus Scott?« Er würde es ihr nicht leicht machen, würde sie betteln lassen. Sie hielt sich für was Besonderes; tagsüber verachtete sie ihn, weil er nachts in Bars arbeitete und weil er blind war. Aber nachts würde sie wollen, dass er sie liebte.
»Nein. Ich bin Etta-Sue. Sie wissen doch, Etta-Sue Scott?« Sie würde Angst haben, dass er sie fortschickte, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte. Sie würde ganz nah an ihn herantreten, versuchen, die Arme um ihn zu legen, versuchen, ihn zu küssen.
Er würde sie schlagen. Um ihr eine wichtige Lektion zu erteilen, würde er ausholen und sie mit der Faust ins Gesicht treffen.
Nun einen Schritt von ihm entfernt, würde sie keuchen und in Tränen ausbrechen, aber leise, damit ihre Mutter nicht aufwachte und sie hier unten bei ihm entdeckte. Sie würde weinen und versuchen, sich in seine Arme zu schmiegen, ihn anbetteln, sie zu lieben. Er würde ihr Nachthemd fühlen, weich wie die Sommergardinen in Missus Scotts Wohnzimmer.
Er würde sie noch einmal schlagen, sodass sie zu Boden fiel. Sie würde jetzt schluchzen, und er würde dem Schluchzen folgen und sie finden, würde den Saum ihres Nachthemds bis zu ihrer Taille hochstreifen, mit beiden Händen über ihre Schenkel fahren und schließlich in sie hineingleiten. Rechts und links von ihrem Kopf würde er sich in den staubigen Teppich krallen. Zwischen ihren Schluchzern würde sie ihm sagen, dass sie ihn liebte …
Draußen rumpelte auf dicken Reifen ein Feuerwehrauto mit gellender Glocke vorbei. Er legte sein Instrument auf den Stuhl und streckte sich auf dem Bett aus. Er zog sein Taschentuch aus der Hosentasche, rollte sich auf die Seite und stellte sich alles noch einmal vor.