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Das Denken und die Zeit – Quelle unserer Probleme
ОглавлениеDer analytisch denkende Geist verschafft unserer Spezies eine Sonderstellung innerhalb der Evolution. Er vermag neue Technologien zu entwickeln, in die Zukunft zu planen und aus Vergangenem zu lernen. Er beherbergt einen schier endlos großen Werkzeugkasten für die Lösung sämtlicher Herausforderungen und Problemstellungen und trägt wesentlich zur Weiterentwicklung jedes Einzelnen wie auch der Gesellschaft bei. Das Denken hat allerdings auch eine Kehrseite und liegt als sprudelnder Quell menschlichen Problemerlebens nur einen Münzwurf von der konstruktiven Kraft des Geistes entfernt. Bei näherer Betrachtung kann man gar behaupten, dass der menschliche Geist einen Großteil der Probleme sogar selbst erschafft. Nicht nur kann unser Handeln oder unsere Wortwahl zu zwischenmenschlichen Konflikten und problematischen Situationen führen. Vielmehr ist es das Denken selbst, das die Probleme überhaupt erst erzeugt. Ich lade Sie ein, für einen Augenblick über folgende Frage zu reflektieren: Gibt es ohne das menschliche Denken überhaupt irgendein „Problem“ auf der Welt?
Probleme existieren nicht per se. Sie sind eine „Leistung“ des Denkens.
Diese Frage mag provozierend klingen, gerade wenn belastende Umstände das momentane Leben dominieren. Aber lassen Sie uns für einen Moment den geistigen Anteil am Erleben problemhafter Situationen ergründen.
Probleme existieren nicht per se. Sie sind eine „Leistung“ des Denkens und entstehen erst durch die Bewertung einer jeweiligen Situation. Bis zum Zeitpunkt der Bewertung gibt es lediglich Tatsachen und Herausforderungen. Das Konzept von Vergangenheit und Zukunft erzeugt aus diesen Herausforderungen schließlich „Probleme“.
Wenn wir etwa körperliche Schmerzen haben, dann erleben wir eine physische Empfindung, die je nach Schmerzstärke sehr unangenehm und eine große Herausforderung sein kann. Sehr schnell löst diese Empfindung negative Gedanken und Emotionen aus. Die oft mit dem Schmerz einhergehende körperliche Einschränkung kann die Arbeits- und Leistungsfähigkeit sowie den Bewegungsradius begrenzen und somit weitere herausfordernde Begleitumstände mit sich bringen, die ebenfalls als Problem erlebt werden. Die analytisch denkende Suche nach der Ursache dieses Schmerzes ist vorerst ebenso essenziell wie dessen Behandlung. Wenn der Schmerz aber weiterhin besteht und das sorgenvolle Denken einsetzt, dann vergrößert sich das Leiden durch das Denken noch zusätzlich. Natürlich möchte man Schmerzen loswerden und jeder Mensch will schmerzfrei leben. Doch die mentale Bewertung und Ablehnung des Schmerzes verschlimmern das unangenehme Erleben und wir beginnen, innerlich gegen den Schmerz zu kämpfen. Da er sich dadurch nicht verringert, steigt das Gefühl der Machtlosigkeit, was zu mehr Frustration und Ohnmacht führt. Häufig setzt dann eine Denkspirale ein, die von möglichen Schmerzursachen in der Vergangenheit bis hin zur Sorge ob der Zukunft kreist, sollte dieser Schmerz nicht enden oder sich sogar noch verschlimmern. Damit konstruieren wir eine Geschichte rund um die momentane Empfindung, was schließlich das emotionale Leiden beträchtlich erhöht. Das Bewerten einerseits und das Denken in zeitlichen Zusammenhängen andererseits können somit eine gegenwärtige körperliche Empfindung zu einer nicht zu bewältigenden Übergröße ausformen. Hier entfaltet das Denken seine destruktive Kraft.
Wie kann der Geist in einem solchen Fall zu einer Linderung beitragen? Wir können auf heilsame Weise gegensteuern, indem wir beispielsweise den zeitlichen Bezugsrahmen ausklammern und vollkommen gegenwärtig werden. Wenn wir dabei die körperliche Empfindung des Schmerzes ganz in den Fokus unserer Aufmerksamkeit nehmen, um ihr in allen Details nachzuspüren wie ein interessierter Forscher, ohne sie zu bewerten oder innerlich abzulehnen, dann mildert sich der leidvolle Aspekt deutlich ab. Wenn es gelingt, ohne zu denken, ganz mit dieser Empfindung präsent zu sein und sie in der Gegenwart vollständig wahrzunehmen und auch anzunehmen, dann verschwindet meist die geistige Benennung „Schmerz“ aus unserem Bewusstsein. Die Fokussierung auf den Schmerz hilft paradoxerweise, das Leiden zu unterbrechen.
Sollten Sie gerade körperliche Schmerzen empfinden, dann probieren Sie es aus und versuchen Sie, jede Nuance der körperlichen Empfindung wahrzunehmen und diese willkommen zu heißen. Im Kapitel „Die Transformation des Geistes“ werden wir näher darauf eingehen, wie ein Training der Aufmerksamkeit und des Gegenwartsbewusstseins den Umgang mit unangenehmen Empfindungen verbessern kann.