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Stress und Immunsystem – von Schwertkämpfern und Bogenschützen
ОглавлениеSeit dem Ende des letzten Jahrtausends gewinnt eine neue Forschungsdisziplin immer größere Bedeutung in der Medizin: die Psychoneuroimmunologie. Dieses Forschungsfeld gibt uns zunehmend Einblicke in die Verzahnung der Psyche mit den Funktionsweisen des Immunsystems und zeigt uns dadurch, wie Körper und Geist zusammenspielen und permanent ineinandergreifen.
Stellen Sie sich das Immunsystem einmal vor wie eine Streitmacht, die unseren Körper vor Eindringlingen bewahrt und im Sinne des Katastrophenschutzes zur Stelle ist, wenn Reparatur-und Heilvorgänge im Körper notwendig sind. Wie ein altertümliches Heer auf dem Schlachtfeld steht diese Verteidigungsarmee einer Schar von Abertausenden feindlichen Angreifern gegenüber. Während Viren, Bakterien und Parasiten auf der Gegenseite Stellung beziehen, formieren sich die Zellen des Immunsystems zu unterschiedlichen Kampfeinheiten mit jeweils hoch spezialisierten Waffen. Das Immunsystem besteht dabei im Wesentlichen aus zwei Teilen: der Nahkampfeinheit, die als vorderste Frontlinie die Angreifer „mit Schilden und Schwertern“ attackiert, und den Bogenschützen, die in zweiter Reihe aus der Ferne wirken.
Die Frontkämpfer werden in der Medizin das angeborene Immunsystem genannt, weil sie uns bereits von Geburt an in vollem Umfang zur Verfügung stehen. Sie bekämpfen Viren und Bakterien und sorgen für die Wundheilung. Aber auch die Krebszellenbekämpfung gehört zu den Aufgaben dieser Zellen: Das angeborene Immunsystem erkennt mutierte Zellen, die laufend im Körper entstehen, und zieht sie sofort aus dem Verkehr. Diese wichtige Verteidigungslinie wird durch akuten Stress leider erheblich geschwächt.
Zu Beginn einer Stresssituation nimmt die Aktivität des angeborenen Immunsystems durch die Ausschüttung von Noradrenalin zunächst kurz zu. Wir erkennen dies an vermehrten Entzündungsreaktionen, die die Alarmbereitschaft des Körpers signalisieren. Besteht die stresshafte Situation jedoch fort, wird zusätzlich Kortisol aus der Nebennierenrinde ausgeschüttet. Dieses Hormon pfeift die Frontkämpfer wieder hinter die Angriffslinie zurück. In der Folge verringert sich die Abwehrleistung gegenüber Viren und die Wundheilung verzögert sich.
Dieser Effekt wurde durch viele Studien belegt und ließ sich anhand eines Versuchs mit Zahnmedizinstudenten in den USA sehr anschaulich und eindrucksvoll nachweisen. Die Wissenschaftler wollten dabei herausfinden, wie sich Stress auf die Geschwindigkeit der Wundheilung auswirkt. Zu diesem Zweck wurden Studierende der Zahnheilkunde in ein Labor gebeten, wo sie sich einem ungewöhnlichen Prozedere unterziehen mussten. Es wurde ihnen mit dem Skalpell ein 3,5 mm breiter und 1,5 mm tiefer Schnitt am harten Gaumen gesetzt. Zu allem Überdruss mussten die Probanden diese Prozedur sogar zwei Mal über sich ergehen lassen: einmal in der prüfungs- und vorlesungsfreien Zeit und ein weiteres Mal drei Tage vor der ersten großen Semesterprüfung. Die Forscher untersuchten, wie sich der subjektiv empfundene Stresslevel der Studenten, den sie mit Messungen des Kortisolspiegels und psychologischen Fragebögen objektivierten, auf den Verlauf der Wundheilung auswirkte. Das Ergebnis war erstaunlich: In der Ferienzeit dauerte es im Durchschnitt lediglich acht Tage, bis sich die Wunden wieder vollständig verschlossen hatten. In der stressigen Prüfungszeit brauchten die Wunden durchschnittlich elf Tage und somit drei Tage länger, um sich vollständig zu verschließen. Es kam also zu einer Wundheilungsverzögerung von etwa 40 Prozent, nur durch Stress! 2