Читать книгу Pflanzendevas - Wolf-Dieter Storl - Страница 10
ОглавлениеDEVI: GÖTTIN DER VEGETATION
Einst, lange bevor dieses dunkle Zeitalter anbrach, meditierten in den einsamen Bergwäldern des Himalaya die weisen Rishis. Vor ihrem seherischen Auge erschien die unerschöpfliche Kraft, die die Pflanzen aus dem Äther saugen und die die gesamte Natur ebenso wie den menschlichen Mikrokosmos durchpulst, im Bild einer grossen Göttin. Diese Erhabene, die sich ihnen in der Versenkung ihres Geistes offenbarte, überhäuften die Seher mit zahllosen Namen, denn unendlich sind ihre Erscheinungsformen, unbegrenzt ihre Wandlungsfähigkeit. Als Shakti (Energie), als Gauri (die Goldstrahlende), als Uma (Licht), als Jagamata (Mutter der Welt) oder als Parvati (Bergfrau) riefen sie sie an. In ihrer energetischen, furchterregenden Erscheinung ist sie die löwenreitende, dämonenvernichtende Durga (die Unnahbare), Chandi (die Wilde) oder auch Bhairavi (die Schreckliche). Meistens aber wird sie schlicht als Devi, «die strahlende Göttliche», verehrt.
Die lotosgeborene Devi
Devi ist die ewige Begleiterin Gottes. Sie ist Shivas weiblicher, schöpferischer Aspekt. Sie ist selber die Kundalini. In ihrer Urform erscheint sie dem unerschrockenen Seher als ein sich ständig verwandelndes, schillerndes, schreckeneinflössendes Reptil. Allmählich, indem sie sich den höheren Chakren nähert, metamorphosiert die Kundalini in eine hehre, strahlende Göttin, die sich schliesslich im Hierogamos mit Shiva vereint.
Die Seher beschreiben Devi als den Wirbelsturm der Elemente, Shiva als stilles Auge mitten im Sturm. Sie ist der Reigen der Sterne, er der unbewegte Nordstern. Sie ist die unversiegbare treibende Kraft der Vegetation, er die starre Kälte des Winters oder auch die Hitze und Dürre der Wüste, die dem Wachstum ein Ende setzen. Sie ist das Erwachen und Keimen der Samen in feuchter, dunkler Erde, das Sprossen und Spriessen, er das farbig auflodernde Blütenfeuer, das Verstäuben, Verwelken und Versamen der Vegetation. Sie ist Leben, er der Tod.
Shiva ist Stein, Phallus; Devi ist Pflanze, offene Blüte. Und so einfach als Stein und Blüte, als Fels und Baum wurden sie seit dem Paläolithikum verehrt. Hier und da werden sie noch immer in dieser Form angebetet. Oft sieht es der Tourist gar nicht: den Stein, auf den eine schöne Blüte gelegt wurde, oder den mit Wasser liebevoll übergossenen Findling unter einem alten Baumriesen. Höchstens der fachkundige Ethnologe wird da seine Kamera zücken, um ein weiteres Indiz für einen indigenen «Fruchtbarkeitskult» festzuhalten. Und da hat er gar nicht so unrecht, denn das Zusammenbringen von Devi und Shiva, von Energie und Bewusstsein, von Linga und Yoni, lässt alle Geschöpfe glücklich werden und gedeihen – davon sind die Inder überzeugt.
Shiva-Linga mit Blüte
Devi ist die Herrin der Devas, der «Leuchtenden», der Himmlischen. Sie ist folglich auch die Göttin der Pflanzendevas, jener Urbilder, die sich in den einzelnen Arten und Gattungen irdischer Gewächse offenbaren. In der alten Schrift Devi-Mahatmya gibt sie sich als Herrin der Vegetation zu erkennen: «Also, ihr Götter, werde ich das ganze Universum mit diesen Pflanzen erhalten, Pflanzen, die das Leben nähren und die während der Regenzeit meinem Leib entspriessen. Ich werde als Sakambhari (Ernährerin der Gewächse) herrlich sein auf Erden und werde in dieser Zeit den Asura (Dämon) der Trockenheit zerstören!» (Eliade 1963: 280)
Eine Geschichte aus der Kenopanishad führt uns die Macht Devis vor Augen. Einmal wieder hatten die Devas (Götter) die Asuras (Dämonen) geschlagen, und zwar so vernichtend, dass ihr Stolz ins Unermessliche wuchs. «Unsere Tüchtigkeit ist nicht zu übertreffen!» rühmten sie sich selber und hielten sich für die Herren der Schöpfung. Da erschien ein Yaksha, ein Naturgeist von der Art, wie sie alte Bäume, Wälder oder Seen bevölkern. Nur war dieser von einem derartigen Ausmass, dass man weder seinen Anfang noch sein Ende ausmachen konnte. Die erschrockenen Devas schickten Agni, den Feuergott, um herauszufinden, wer dieser Geist sei.
«Ich bin der weise Agni», versuchte er den Yaksha einzuschüchtern, «ich habe die Macht, die ganze Welt in einem Augenzwinkern zu Asche zu verbrennen!»
«Nun gut», antwortete der Yaksha, «hier ist ein dürrer Grashalm, versuche ihn niederzubrennen!»
Wie er sich auch anstrengte, sein feuriger Hauch konnte das Gräslein nicht einmal ansengen. Beschämt schlich sich der stolze Agni von dannen. Nun schickten die Götter den mächtigen Windgott Vayu.
«Und wer bist du?» fragte ihn das unbekannte Wesen.
«Ich bin der Windgott, der die Wolken treibt. Ich habe die Macht, die gesamte Schöpfung in einem Augenblick wie Spreu in der Worfel hinwegzublasen!»
«Gut, dann blase diesen Grashalm fort!»
Vayu blies und blies, bis ihn die Pausbacken schmerzten. Nicht einen Zoll vermochte er das Gräslein fortzubewegen.
Zuletzt kam Indra, der Götterkönig und Blitzkeilträger selbst. Aber da verschwand der Naturgeist, und Devi stand da an seiner Stelle.
«Weisst du nicht, lieber Donnerer», lachte sie, «es ist die Macht der göttlichen Mutter und nicht die der Götter selber, die euch Göttern den Sieg schenkte. Shakti allein ist die Quelle aller Macht im Universum!» (Sivananda 1984: 80)
Die Geschichte will besagen, dass das Feuer, die Luft und alle übrigen Elemente im Dienste der Göttin stehen, auch im Dienste der Vegetation, in der sie sich offenbart.
Devi zu Ehren werden – vor allem in Nordindien – noch heute zwei zehntägige Feste, die sogenannten «neun Nächte» (Navratri), gefeiert. Das eine ist ein Frühlingsfest, und das andere findet im Herbst statt, wenn die Sommerernte eingebracht ist. In jeder Festnacht wird ein anderer Aspekt der Göttin zelebriert. Oft wird sie in den ersten drei Nächten als Durga, die goldhäutige, löwenreitende Dämonentöterin verehrt; in den nächsten drei Nächten als Lakshmi, Spenderin des Glücks und des Wohlstandes, und in den letzten drei Nächten als die weisse Schwanenjungfrau Saraswati, die Muse aller Künstler, Gelehrten und Heiler. Am zehnten Tag dann nimmt die Göttin von den Menschen Abschied. Im feierlichen Festzug wird ihre kunstvoll gestaltete, mit Blumengirlanden überhäufte Statue, in der sie während des Festes anwesend ist, durch das Dorf getragen, um anschliessend im Fluss oder im See versenkt zu werden. Die buntbemalte Gipsfigur löst sich im Wasser auf, derweil die Göttin selber in den Himmel, ins Jenseits zurückkehrt. Dort wird sie sich – sichtbar nur den benedeiten Sehern – auf dem heiligen Berg Kailash in inniger Liebe mit Shiva vereinen.
Ein Teil des aufwendigen Festes ist das Ritual der «Neun Blätter» (Navapatrika). Es ist ein Frauenritual, bei dem ein Bündel von neun wichtigen Heilpflanzen der Göttin geweiht wird. Diese neun Kräuter repräsentieren Devi und die gesamte Pflanzenwelt. Hier wie überall in Eurasien gilt die Neun – dreimal die heilige Drei – als Zahl der Vollkommenheit, der Ganzheit.
Die Kräuter, welche die indischen Frauen für ihr Bündel wählen, sind je nach Region hier und da verschieden. Alle aber sind reich an symbolischer und mythologischer Bedeutung, alle sind heilkräftig und verleihen den Sorgen und Hoffnungen der Frauen adäquaten Ausdruck. Hier nun einige der wichtigsten dieser Pflanzen:
Haridra, die Gelbwurz (Curcuma longa), die wir als Hauptbestandteil des Curry-Gewürzes kennen, ist immer mit dabei. Das Ingwergewächs, dessen Wurzel so gelb ist wie Durgas Haut, ist ein gutes Wundheilmittel und Verdauungstonikum. Gelbwurz vermittelt die Energie der Göttin und mehrt den Wohlstand. Die ayurvedische Heilkunde verschreibt sie zur Reinigung der Chakras und der subtilen Energiebahnen im Körper.
Auch Jayanti (Abutilon indicum), ein gelbblühendes, schleimhaltiges Malvengewächs, welches als Sexualtonikum und bei Weissfluss der Frauen verwendet wird, sollte nicht fehlen, denn es verleiht den Sieg (Jaya) der Göttin.
Einige Blätter des Bel-Baumes (Aegle marmelos) gehören ebenfalls in das Büschel. Die Pflanze, ein Rautengewächs wie die Zitrone oder Apfelsine, hat manchen Reisenden von den Qualen des Durchfalls oder der Ruhr gerettet. Shiva liebt den Baum, denn das dreiteilige Blatt kühlt sein heisses Zeugungsorgan – deswegen legen es seine Verehrer liebevoll auf das Shiva-Linga. Die orangengrossen Früchte gelten als die Brüste der Glücksgöttin oder auch als die Hoden des grossen Gottes. Frauen, die diesen Baum verehren und seine Blätter in das Kräuterbündel nehmen, können gewiss sein, von ihren Ehemännern liebevoll und gut behandelt zu werden.
Ein Zweiglein des im Frühling feurig-orange aufblühenden Ashoka-Baumes (Saraca indica) darf ebenfalls nicht fehlen, denn er ist dem Liebesgott Kama geweiht und erfüllt den Kinderwunsch. Die Zweigrinde dient als Mittel bei übermässiger Monatsblutung und zur Entspannung der Gebärmutter. Als Sita – sie ist das Idealbild der indischen Frau – sich auf ihrer Flucht vor Verfolgern unter diesem schönen Baum ausruhte, blühte er zum ersten Mal. Nach buddhistischer Legende wurde der Erleuchtete (Buddha) unter einem blühenden Ashoka-Baum geboren.
Der Koriander (Dhanya, Coriandrum sativum), in Indien ein Küchengewürz des täglichen Gebrauchs – wie die Petersilie bei uns – gehört ebenfalls in das Bündel. Das Gartenkraut ist ein gutes Hausmittel bei Störungen der Verdauung und Harnorgane. Die Samen des Schirmblütlers gelten als Liebesmittel.
Schliesslich werden noch einige Getreidehalme – sie gelten als lebensspendend – und rotblühende Blumen mit in das Frauenbündel aufgenommen. Die roten Blüten gelten als glücksverheissend. Sie erinnern an die rothäutige Glücksgöttin Lakshmi oder auch die durch den Kampf mit den Dämonen blutrot gefärbten Zähne der Durga.