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Abendessen
ОглавлениеDas dann folgende Abendessen verlief laut und geschwätzig, wie das nun mal bei heranwachsenden unseres Alters gang und gebe ist, trotz guter Kinderstube und dem Wissen wie es wirklich sein sollte.
Es wurde ausnahmsweise ein warmes Essen serviert, da wir uns am Anreisetag befanden.
Ich stocherte leicht abwesend und lustlos in meiner Suppe herum. Ich bin sicher, hätte Heinrich Hoffmann mich heute gesehen, sein Struwwelpeter wäre noch aggressiver ausgefallen.
„Liebeskummer“, fragte Wolfgang mit seinem sprichwörtlichen Einfühlungsvermögen, das dem einer Dampfwalze glich! Da ich die Antwort schuldig blieb, übernahm Hartmut meinen Part:
„Nun laß ihn doch, du siehst doch dass sein Gemütszustand völlig durcheinander geraten ist“, und nach einer Pause ergänzte er:
„Für das Mädchen würde ich zu Fuß nach Amerika gehen.“
Das war gewiß etwas übertrieben, denn Hartmut war von Natur aus faul und bequem! So bequem, dass er bei diversen Tanzveranstaltungen erst gegen Ende zu Tanzen begann, um sich nicht vorzeitig zu verausgaben.
Immerhin brachte sein Bekenntnis aber sehr stark zum Ausdruck, dass er sich ebenso in Uschi verliebt hatte wie ich!
Die Neugier von Wolfgang wurde durch die Aussage aber um ein vielfaches gestärkt. Er fuhr seinen Teleskophals bis zum Anschlag aus. Man vernahm förmlich das Klicken beim Einrasten.
Er beobachtete Uschi mit seiner unauffälligen direkten Art, frech und unverfroren.
„Die hat es auch furchtbar erwischt“, entlockte er seinem Mund und ließ dabei sein, wie nach einer Explosion aussehendes Gebiß blitzen.
Der Erfolg lag auf der Hand. In Ermangelung leiser Töne, die für ihn ein Fremdwort darstellten, bekamen alle in der Nähe Sitzenden seine unqualifizierte Bemerkung mit. Die Folge davon durfte niemanden verwundern, denn nun reckten sich ein Dutzend Hälse, um Uschi zu beobachten.
Auch ich blickte immer wieder zu ihr hin, allerdings weniger auffällig. Ihr Teller schien noch unberührt und ihr Blick hing an einem imaginären Punkt an der Decke des Raumes. Ihre schönen Lippen umspielte ein vielsagendes, lieblich, glückliches Lächeln.
Von hinten bekam ich einen anerkennenden Schlag auf die Schultern:
„Klasse Dieter! Die Alte ist eine Wuchtbrumme!“
Es kam von Rüdiger, dem Stangenspargel. Der fehlte mir gerade noch in meiner Sammlung! Ich dachte er würde nichts mehr sagen nach dem Anschiss von Uschi. Ich zog es vor, seine Beifallskundgebung ohne Kommentar hinzunehmen. Das Wort „Wuchtbrumme“, galt bei ihm als höchste Anerkennung und wurde in der Regel nur noch von „Riesig“ übertroffen. Ansonsten erschöpfte sich sein Wortschatz in ziemlich primitiven Formulierungen.
„Riesig Dieter!“
Da war es, als wenn ich darauf gewartet hatte.
Ich schob meine Suppe noch immer von einem Tellerrand zum anderen und fühlte, dass sich inzwischen fast alle Blicke auf meinem Haupt bündelten. Ich wagte nicht mehr aufzublicken und schob aus lauter Verzweiflung ein paar Löffel in meinen ausgetrockneten Mund.
Hätte mich jemand gefragt was ich da esse, ich wäre ihm die Antwort schuldig geblieben.
Ich wußte es nicht.
Für mich in dieser Situation ein Essen ohne Geschmack. Die ekelerregendste Speise hätte man mir heute servieren können ohne dass ich es bemerkt hätte.
So sah ich auch nicht, daß außer Uschi und mir noch jemand seine Suppe stereotyp bearbeitete.
Babsi!
Auch ihr mußte der Appetit restlos vergangen sein. Blas und mit gläsernen Augen fehlte ihr jede Bereitschaft an den Gesprächen der Kameraden und Kameradinnen teilzunehmen. Ihr Blick flog zwischen Uschi und mir ständig hin und her. Ihr sonst so liebliches, zart gerötetes Gesicht wirkte unbeteiligt und strahlte eine eisige Kälte aus. Dass ich den Grund darstellte, erfuhr ich schon bald, aber zu spät, um mit ihr ein offenes, klärendes Wort zu wechseln.
Hartmut riß mich aus meinen Träumen:
„Willst du Schlagsahne aus deiner Suppe machen, weil du so unmotiviert darin herumrührst?“
Ich schob den fast gefüllten Teller zur Seite, gerade als Lerche, unser Frl. Doktor sich erhob und in unsere Ecke kam. Erst jetzt sah ich, daß sie mit Herrn Hermes und einem anderen Paar, offensichtlich Uschis Lehrkräfte, an einem Tisch, zwischen unseren Klassen gesessen hatte.
Sie sah uns an und fragte:
„Ich hoffe, dass es euch geschmeckt hat.“
Durch Klopfen auf den Tischen drückten wir unsere Anerkennung aus.
„Auch denen, die heute nicht einen so gesegneten Appetit besaßen, wünsche ich für die nächsten Tage guten Hunger.“
Alle Blicke richteten sich auf meinen Teller.
Dessen ungeachtet setzte Lerche ihre kurze Ansprache fort:
„Es dürfte euch nicht entgangen sein, dass wir nicht allein hier sind.“
„Einem ist es mit Sicherheit schon aufgefallen“, kam die Spitze. Eine auf mich gemünzte Zwischenbemerkung, die Lerche aber nicht davon abhielt weiter zu sprechen:
„Dort, im hinteren Teil des Raumes sitzt eine Klasse der gleichen Jahrgangsstufe wie wir. Die Mädchen und Jungen kommen aus Hamburg. Wie wir feststellen durften, waren einige schon mal hier an diesem Ort, einbezogen die Lehrkräfte. Wie Herr Hermes und ich weiter erfuhren ist es ja vielleicht ganz geschickt, einige Sachen gemeinsam zu veranstalten...“
„Wie fein für Dieter“, bemerkte Hartmut vorlaut, aber auch darüber setzte sich Lerche erhaben hinweg.
„...ohne dabei aber unser eigenes Programm zu vergessen. Die Fahrt hierher verlief zum Teil für alle recht anstrengend. Aus diesem Grund möchten wir auch davon absehen, jetzt, im Anschluß an das Abendessen noch etwas gemeinsam zu unternehmen. Wir dachten uns daher, dass wir den restlichen Abend hier zwanglos mit unseren Hamburger Freunden, ohne festes Programm, verbringen. Es soll dem Zwecke des gegenseitigen Meinungsaustausches und Kennenlernens dienen, obwohl das Einige ja schon sehr ausgiebig getan haben! “
Wieder richteten sich alle Blicke auf mich.
Lerche fuhr fort.
„Bettruhe ist generell 22.00 Uhr! Ich sagte Bettruhe!
Das bedeutet, dass hier im Aufenthaltsraum gegen 21.00 Uhr zum Aufbruch gerüstet wird. Unsere Wirtsleute müssen anschließend hier für Ordnung sorgen und das Frühstück für den folgenden Tag vorbereiten. Das Haus wird ebenfalls um 22.00 Uhr abgeschlossen. Wer das Haus verlassen möchte, meldet sich bei mir oder Herrn Hermes ab. Wer nicht pünktlich erscheint, steht vor der verschlossenen Tür. Wenn in Ausnahmefällen einmal etwas dazwischen kommt, an der Tür befindet sich eine Klingel, die nachts auf das Zimmer von Herrn Hermes umgelegt wird. Aber bitte nur in Ausnahmefällen benutzen. Zuwiderhandlungen führen unweigerlich zu Konsequenzen für den oder die Betroffenen. Ich apelliere also an euer Gewissen und an eure Erziehung.
So für heute genug. Ich wünsche euch viel Spaß. Ihr könnt euch noch gut zwei Stunden austoben.“
Erneut trommelten wir mit unseren Fäusten auf den Tischen, daß die Teller und Bestecke tanzten und klirrten.
Bevor sich Lerche zurückzog, beugte sie sich unauffällig zu mir hinunter und bat mich, sie schnellstmöglich auf ihrem Zimmer aufzusuchen.
Da sie flüsterte und nach ihrer Ansprache noch alles durcheinander quatschte und diskutierte, bemerkten meine Tischnachbarn nichts von dieser Aufforderung unserer Lehrerin. Mir sollte dies nur recht sein.
Ich fühlte mich allerdings nicht sehr wohl in meiner Haut, da ich nicht wußte was sie von mir wollte? Ich überlegte krampfhaft etwas verkehrt gemacht zu haben, etwas, das ihr nicht entgangen war. Ich konnte aber beim besten Willen keine Verfehlung entdecken! Sollte es mit Klaus seinem „Flug“ im Bus zusammenhängen? War es mein Auftreten mit Uschi? Es blieb nur der Kuß vor versammelter Mannschaft heute Abend! Aber was sollte daran verwerflich sein?
Ich stieg also, nachdem es mir gelang, mich unauffällig zu entfernen, mit deutlichem Unbehagen, die steile Treppe zum Obergeschoß empor.
Auf mein zaghaftes Klopfen an ihrer Tür rief sie:
„Komm herein Dieter, die Tür ist offen.“
Ihre Stimme klang wie immer ohne eine Spur von Mißfallen oder Unmut.