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Die Klassenfahrt
ОглавлениеDer Tag begann mal wieder so normal, daß es schon beinahe wieder unnormal anmutete! Es schien ein wunderschöner Frühsommertag, mitten im Mai zu werden! Die Sonne versuchte schon am Morgen mit aller Macht zeigen zu wollen, wer hier auf Mutter Erde die nächsten Wochen und Monate regiert.
Unsere Klasse war, bis auf zwei Ausnahmen, vollständig versammelt. Die beiden Ausnahmen, wie sollte es auch anders sein, Wolfgang, der permanent zu spät kam und Babsi, unser Partygirl, die allerdings diesmal die Grippe ins Bett zwang!
Heinz, der Bastler und Künstler, beschäftigte sich damit, wie abgesprochen, die beiden heutigen Seiten fein säuberlich aus dem Klassenbuch herauszutrennen, wobei ihm der Umstand, daß es sich um die Mittelseiten handelte, doch sehr entgegen kam!
Uwe plazierte in der Zwischenzeit zirka 30 Reißzwecken so unter die Sitzfläche des Lehrerstuhles, daß die Spitzen schön gleichmäßig zwar herausragten, man es aber bei oberflächlicher Betrachtung nicht sofort merkte.
Alexandra beschäftigte sich noch damit, die Aktfotos eines einschlägig bekannten Massenblattes hinter der zusammenklappbaren Wandtafel zu befestigen während ich versuchte, ohne vorher alles auszukippen, eine randvoll mit Wasser gefüllte Schüssel in den Schubkasten des Lehrertisches zu stellen!
In unserem Vorstellungsvermögen war der durchschlagende Erfolg programmiert, da Herr Paul, dem dieser Anschlag galt, eine Reihe von Gewohnheiten besaß, die sich in schöner Regelmäßigkeit Morgen für Morgen wiederholten. Er bettelte förmlich darum dies in Streichen auszunutzen!
Herrn Paul, unser vorgesehenes Opfer, kann man nicht unbedingt als unsympatisch bezeichnen. Es fehlte ihm lediglich an dem gewissen, unerläßlichen, heißen Draht seinen Schülern und Schülerinnen gegenüber, also uns! Eine unverkennbare Nervosität und schnelle Reizbarkeit ließ uns immer erfinderischer im Aushecken von Streichen zu seinem Nachteil werden.
Das Klingelzeichen auf dem Flur kündigte uns den Beginn des Unterrichtes an!
Sekunden später schon, Pünktlichkeit wurde bei ihm groß geschrieben, vernahmen wir den schlürfenden Schritt unseres Herrn Pauls!
„Guten Morgen“
„Guten Morgen Herr Paul“, brüllten wir strammstehend zurück!
Er nickte kurz und ließ uns damit wissen, auf unseren vier Buchstaben Platz zu nehmen.
Wie gewohnt warf er seine Tasche schwungvoll in elegantem Bogen auf den Lehrertisch. Sie blieb auch genau an der Stelle liegen, wo sich unser Klassenbuch befand. Da seine Tasche das Klassenbuch völlig verdeckte, war Punkt eins unseres Planes erfüllt! Normalerweise befand sich das Klassenbuch nämlich in der Schublade, wo jetzt die Wasserschüssel auf ihren Einsatz wartete.
Für Helmut begann jetzt die schwierigste Phase. Er saß unglücklicherweise, oder für uns glücklicherweise auf dem Platz, wo, wie gewohnt, Herrn Pauls Aktentasche ruhte.
Er sollte, egal wie, die Butterbrotdose aus dieser Aktentasche herauszaubern, um anschließend das Pausenbrot, das er in der Regel während der ersten Unterrichtsstunde zu verspeisen pflegte, zu entfernen und durch einen einfachen, klebrigen Laubfrosch zu ersetzen!
Herr Paul kam ihm, wie erhofft, da es seiner Gewohnheit entsprach, insofern entgegen, daß er die Frühstücksdose selbst herausnahm und fein säuberlich, in Nord- Süd Richtung, Ordnung ist eben das halbe Leben, 2,5 cm von der Tasche entfernt hinlegte!
Dadurch entfiel Aktion „Ohnmacht“, Monikas Aufgabe, Herrn Paul in die hinteren Reihen zu locken, um Helmut sein Vorhaben zu erleichtern. Monikas Seufzer vernahmen wir bis in die erste Reihe und er entlockte mir ein zaghaftes Lächeln.
In diesem Augenblick betrat Wolfgang, völlig außer Puste und mit hochrotem Kopf das Klassenzimmer.
„Entschul....“
Weiter kam er in der Regel nicht, da er zum einen nicht der Schnellste beim Sprechen war und zum anderen Herr Paul, dessen Spitzname übrigens Ede lautete, ihm mit einem donnernden:
„Setzen“,
in das Wort fiel!
Auch heute glich dieser Vorgang den 20 oder 30 Fällen der vergangenen Monate!
Zwischen Kopf und Schulter beliebte es unserem Schöpfer den Hals anzusiedeln, um eine Verbindung zwischen Kopf und Körper herzustellen, was auch nicht zu bemängeln ist.
Bei Wolfgang schien er das allerdings, wie es im Augenblick aussah, total vergessen zu haben. Nicht daß Wolfgang keinen Hals besaß, er hatte nur im Moment den Kopf so weit eingefahren, daß er fast zwischen den Schulterblättern verschwand.
Dass er nach wie vor noch über einen Kopf verfügte, erkannte man spätestens an zwei handtellergroßen Latschen, die in seinem äußerst markanten Gesicht die Ohren darstellten! Wir sagten immer bei der Vergabe der Ohren muß unser Schöpfer sie mit Paddeln, wie beim Rudern üblich, verwechselt haben!
Als er nun endlich hustend und schnaubend seinen Platz erreichte und sich schwer auf den Stuhl fallen ließ, erkannte man bei ihm auch wieder vorne und hinten! Dabei räumten wir wohlwollend ein, daß er sich bestimmt nicht rücklings auf den Stuhl setzte.
Sein Nachbar verabreichte ihm einen leichten Knuff mit dem Ellenbogen und grinste ihn mit der gesamten Breite seines ohnehin nicht gerade schmalen Gesichtes an. Sofort kehrten auch bei Wolfgang nach und nach alle Lebensgeister zurück. Sein Hals wurde lang und länger. Wer das zum ersten Mal sah, kam in Versuchung „Halt“ zu schreien, damit der Kopf sich nicht aus der Gewindeschraube herausdrehen und zu Boden stürzen konnte! Aber mit einem Ruck endete dann das grandiose Schauspiel! Es schien als wäre etwas eingerastet oder ein nicht sichtbarer Endschalter habe angesprochen!
Das anschließende Kopfdrehen bedeutete nicht mehr und nicht weniger eine Funktionskontrolle aller beweglichen Teile der Fläche seines Körpers, die sich oberhalb des Halses befanden und in der Umgangssprache als Gesicht bezeichnet werden.
Die Haare hingen weit über seine Augen hinüber und daß er der Einzige in der Klasse blieb, dem wir keine Augenfarbe zuordnen konnten lag nicht daran, daß er keine hatte, sondern an der Länge seiner Haare! Manche Schüler schworen Stein und Eisen, daß er eine Brille trägt, nur gesehen hatte sie noch niemand! Aus seinen Erzählungen ging hervor, daß sein Vater ihm immer die Haare schneidet, streng nach dem System Kochtopf! Aufsetzen und alles was übersteht, wegschneiden! Vielleicht sollte es sein Vater mal mit einem kleineren Topf versuchen! Gerüchteweise befand er sich schon seit einem Jahr auf Montage! Von Wolfgangs Haarlänge ausgehend auch eine plausible Erklärung! Erstaunlich fanden wir auch die Tatsache, daß er trotzdem alle Personen, die vor ihm standen, erkannte!
Einige behaupten es läge, ähnlich einem Hund, an einem sehr ausgeprägten Geruchssinn, der es ihm ermöglichte, seinen Gegenüber nicht zu sehen sondern zu erschnuppern! Manchmal bekräftigte er diese Behauptungen mit geradezu artistischen Glanzleistungen seines Riechorganes! Leider stellte sich aber hinterher meist heraus, daß es nur eine verzweifelte Übung war, wieder Luft durch seine permanent verstopften Nasenlöcher zu bekommen!
Überhaupt seine Nase! Nach den Ohren unzweifelhaft der größte Teil seines Gesichtes. Er mußte dem lieben Gott eigentlich dankbar sein, daß die Nase vorne im Gesicht angebracht war! Hätte unser Schöpfer in einem Anfall von Hinterlistigkeit die Nase an der rückwärtigen Front angebracht, wäre es unserem Wolfgang nicht erspart geblieben, ein Leben lang eine rote Fahne an die Nase zu hängen, da Teile, die mehr als einen Meter herausragen so gekennzeichnet werden müssen!
Nach den Ohren und der Nase galt sein Mund als drittes uneingeschränktes Gütezeichen. Wenn er lachte, bekamen die Ohren Besuch vom Mund. Die Oberlippe klatschte an die Stirn und die Unterlippe knöpfte sein Hemd zu!
Man mußte schon sehr genau hinsehen, um festzustellen wo der Mund aufhört und die Ohren anfangen. Wenn er dann auch noch mit offenem Mund lachte, konnte jeder in der Nähe befindliche Zahnarzt die Hände ineinander reiben und würde sich um ihn als Patienten bemühen!
Eine Lebensaufgabe für jeden Dentisten!
Dort wo andere Menschen Zähne ihr Eigen nannten, besaß Wolfgang so etwas wie eine Bauruine! Man fragte sich unwillkürlich ob er vielleicht die Zahnbürste mit der Schuhbürste verwechselt hatte?
Alle übrigen sichtbaren Teile seines, nennen wir es weiter Gesicht, überwucherten Sommersprossen! Klaus, sein bester Freund, nannte ihn Millionär- Sommersprossenmillionär! Ich hätte gern gewußt ob sich die Sommersprossen auch in den Mund hinein erstrecken, aber in Anbetracht der zuvor beschriebenen Bauruine und des strengen Geruchs, der einem entgegenschlug, wenn man ihm zu nahe kam, verzichtete ich auf mein Vorhaben!
Ede ließ inzwischen seinen Blick über die Dächer unseres kleinen Städtchens schweifen, entsprechend seiner morgendlichen Gewohnheit, und erzählte uns dabei mit abgewandtem Gesicht etwas von nachlassender Moral und Disziplinlosigkeit der heranwachsenden Jugend!
Dieser sich täglich wiederholende Vortrag nahm zirka drei Minuten in Anspruch. Zu wenig um eine Unterrichtsstunde billig über die Bühne zu bringen, genug Zeit aber für Helmut, unter dem Gekichere der Mädchen, den Laubfrosch anstelle der Butterbrote zu plazieren!
Herr Paul, inzwischen am Ende seines Kurzvortrages angekommen, rieb die zu Fäusten geballten Finger aneinander und stellte sich breitbeinig vor die Klasse!
„Dann wollen wir mal“, sprach er voller Arbeitswut und ging zielstrebig auf die Wandtafel zu.
Einige Mädchen hielten die Luft an und wir Jungen stießen uns gegenseitig an. Der Spaß nahm seinen Verlauf!
Genauso schwungvoll wie er zur Tafel geeilt war, öffnete er sie nun auch!
Es blieb ihm keine Zeit mehr die Flügel wieder schnell zu schließen, da sie seinen Händen bereits entglitten waren und dumpf gegen die Wand schlugen.
Edes Reaktion kam für uns überraschend!
Er trat nämlich einen Schritt zurück und betrachtete sich das anrüchige Werk!
„Ich finde das ist eine großartige Idee, dem trockenen Mathematikunterricht durch etwas Schlüpfrigkeit die Trockenstarre zu nehmen“, sprach er wider Erwarten ganz ruhig!
Nach einer spektakulären Pause fügte er hinzu:
„Da dies aber wohl etwas zu schlüpfrig ist und Ihr euch inzwischen alle Einzelheiten eingeprägt habt, kann Buchmann die nackten Tatsachen entfernen!“
Während der Genannte die Tafel säuberte, zog Herr Paul den Lehrerstuhl unter dem Tisch hervor und ließ sich ächzend, in gut verborgener, aber höchster Erregung, darauf fallen!
Das hätte er sicher nicht tun sollen!
Mir ist es noch heute ein Rätsel, wie ein Mann in seinem Alter, aus dem Stand so hoch springen konnte! Normalerweise unterrichtete er uns in Mathematik, aber um den Ton, den er in diesem Augenblick über die weit geöffneten Lippen ins Freie brüllte, hätte in jeder Tenor dieser Welt beneidet!
Ich weiß nicht welche Stellen seines verlängerten Rückgrates die Reißzwecken getroffen hatten, aber verletzt konnte er nicht sein! Wie sonst waren seine drei Ehrenrunden durch die Klasse in Höchstgeschwindigkeit zu erklären? Nach dieser bühnenreifen Vorstellung rechnete ich mindestens noch mit einem doppelten Salto zum Abschluß, den er mir und meinen Mitschülern aber verwehrte!
Irgendwie ergriff er sich bei seiner beispiellosen Rundenjagd durch den Klassenraum einen neuen Stuhl, auf den er sich schwerfällig niederließ, nicht ohne den präparierten zuvor mit Schwung in die Ecke zu pfeffern!
An seiner rechten Schläfe befand sich ein auffälliger Aderstrang, der bei entsprechendem Ärger stark anschwoll! Für uns immer wieder ein Kennzeichen seiner Erregung, auch wenn er versuchte sie mit all seiner Routine zu unterdrücken, was ihm aber nur begrenzt gelang.
So auch jetzt.
Mir tat er in diesem Augenblick eigentlich schon wieder leid, aber unsere einmal in Gang gesetzte Maschinerie ließ sich ohnehin nicht mehr stoppen!
Noch ehe ich einen Versuch zu seiner Rettung unternehmen konnte, riß er vehement den Schubkasten des Lehrertisches heraus, da er dort unser Klassenbuch vermutete, wo es normalerweise ja auch lag, um die ungehörige Klasse dort einzutragen!
Hinterher ist man immer schlauer als vorher, mochte er jetzt, naß, wie aus dem Pool gezogen, wohl denken? Aber dafür blieb nun keine Zeit mehr.
Die zuvor randvoll mit Wasser gefüllte Schüssel konnte ja nun wirklich nichts für
Ede seinen jämmerlich anzuschauenden Zustand. Dennoch ließ er seine ganze Wut nun an ihr aus!
Seinen ersten Versuch, sie zu einem Schneeball zu formen, verwarf er sehr schnell, spätestens in dem Augenblick, als er merkte, daß sie sich nicht verformen ließ! Leider dachte er nicht bis zum Ende, zum Beispiel aus welchen Material sie bestand, denn wie sonst konnte er auf die Idee kommen, die schwere Porzellanschüssel Richtung Fenster zu werfen?
Entgegen seiner Gewohnheit hatte er heute Morgen versäumt, das Fenster zu öffnen!
Nun stand es offen!
Zugegeben es handelte sich nicht um die konventionelle Art ein Fenster zu öffnen, er bevorzugte in diesem Moment mehr die rustikale und auch teurere Art!
Seine Ader befand sich nun unmittelbar vor dem Platzen!
„Dies ist keine Klasse mit Schülern! Dies ist eine Horde Terroristen“, brüllte er unbeherrscht in die Runde!
„ Ich werde mich umgehend beim Rektor beschweren“, schimpfte er weiter!
Gleichzeitig klemmte er seine Aktentasche unter den Arm und stampfte in Richtung Tür. Auf halben Weg kehrte er um, schnappte sich seine Butterbrotdose und das Klassenbuch, das er nun erst entdeckte, und verschwand laut grollend.
Übrigens hielt sich bis heute das Gerücht an der Schule, daß Herrn Paul für den Rest des Tages der Appetit restlos vergangen war und seine Frau, zu Hause, beim Öffnen der Dose in Ohnmacht fiel und einige Tag an den Folgen eines Schocks behandelt werden mußte!
Wie dem auch sei, den Rest der vorgesehenen Mathestunde verbrachten wir allein im Klassenzimmer!
Sicherlich muss man nicht erwähnen, daß wir, voller Stolz über unsere restlos gelungenen Streiche uns immer wieder gegenseitig, wie eine Laienspielgruppe, die Szenen vorspielten. Dabei übertrieben wir natürlich maßlos, obwohl das eben Geschehene kaum zu toppen war!
Die Ernüchterung kam jedoch schneller als erwartet, und zwar schon in der nächsten Stunde.