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13. Januar 1991
ОглавлениеDürrenmatts Rede auf Gorbatschow. – Am Tag vor seinem Tod, am 14. Dezember 1990, hat Dürrenmatt seine am 25. November gehaltene Rede auf Gorbatschow überarbeitet. Logik und Ausgang des Kalten Krieges leitet er aus der epochalen Leit-Destruktivkraft, der Atombombe, ab, die »eine Kettenreaktion an Furcht« ausgelöst habe. Die Ideologien nur Rationalisierungen eines »irrationalen Konflikts«, dessen Bewegungsform die Unbeweglichkeit war, in der jede Seite sich lähmend in der andern spiegelte. So kam es, »dass die beiden Gegner, im Versuch, einander zu Tode zu rüsten, das Resultat des Zweiten Weltkrieges umkehrten, die Verlierer des heißen Krieges, Deutschland und Japan, wurden zu Siegern des Kalten, und wenn der deutsche Bundeskanzler den tiefsinnigen Ausspruch tat, Karl Marx sei tot und Ludwig Erhard lebe, so vergaß er, dass die Bundesrepublik nur durch den Kalten Krieg zu dem geworden ist, was sie war und schon nicht mehr ist, weil sie sich dank eines Marxisten mit der deutsch-demokratischen Republik zu einem neuen Deutschland vereinigen konnte.«
Dürrenmatt, der Nichtmarxist, schärft ein, man müsse G als Marxisten ernst nehmen, der den Marxismus zu erneuern versucht. (Einiges an Dürrenmatts Darstellung deutet darauf hin, dass er mein Buch über Gorbatschow kannte.) Er schildert die Demilitarisierung der Systemkonkurrenz und die entsprechende Korrektur der Annahmen über das Verhältnis von Imperialismus und Krieg (verwechselt dabei übrigens den 27. Kongress der KPdSU mit dem siebzehnten). Gorbatschow »ahnte die Wirkung kaum, die er auslöste«, als er am Parteiprogramm entsprechende Änderungen vornahm.
Dürrenmatts Kenntnisse über Marx bzw. Marxismus (Marxismen, muss man ja sagen) sind ebenso begrenzt wie diejenigen über die Spezifik menschlicher Entwicklung im Vergleich mit tierischer Evolution. Er macht da keinen Unterschied. Auch hält er Marx für einen mechanistischen Materialisten, für den die industrielle Revolution »abgeschlossen« gewesen sei und der keinen Begriff von Destruktivkräften und vom möglichen Untergang gehabt habe. Das alles falsch. Aber interessant der Hinweis, dass Vaihinger in seiner Philosophie des Als-Ob sich auf Adam Smith bezogen hat, und zwar auf dessen »abstraktives« Als-Ob, die Individuen handelten alle ausschließlich egoistisch. Dann eine etwas privatphilosophische (kaum vermeidlich beim theoretisierenden Schriftsteller) Herr-Knecht-Dialektik. Axiom: das Herr-Knecht-Verhältnis ist »in der menschlichen Natur begründet«. Darauf kenne die Politik zwei Antworten: »Die realistische besteht darin, das Verhältnis Herr und Knecht gerechter, den Knecht freier und den Herrn unfreier zu gestalten, ohne freilich das Verhältnis Herr und Knecht je aufheben zu können […]; die Freiheit liegt mit der Gerechtigkeit ständig im Kampf, der Kapitalismus mit dem Sozialismus, die Welt kann nur sozialer werden, nie sozialistisch, oder nur kapitalistischer, aber nie kapitalistisch.« Die fiktive Antwort auf das (wie bei Aristoteles als naturgemäß vorgestellte) Verhältnis von Herr und Knecht gebe Marx mit seiner Abstraktion des Klassenkampfs. Abstraktionen sind für D allesamt »abstraktive Fiktionen«. Smith’s Abstraktion des Egoismus gilt D als rational im Unterschied zur marxschen Abstraktion des Klassenkampfs.
Man spürt den Stückeschreiber, der seinen Boden betritt, wo er diese luftigen Gedanken handeln lässt. Denn weil die Arbeiterklasse und ihre Emanzipation Fiktionen und weil Fiktionen nicht handeln, muss sich ein Akteur-in-ihrem-Namen finden, und das ist natürlich die Partei. Sie tritt an die Stelle der Bourgeoisie und stellt so das Herr-Knecht-Verhältnis wieder her, aber als gespenstische Repräsentanz der Knechte. Das setzt auch die Abstraktion von Smith, den Egoismus, wieder ins Spiel, aber ganz unfiktiv, die Klassenfiktion vollends zum blutigen Witz machend, als Machtkampf innerhalb der Partei.
Hübsch die Beobachtung von einer Nebenspaltung der Partei in Planer und Beaufsichtiger: »Die Planer haben die Produktion zu planen, und die Beaufsichtiger einerseits die Proletarier, ob sie die Pläne im Sinne der Planer ausführen, andererseits die Planer zu beaufsichtigen, ob sie parteigemäß planen, was wiederum die Planer zwingt, die Beaufsichtiger zu beaufsichtigen, ob sie im Sinne der Partei oder in ihrem eigenen Sinne beaufsichtigen, ein ganzes System von Beaufsichtigern und Planern, bis hin zum obersten Beaufsichtiger und Planer, der als einziger Herr auf einer Pyramide von Knechten sitzt, wobei jeder Knecht die unter ihm befindlichen Knechte als Knechte empfindet und sich als Herr.«
Es ist immer noch Dürrenmatts dramatisches Muster von der Welt als Irrenhaus (»Die Physiker«), wohinein sich ihm der Stoff wie von selbst füllt. Nicht realistische Züge: Waren es früher noch Klassiker-Interpretationskämpfe, mittels derer Machtkämpfe geführt wurden, so geriet Aufstieg zunehmend zur Treueprämie der jeweils höheren Türhüter, wodurch die gesamte Herr-Knechte-Verkettung zu einer Verkettung des Aufstiegs wurde. Das bekannte Regime der verwalteten Apathie entstand.
Gorbatschow sei als »Arbeitsunfall des Politbüros« an die Spitze gekommen. »Zuerst wunderte er sich« – über die Stagnation. (Die von D hier verwendeten Zitate und die kategorialen Verdichtungen finden sich allesamt in meinem Buch.) Es folgt der Rückgriff auf den späten Lenin, der die Perestrojka zu einer »taktischen Maßnahme, die kommunistische Revolution in der Sowjetunion weiterzuführen«, habe machen sollen, wobei Gorbatschow aber übersehen habe, »dass der Kommunismus mehr ist als eine Ökonomie«. Das entgleist wieder. Hier schließt D sein mechanistisches und ökonomistisches Marx-Bild an. Die nie verstandene, aus Furcht vorm (technisch nicht besiegbaren) Tode motivierte Erfindung der Metaphysik, der Magie, der Religion, der Kunst, in einem Wort: der Kultur. Kant, der den Menschen zum Ärger Goethes für radikal böse gehalten habe, ist Dürrenmatts Held. Die Fiktionen sind notwendig, aber der Einsichtige muss nicht an sie glauben. Marx transponierte die Metaphysik in die Fiktion vom Klassenkampf, blieb ihr jedoch unbewusst immer verhaftet, war kein Revolutionär, das war Lenin. Marxens Theorie sei letztlich Religion. Hier bezieht D einiges ihm Passende von Künzlis unsäglicher Marx-»Psychographie«, etwa über angeblichen jüdischen Selbsthass.
Mein Gott, ist eine solche Weltanschauung bequem! Und wie wohl sie aufgenommen wird von der erfreuten Umwelt der Herrschaftsinteressenten! Sie gibt den Freibrief, der den Zugang ins FAZ-Feuilleton gewährt. Aber unter ihrem Schirm gelangen auch Wahrheiten in die Zeitung, die denselben Interessen sehr unbequem sind: Den bundesdeutschen (parasitären) »Siegesrausch« – »die freie Marktwirtschaft wurde heilig gesprochen, das Wort Sozialismus verteufelt« – konfrontiert D mit dem Blick auf eine soziale Welt, die unserem physikalischen Weltbild gleicht: alles fliegt katastrophisch auseinander. »Wir bauen uns eine technische und ökologische Katastrophenwelt auf. Die Galaxis der Armut droht die unsere des Wohlstands zu durchdringen, die freie Marktwirtschaft beschwört Krisen herauf, Hochkonjunkturen dauern nicht ewig, sie saugen wie ein Schwarzes Loch die Ressourcen der Dritten Welt auf. Alte Nationen fordern wieder neue unabhängige Staaten, anderen droht der Untergang. Nie war der Hunger, das Elend und die Unterdrückung so groß, und schon droht im Golf ein Krieg, bei dem nicht für ein Ideal, sondern für Öl gestorben wird. […] Wir können uns im Chaos verlieren oder in eine höllische Ideologie zusammenstürzen, und die atomaren Waffen sind erfunden. Sie können nicht rückgängig gemacht werden.«
Zurück zu Gorbatschow: Dürrenmatt sieht ihn einzig beim ersten Zug frei, aber das Bedeutende an ihm sei, dass er bei den folgenden Zügen von seinem Plan nicht abwich. Daher Auflösung des Ostblocks, Sturz der kommunistischen Regierungen. Die entprivilegierte KP »gleicht jetzt einer frei schwebenden Pyramide, die in sich zusammenfällt«. Selbstapplikation, paradox: »Die Perestrojka überwindet mit marxistisch-leninistischer Logik die marxistisch-leninistische Ideologie. Diese war eine Arbeitshypothese. Sie hat ihre Arbeit getan und kann fallen gelassen werden.«
All das mündet in eine Apotheose Gorbatschows als eines praktisch gewendeten Kant: »Was wir brauchen, ist die furchtlose Vernunft Michail Gorbatschows. Was sie bewirken wird, wissen wir nicht, er steht der wirtschaftlichen und politischen Krise gegenüber, die er durch die Perestrojka hatte vermeiden wollen. Auch eine Scheinordnung, die zerstört wird, schafft eine Unordnung. Aber eine furchtlose Vernunft ist das einzige, was uns in der Zukunft zur Verfügung stehen wird, diese möglicherweise zu bestehen, uns, nach der Hoffnung Kants, am eigenen Schopfe aus dem Untergang zu ziehen.«