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2. Polis und Politik in der Krise
ОглавлениеDas Leben von Sokrates gehört in die krisenreiche politische Entwicklung Athens im 5. Jahrhundert. Nicht nur ist sein Auftreten auf ihrem Hintergrund zu interpretieren, es ist selbst Teil dieses einzigartigen Prozesses. Das Besondere dieses Abschnitts der griechischen Geschichte besteht darin, dass in ihm das Politische als eine eigene Kategorie der Organisation und der Beurteilung menschlichen Zusammenlebens in einer ‚polis‘ sich erst herausbildete. Das Politische in diesem Sinne ist eine Erfindung der Griechen, die im 5. Jahrhundert ihren Gipfel erreichte. Es ist nicht der immer schon vorgegebene Rahmen, der nur mit bestimmten Inhalten gefüllt worden wäre (vgl. Meier 1983).
Eine bedeutsame Rolle für die Entstehung des Politischen spielt zweifellos Solon (um 640–560), der als Gesetzgeber Athens und als einer der später sogenannten Sieben Weisen im Bewusstsein der Athener eine zentrale Bedeutung erlangte (vgl. Meier 1993, 69). Solons Beitrag für den Gedanken des Politischen besteht darin, dass er seinen Mitbürgern den Gedanken nahezubringen suchte, dass es falsch wäre, die Götter für das Leiden unter der Herrschaft eines Tyrannen verantwortlich zu machen. Die Bürger hätten ihren Teil dazu beigetragen, „diese Leute“ an die Macht zu bringen, und daher wären sie selbst für ihr Schicksal verantwortlich. Das ist mehr als nur der frühe Versuch einer Theodizee; es ist vielmehr der folgenreiche Beginn des Prozesses der Entmythologisierung des Schicksals und der Entstehung des politischen Denkens. Wie sollen wir das Zusammenleben in der Polis organisieren? Das ist die Frage, die sich ihnen stellte. Solons Antwort ist: Es muss eine Ordnung gebildet werden, die durch Rechtssicherheit und den gerechten Ausgleich der widerstreitenden Interessen charakterisiert ist. Die Formel, die er für diese Ordnung fand, lautete „Eunomia“. In ihr kam das Bewusstsein zum Ausdruck, dass die Bürger selbst für das geordnete Zusammenleben in der Polis verantwortlich sind. Das bedeutete zwar noch nicht Demokratie, aber doch einen entscheidenden Schritt auf sie hin.
Für die Entwicklung der Demokratie in Athen ist Kleisthenes von entscheidender Bedeutung, der nach dem Ende der Tyrannenherrschaft der Peisistratiden, bald nach 510, mit seiner Verwaltungsreform begann. Zu diesem Zweck ordnete er Attika territorial völlig neu. Er bildete Territorialphylen, die jeweils einen Abschnitt aus der Stadt, dem Landesinneren und der Küste umfassten, sogenannte Trittyen. Aus den gewählten Vertretern der Phylen wurde der Rat der 500 gebildet, die Buleuten. Die Befugnisse dieses Rats erweiterte er auf Kosten des Areopags, des obersten Gerichts, in dem der Adel vertreten war. Beide Versammlungen wurden der Oberhoheit der Ekklesia, der Volksversammlung, unterstellt. An die Stelle des solonischen Gedankens der ‚Eunomia‘ trat bei ihm das Prinzip der ‚Isonomia‘, das heißt die Gleichheit aller freien, stimmberechtigten Bürger. Damit war der „Weg zur Demokratie bei den Griechen“ beschritten (vgl. Kinzl 1995).
In die Geschichte der Entstehung der attischen Demokratie gehört auch Ephialtes, der in den Jahren 462/461 den Areopag noch weiter entmachtete, eine Institution, die allen Freunden der Demokratie schon deshalb ein Dorn im Auge sein musste, weil seine Mitglieder sich auf Lebenszeit und daher völlig unangreifbar in einer führenden Position in der Polis befanden. Nach den Reformen des Ephialtes sollte der Areopag nur noch für Kapitalverbrechen zuständig sein.
Die demokratische Polis ist zu verstehen als ein Gemeinwesen, in dem die Bürger alle die Gemeinschaft betreffenden Angelegenheiten unter dem Schutz der Gottheit – in Athen der Göttin Athene – und auf der Grundlage von Recht und Gesetz öffentlich verhandeln. Das Medium dieser Verhandlungen ist die politische Rede, die nun immer größere Bedeutung gewinnt. Jean-Pierre Vernant bemerkt dazu:
„Das System der Polis beruht vor allem auf einer ungewöhnlichen Vorherrschaft des gesprochenen Wortes über allen anderen Instrumenten der Macht. Es wird zum politischen Mittel per excellence, zum Schlüssel jeglicher Autorität im Staat, zum Werkzeug, um Herrschaft und Befehlsgewalt über andere zu erlangen“ (Vernant 1982, 44).
Die Polis lebt von dem Prinzip der politischen Beteiligung der Freien und Gleichen, und daher ist ihr eine demokratische Tendenz immanent. Herodot (484–430) hat in dem Prinzip der politischen Beteiligung gar den entscheidenden Grund für die militärische Überlegenheit der Griechen über die Perser gesehen. Nach der Ermordung von Ephialtes im Jahre 461 – unter Umständen, über die sich die antiken Quellen ausschweigen – setzte Perikles die von ihm eingeleiteten demokratischen Reformen fort und leitete die nach ihm benannte Blütezeit der griechischen Geschichte über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren ein. Das ‚perikleische Zeitalter‘ ist nicht nur durch bedeutsame öffentliche Bautätigkeit bestimmt, sondern auch durch die Entwicklung der Künste, der Wissenschaften, des Theaters, der Philosophie. Als Zeichen einer fortschreitenden Demokratisierung ist die Einführung von Diäten zu erwähnen, die es auch ärmeren Bürgern ermöglichte, öffentliche Ämter wahrzunehmen. Perikles’ letzte Lebensjahre waren jedoch nicht nur durch Prozesse überschattet, die gegen ihm nahestehende Personen geführt wurden, sondern vor allem durch den Ausbruch des Peloponnesischen Krieges im Jahre 431, der ein Jahr später zu seiner Absetzung als Stratege führte. Zwar wurde er im Jahr 429 wiedergewählt, doch starb er noch im selben Jahr an der Pest. Ihr fielen in den Jahren 430 bis 425 ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer. Die katastrophale Auswirkung der Pest auf die medizinische und insbesondere die moralische Situation der Menschen in Athen hat Thukydides eindringlich beschrieben.
In dem mit Unterbrechungen von 431 bis 404 sich erstreckenden Peloponnesische Krieg wurde nicht nur die Vormachtstellung Athens gebrochen, sondern auch das politische Selbstverständnis nachhaltig erschüttert. Es ist die Zeit der öffentlichen Wirksamkeit von Sokrates und den Sophisten.
Mit der Niederlage Athens einher gingen die Abschaffung der Demokratie und die Errichtung der blutigen Herrschaft der „dreißig Tyrannen“ im Jahre 404. Diese von Lysander, dem spartanischen Feldherrn, eingesetzte Junta wurde im Frühsommer des Jahres 403 vertrieben, die verbannten Demokraten kehrten zurück, und im Oktober desselben Jahres wurde die Demokratie wiedereingeführt. In die Phase der wiederhergestellten Demokratie gehört auch der Prozess gegen Sokrates, dessen politische Implikationen eigener Überlegungen bedürfen.
Die folgenden vier Jahrzehnte der Geschichte Athens sind durch einen hektischen und für die Stadt katastrophalen Wechsel von Bündnissen, Kriegen, Friedensschlüssen und neuen Zerwürfnissen bestimmt.
Nachdem Sparta in den Jahren 400 bis 396 im Kampf um die Sicherung der ionischen Städte Krieg gegen die Perser geführt hatte, verbündete sich Athen mit den Persern. Im Jahr 386 kommt es zu einem von den Persern diktierten „Königsfrieden“, bei dem die Zugehörigkeit der ionischen Städte zu Persien festgelegt und im Übrigen die Autonomie der nicht im Peleponnesischen Bund zusammengeschlossenen Städte wiederhergestellt wurde.
Um die Vorherrschaft Spartas zu brechen, gründet Athen 378 den zweiten Attischen Seebund. 374 kommt es zwischen Athen und seinem neuen Bundesgenossen Theben sowie Sparta zu einem Friedensschluss. 371 besiegt Theben Sparta vernichtend, worauf 369 Athen mit Sparta ein Bündnis eingeht, zwei Jahre später auch mit Syrakus. Im Jahr 362 besiegt Theben Sparta bei Mantineia und beendet dessen Hegemonie.
Das Fazit ist: In den unaufhörlichen Konflikten seit dem Peloponnesischen Krieg ging die Polis zugrunde. Ihre Macht war angesichts ständig wechselnder Fronten nicht zu erhalten, und an ihrem Beharren auf Autonomie scheiterte die Entstehung größerer staatlicher Gebilde. Diese Situation änderte sich erst, als mit Philipp II von Makedonien 359 ein Herrscher an die Macht kam, der der erneuten und zeitweise sogar erfolgreichen Bündnispolitik Athens in der Schlacht von Chaironea (338) ein Ende setzte und die Stadt zwang, dem panhellenischen Bund unter makedonischer Führung beizutreten.
Athen hatte seine führende Rolle ausgespielt. Die Demokratie wurde durch eine neue Form der Monarchie abgelöst, die Polis als selbständige politische Einheit durch das sich schnell ausbreitende makedonische Reich ersetzt (Finley 1976).
Sokrates’ erste Lebenshälfte gehört in die Epoche des Aufstiegs und der Blüte der athenischen Demokratie, seine zweite in die Phase des nahezu 30jährigen Peloponnesischen Krieges, der Pest, der politischen Wirren und des Niedergangs der Vorherrschaft Athens.