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3. Der Spruch von Delphi

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In Platons Apologie stellt Sokrates die Gründe dar, die dazu geführt haben, dass er unter seinen Zeitgenossen in Verruf kam. Die Ursache sieht er in einer ihm zugesprochenen „Weisheit, die eben vielleicht die menschliche Weisheit ist“ (Apologie 20 a). Aber wie und von wem ist ihm diese Weisheit zugesprochen worden? Sokrates erläutert diese so:

„Über meine Weisheit nämlich, ob sie wohl eine ist und was für eine, will ich zum Zeugen stellen den Gott in Delphoi. Den Chairephon kennt ihr doch. Dieser war mein Freund von Jugend auf, und auch euer, des Volkes, Freund war er und ist bei dieser letzten Flucht mitgeflohen und mit euch auch zurückgekehrt. Und ihr wißt doch, wie Chairephon war, wie heftig in allem, was er auch beginnen mochte. So auch, als er einst nach Delphoi gegangen war, erkühnte er sich, hierüber ein Orakel zu begehren (…). Er fragte also, ob wohl jemand weiser wäre als ich. Da leugnete nun die Pythia, daß jemand weiser wäre“ (ebd.20e–21 a).

Auch Xenophon berichtet in seiner Apologie von dem Orakelspruch. Bei ihm antwortet Apollo ausführlicher, nämlich niemand sei „freier“ oder „gerechter“ oder „besonnener“ als Sokrates. In Platons Apologie berich tet Sokrates weiter, in welcher Weise dieses Orakel dem Leben von Sokrates eine entscheidende Wende verlieh. Denn einerseits war er sich bereits zu dieser Zeit seiner Unwissenheit nur allzu bewusst; andererseits ist es für ihn undenkbar, dass der Gott lügt – „das ist ihm ja nicht verstattet“. Es bleibt also nur die dritte Möglichkeit: Der Spruch des Gottes ist zu interpretieren. Es ist also die Frage zu beantworten: „Was meint doch der Gott und was will er etwa andeuten?“ (ebd. 21 b).

Deshalb beginnt Sokrates, das Wissen seiner Mitmenschen zu prüfen. Dabei ergibt sich, dass es sich bei dem angeblichen Wissen um ein Scheinwissen handelt. Dieses aufzudecken erregt verständlicherweise bei den Befragten Ratlosigkeit oder Zorn. Sokrates befragt zunächst einen Politiker und stellt fest, dass dieser Mann sehr vielen, vor allem aber sich selbst sehr weise vorkam, es aber tatsächlich nicht war. „Die Berühmtesten dünkten mich gar die Armseligsten zu sein“ (ebd. 22 a). Bei den Dichtern bemerkt er, dass diese ihre Poesie nicht aufgrund eines Wissens hervorbrachten, sondern aufgrund natürlicher oder göttlicher Eingebung. Sie sind im wörtlichen Sinn ‚enthusiasmiert‘, das heißt von einem Gott erfüllt. „Gleichwohl glauben sie, um ihrer Dichtung willen auch in allem übrigen sehr weise Männer zu sein“ (ebd. 22 c).

Schließlich ergab die Prüfung der Handwerker, dass sie in ihrem Bereich tatsächlich über ein beachtliches Fachwissen verfügen, dass sie aber, ähnlich wie die Dichter, fälschlicherweise nun glauben, auch in allen anderen Dingen Bescheid zu wissen. Für Sokrates ist das Ergebnis, dass er ihnen gegenüber insofern weiser ist, als er weiß, dass er nichts weiß, während die von ihm Befragten ihre Unwissenheit nicht kennen, sondern sich einbilden, etwas zu wissen. Auf diese Weise wird es schließlich möglich, den Spruch des Orakels richtig zu deuten; denn in der Tat scheint der Gott

„mit diesem Orakel dies zu sagen, daß die menschliche Weisheit sehr weniges nur wert ist oder gar nichts, und offenbar nicht dies vom Sokrates zu sagen, sondern nur mich zum Beispiel erwählend, sich meines Namens zu bedienen, wie wenn er sagte: Unter Euch, ihr Menschen, ist der der Weiseste, der wie Sokrates einsieht, daß er in der Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt“ (ebd. 23a/b).

Die Geschichte von der Befragung des Orakels von Delphi ist nicht nur für den heutigen Leser schwer verständlich und anstößig; sie war es auch damals, wie Platon deutlich macht. Aber gerade das Ungewöhnliche, beinahe Bizarre verschafft ihr eine spezifische historische Glaubwürdigkeit. Es ist schwer vorstellbar, dass Platon wenige Jahre nach dem Tod von Sokrates, als die Auseinandersetzung über ihn noch sehr heftig war, diese Geschichte erfunden haben könnte, die als bloße Fiktion dem Ansehen seines Lehrers schweren Schaden zugefügt hätte – der Absicht seiner Apologie also strikt zuwidergelaufen wäre. Und unwahrscheinlich ist es auch, dass der nüchterne Xenophon, der in mehreren Aspekten ein anderes Sokratesbild entwirft als Platon, eine von Platon erfundene Geschichte von dieser Brisanz übernommen hätte. Man wird also die Orakelbefragung als eine historische Begebenheit zur Kenntnis nehmen müssen. Umso dringlicher wird es, sich den geschichtlichen Kontext dieses Orakels zu vergegenwärtigen.

Wer war der Gott, dem Sokrates glaubte, Gehorsam schulden zu müssen und in dessen Dienst er, wie Platon behauptet, sein weiteres Leben stellte? Auskunft gibt die Mythologie. Apollon ist Sohn der Göttin Leto und des Zeus. Die schwangere Leto hatte Schwierigkeiten, einen Ort für die Geburt zu finden; denn dem zu gebärenden Apollon ging der Ruf voraus, dass er „ein unnachsichtiger Gott sein werde, ein großer Herr über Unsterbliche und Sterbliche“ (Kerényi 1996, I, 106).

Schließlich fand sich die Insel Delos unter der Bedingung bereit, dass der Gott seinen ersten Tempel dort baute. Kurz nach der Geburt – nach der ersten Speisung mit Nektar und Ambrosia, die ihm Unsterblichkeit verlieh – sprach Apollon: „Lieb sei mir Leier und Bogen! Verkünden werde ich den Menschen in meinen Orakeln den unfehlbaren Willen des Zeus!“ (ebd. 107). Leier und Bogen sind seitdem die festen Attribute Apolls. Ihre Verbindung weist auf das zwiespältige Wesen des Gottes hin. Apoll ist der Gott der Musik, der Harmonie, deren lebensfördernde Wirkung nicht nur bei Platon immer wieder betont wird, und der Todbringende, der „Silberbogner“, wie es bei Homer heißt. So ist es Apoll, der in das Lager der Achaier die Pest bringt, wie Homer in der Ilias gleich am Anfang betont. Heraklit hatte offenbar Apollon im Sinn, als er sagte: „gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier“ (D/K 22 B 51). Und ganz direkt sagt er über ihn: „Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, sagt nichts und verbirgt nichts, sondern er bedeutet“ (ebd. 22 B 93). Seit jeher galten die Sprüche Apollons als doppeldeutig. Apoll erhielt daher den Beinamen Loxias, der Doppeldeutige.

Erzählt wird auch, dass Apollon den Versuch unternahm, Zeus zu entthronen, indem er die Kyklopen tötete, wodurch Zeus seine Waffenschmiede verlor. Apoll wurde von Zeus mit einem Jahr harter Arbeit schwer bestraft. „Nachdem Apollon bestraft ward, predigte er Bescheidenheit in allen Dingen: Die Sätze: ‚Kenne dich selbst!‘ und ‚Nichts im Übermaß!‘ trug er ständig auf den Lippen“ (Ranke-Graves 1961, I, 67f.).

Die ältesten Reste des Apollon geweihten Tempels in Delphi gehen bis ins 7. Jahrhundert zurück, der Kult selbst bis ins 2. Jahrtausend. Bei dem Apollontempel handelt es sich um ein dorisches Peripteros – Tempel mit Ringhalle – aus Kalkstein mit sechs zu 15 Säulen (23,80 m × 60,30 m). In der Vorhalle waren die Sprüche der Sieben Weisen aufgestellt, darunter das berühmte Erkenne dich selbst. Die prophetische Priesterin wurde Pythia genannt. Ihr zu Ehren wurden alle vier Jahre – ähnlich wie bei den Festen in Olympia – von der Amphiktyonie der umliegenden Völker Spiele abgehalten, die sogenannten Pythien. Berühmt war das Heiligtum jedoch vor allem durch sein Orakel, das angesehenste der klassischen Zeit.

Bei der Pythia handelte es sich, wie behauptet wurde, um eine „einfache, unbescholtene Bäuerin“ aus Delphi, die auf schriftlich oder mündlich eingereichte Fragen einmal im Monat antwortete. Daneben wurde mit Bohnen das Los geworfen, was nur eine Antwort mit Ja oder Nein ermöglichte. Die Äußerung eines Orakelspruchs war an ein strenges Ritual gebunden. Wer das Orakel befragen wollte, zahlte zunächst eine „Kuchen“ genannte Gebühr und brachte ein Opfer in Gestalt einer Ziege dar. Zuvor wurde die Ziege mit einem Guss kalten Wassers besprengt, und aus dem Zusammenzucken des Tiers entnahm man, dass Apollon bereit war, einen Spruch zu verkünden. Die Pythia reinigte sich am kastalischen Quell und betrat dann den Tempel. Auf dem Altar im Inneren des Tempels nahm sie ein Rauchopfer von Lorbeerblättern und Gerstenmehl vor und stieg dann in den unterirdischen Teil des Tempels hinab. Auch die Ratsuchenden sowie die Priester und Propheten folgten ihr in einer durch Los bestimmten Reihenfolge. Sie mussten jedoch in einem Vorraum warten, während die Pythia das Adyton – das Allerheiligste – allein betrat.

Der Fragesteller und die Priester konnten sie hören, jedoch nicht sehen. Auf einem Dreifuß sitzend, eine Schale in der Hand und im Zustand des Außersichseins, weniger der Ekstase, verkündete sie ‚zuverlässige‘, ‚unfehlbare‘ Orakel des Gottes. Den Orakelsprüchen wurde eine größere Beachtung geschenkt, da sie über den Einzelfall hinausweisend Aussagen von allgemeiner, religiöser, moralischer oder politischer Bedeutung enthielten. Auf diese Weise nahm das Orakel auch Einfluss auf die politische Entwicklung Griechenlands. Bezeugt ist seine Perserfreundlichkeit im 5. Jahrhundert. Das Spektrum der Themen reichte von politischen und rechtlichen Fragen von geschichtlich weittragender Bedeutung bis hin zu solchen, die nur für den Fragenden eine persönliche Bedeutung hatten.

Zu erwähnen ist eine Befragung, die Xenophon vornahm, weil in ihr auch Sokrates eine Rolle spielt. Bevor sich Xenophon dem Feldzug des Kyros anschloss, jenem gescheiterten Unternehmen, das er in seiner Anabasis schildert,

„beriet er sich mit dem Athener Sokrates über die Reise. Sokrates befürchtete, es könne von der Stadt (d.h. Athen, W.P.) als Schuld angerechnet werden, mit Kyros Freundschaft zu schließen, da dieser, wie man vermutete, bereitwillig den Lakedaimoniern im Krieg gegen Athen geholfen habe. Daher riet ihm Sokrates, nach Delphi zu gehen und den Gott wegen der Reise zu befragen. Dort befragte also Xenophon Apollon, welchem Gott er opfern, zu welchem Gott er beten müsse, um die beabsichtigte Reise ehrenvoll und glücklich zu vollenden und nach erfolgreichem Gelingen heil zurückzukehren. Apollon verkündete ihm die Götter, denen er opfern müßte. Als er zurückgekehrt war, erzählte er Sokrates von dem Orakelspruch. Der tadelte ihn darauf, weil er nicht danach zuerst gefragt hatte, ob es für ihn besser sei zu reisen oder zu bleiben. (…) ‚Da du aber so gefragt hast‘, erklärte er, ‚mußt du alles, was der Gott befohlen hat, tun.‘“ (Xenophon: Anabasis 1958, 87).

Dieser Text ist aufschlussreich, weil er nicht nur ein bezeichnendes Licht auf die gängige Praxis der Befragung des Orakels wirft, mit einer in diesem Fall suggestiven und manipulierenden Fragetechnik, sondern auch auf die Einschätzung des Orakels durch Sokrates. Seiner Überzeugung entspricht die Devise: Dem Spruch des Gottes ist Folge zu leisten.

Versucht man, unter Einbeziehung des geschichtlichen Kontextes die Sokrates betreffende Befragung des Orakels durch Chairephon einzuschätzen, so ist zu sagen: Angesichts der verbreiteten Befragung des Orakels und der auch noch im 5. Jahrhundert großen Bedeutung Delphis fällt diese Anfrage nicht aus dem Rahmen der damals üblichen Praxis. Und auch die Antwort der Pythia ist nicht abwegig. Gigon bemerkt im Lexikon der Alten Welt dazu:

„Auf die Frage, wer unter den Menschen der glücklichste, der weiseste und der frömmste sei, antwortet Apollon mit dem Paradoxon, daß es gerade nicht der sei, der gemeinhin dafür gelte oder sich selbst dafür halte, sondern irgendein anderer, der besitze und wisse, worauf es ankomme, und der nicht massenhaft opfere, sondern von wenigem in frommer Gesinnung darbringe. Darin steckt eine bezeichnende Warnung vor Anmaßung und Hybris“ (LAW I, 706).

Außergewöhnlich ist vielleicht nur, mit welchem Ernst Sokrates die Prüfung und Auslegung dieses Spruchs zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat.

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