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4. Die Sophisten
ОглавлениеVon Cicero stammt die häufig zitierte Aussage, „Sokrates hat als erster die Philosophie vom Himmel heruntergerufen, sie in den Städten angesiedelt, sie sogar in die Häuser hineingeführt und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten und dem Guten und Schlechten zu forschen“ (Cicero 2008 I, 439). Cicero möchte damit auf das Neue des sokratischen Ansatzes hinweisen. Und tatsächlich geht ja auch die heute übliche Rede von den Vor-Sokratikern von der epochalen Bedeutung seines Wirkens aus. Gleichwohl enthält Ciceros Aussage eine Unkorrektheit. Denn es war nicht Sokrates, der als erster sich von naturphilosophischen Fragen abwandte und eine anthropologische Wende im Denken vollzog, sondern das taten bereits die Sophisten, von denen die bedeutendsten wie Protagoras und Gorgias weit älter waren als er (vgl. Classen 1976; Guthrie 1993).
Die Sophistik stellt eine bedeutende intellektuelle Strömung dar, die, trotz des Fortwirkens der naturphilosophischen Richtung, das 5. Jahrhundert in Griechenland geistig bestimmte. Für einen Zeitgenossen lag es daher nahe, Sokrates als einen Sophisten zu bezeichnen und in ihm nicht einen philosophischen Neubeginn zu vermuten. Dieses Fehlurteil ist verständlich, da die Sophisten ohnehin recht verschieden waren. Es ist zunächst festzuhalten, dass das Wort ‚Sophist‘ keineswegs von Anfang an jenen negativen Beigeschmack hatte, der ihm in den platonischen Dialogen weitgehend anhaftet. Bei Platon selbst gibt es Formulierungen, in denen das Wort in einem positiven Sinn gebraucht wird. Mit Sophist wird jemand bezeichnet, der über ein bestimmtes Fachwissen verfügt und der in der Lage ist, dieses auch zu lehren. Erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts kann die Vielwisserei als etwas angesehen werden, das nicht ganz geheuer (deinos) ist, und die sophistische Kunst wird als eine des Worteverdrehens interpretiert.
Die im Folgenden zu besprechenden Sophisten sind Protagoras, Gorgias, Prodikos, Hippias, Antiphon, Thrasymachos und Kritias. Es handelt sich bei ihnen um auch durch außerplatonische Quellen bezeugte historische Personen, die durch ihr Auftreten in Athen in starkem Maß das Bild der Sophistik bestimmten. Gleichzeitig werden sie alle als Gesprächspartner von Sokrates bei Platon und – im Fall von Antiphon – bei Xenophon vorgestellt.
Der älteste und berühmteste Sophist war Protagoras aus Abdera (485–411), der als Wanderlehrer sich u.a. in Sizilien und mehrmals in Athen aufhielt. Er hielt dort Vorträge und Kurse gegen ein hohes Honorar und kam in näheren Kontakt mit Euripides und Perikles. Von ihm erhielt er den Auftrag, eine Verfassung für die 444 in Unteritalien gegründete Kolonie Thurioi auszuarbeiten. Bei seinem letzten Aufenthalt in Athen wurde er wegen seiner Schrift über die Götter wegen Asebie angeklagt. Er flüchtete und kam angeblich auf der Seereise nach Sizilien bei einem Schiffsunglück ums Leben. Seine Schriften wurden in Athen öffentlich verbrannt.
Das Buch Über die Götter begann so: „Über die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen (festzustellen?) weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind, noch, wie sie etwa an Gestalt sind; denn vieles gibt es, was das Wissen (Feststellen?) hindert: die Nichtwahrnehmbarkeit und daß das Leben des Menschen kurz ist“ (D/K 80, B 4). In diesem Satz kommt nicht nur eine agnostische, mythenkritische Haltung zum Ausdruck, sondern zugleich eine erkenntniskritische Einstellung, die dazu führte, dass Protagoras im Hellenismus der Skepsis zugerechnet wurde.
Als Weiteres ist auf seine Schrift Über die Wahrheit hinzuweisen, die wohl auch den Nebentitel führte Die Niederwerfenden – zu ergänzen wäre – Reden. In ihr steht der sogenannte ‚Homo-mensura-Satz‘, durch den Protagoras berühmt wurde: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß (wie) sie sind, der nicht seienden, daß (wie) sie nicht sind“ (D/K 80, B 1). Diese Formulierung wird nahezu gleichlautend von Platon wie auch von Sextus Empiricus, der über eine außerplatonische Quelle verfügt haben kann, überliefert und wird allgemein als authentisch angesehen. Einigkeit herrscht in der Forschung inzwischen auch weitgehend darüber, dass das Wort Mensch im Sinn von ‚der einzelne Mensch‘ zu verstehen ist. Gleichwohl ist die Interpretation des Satzes bis heute strittig geblieben.
Wenig, vielleicht zu wenig, Aufmerksamkeit ist bisher auf die Tatsache gelenkt worden, dass sich der Satz nicht auf die schlüssige Behauptung beschränkt, der Mensch sei das Maß aller Dinge, sondern – scheinbar überflüssig – deren Sein und Nichtsein betont. Ist das ‚Sein‘ nicht in dem Wort ‚Ding‘ enthalten? Wenn es Protagoras wichtig war, auf das Sein der Dinge hinzuweisen, muss er dafür einen besonderen Grund gehabt haben. Es ist nicht auszuschließen, dass Protagoras darin eine Auseinandersetzung mit Parmenides vollzog. Wenn Parmenides betonte, dass nur das Sein gedacht werden kann, dann – so die von Protagoras möglicherweise ausgesprochene Schlussfolgerung – ist der Ort des Denkens, der Mensch, der Maßstab des Seins.
Anders interpretiert jedoch Platon den Satz in seinem Dialog Theaitetos. Protagoras habe mit seinem Satz sagen wollen „daß, wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch für mich, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir“ (152 a). Protagoras habe unkritisch Sein und Erscheinung identifiziert und damit einen allgemeinverbindlichen Maßstab aufgegeben. Das Ergebnis ist ein durchgängiger Relativismus. Dieser habe seinen Ursprung bei Heraklit, der bereits auf die Relativität der Dinge hingewiesen habe. Protagoras ist daher im Urteil Platons ein Relativist aus der Schule Heraklits.
Dieser Interpretation folgt Aristoteles. Aber möglicherweise tun Platon und Aristoteles mit ihrer Interpretation sowohl Heraklit als auch Protagoras Unrecht. Das lässt sich zunächst mit dem Hinweis auf den erhaltenen Satz aus Über die Götter belegen. Dort sagt Protagoras nicht, dass die Götter für jeden Menschen so sind, wie sie ihm erscheinen, sondern dass es über sie angesichts der Dunkelheit des Gegenstandes und der Kürze des menschlichen Lebens ein Wissen nicht geben könne. Erörtert man Platons Interpretation im Kontext dieses Fragments, dann könnte die Intention von Protagoras in der Behauptung bestanden haben: Wir haben es immer nur mit Erscheinungen und mit Meinungen zu tun, das Sein der Dinge bleibt uns verborgen. Jedes Ding ist für mich so, wie es mir erscheint, aber wie es an sich ist, weiß ich nicht.
Unterstützung findet diese Vermutung in einem vor einiger Zeit entdeckten Zitat bei Didymos, dem Blinden, der im 4. Jahrhundert n. Chr. in Alexandria lebte und einen Psalmenkommentar verfasste. Er schreibt Protagoras die Aussage zu: „Dir erscheine ich als ein Sitzender, dem als ein Nichtsitzender, verborgen aber bleibt, ob ich sitze oder nicht sitze“ (Classen 1976, 306). Diesem Fragment entsprechend kann Protagoras als ein Vorläufer des späteren Skeptizismus angesehen werden, der sich des Urteils über das Ansichsein der Dinge enthält. In diese Richtung geht auch unsere Kenntnis über eine weitere Schrift des Protagoras, die den Titel Antilogia trug. In ihr vertrat er die These, dass es über jede Sache zwei entgegengesetzte Aussagen gibt und dass die Kunst des Redners darin besteht, die schwächere Sache zur stärkeren zu machen. Diese rhetorische Übung scheint auch Teil seiner Kurse gewesen zu sein.
In den Kontext seiner rhetorischen Überlegungen gehören auch seine Bemühungen um die ‚richtige Rede‘ (Orthoepeia). Er unterschied vier Formen der Rede: Bitte, Frage, Antwort, Vorschrift.
In Platons Dialog Protagoras wird ihm ein Mythos von der Entstehung des Menschen, der Polis und den Prinzipien der Gerechtigkeit in den Mund gelegt, der möglicherweise auf seinen Lehren basiert. Danach handelt es sich bei der Gerechtigkeit um eine an alle Menschen von den Göttern zugeteilte Gabe, die gleichwohl durch Übung entwickelt werden muss. Ihr dient die Erziehung. In den Kontext seiner pädagogischen Bemühungen gehören auch die ihm zugeschriebenen Aussagen: „Begabung und Übung braucht die Lehrkunst und von der Jugend anfangend muß man lernen“ (D/K 80, B3).
Nach Protagoras ist als weiterer bedeutender Sophist Gorgias zu nennen, der um 485 in Leontinoi, Sizilien, geboren wurde und über 100 Jahre alt geworden sein soll. Man nimmt allgemein 380 als Todesjahr an. Im Jahre 427 war er mit einer Delegation in Athen, um Hilfe für seine Heimatstadt zu holen, die von Syrakus bedroht wurde. Aufgrund seines Auftretens erlangte er in Athen hohes Ansehen. Fortan wirkte er als Lehrer der Rhetorik. Als 70jähriger trat er in Olympia und Delphi als Festredner auf. Ausgehend von den rhetorischen Ansätzen eines Teisias und Korax darf Gorgias als Begründer der wissenschaftlichen Rhetorik angesehen werden.
Seine geistige Entwicklung kann in drei Phasen unterteilt werden. Die erste ist bestimmt durch seine Nähe zur Lehre des Empedokles; von ihr ist Schriftliches nicht erhalten. Die zweite Phase lässt sich aufgrund seines Buchs Über das Nicht-Seiende genauer bestimmen, von dem, aus unterschiedlichen Quellen, größere Teile überliefert sind. Diese Schrift stellt den Versuch einer Widerlegung des parmenideischen Lehrgedichts dar. Gorgias beweist darin drei Thesen: (1) Nichts existiert. (2) Wenn etwas existierte, wäre es nicht erkennbar. (3) Auch wenn es erkennbar wäre, wäre es nicht mitteilbar (Capelle 1968, 345ff.).
Nach diesem Sprachpessimismus mag es erstaunlich erscheinen, dass Gorgias in seiner dritten Lebensphase als Rhetor auftrat. Aber dieser Sachverhalt wird verständlich, wenn deutlich geworden ist, welchen Charakter er der Rhetorik zusprach. Die Aufgabe der Rede besteht nicht in der Darstellung, noch in der Mitteilung von dem, was ist. Das ist, wie er zeigte, nicht möglich. Die Rede erfüllt eine andere Funktion. Sie übt einen Einfluss auf die Seele des Menschen aus; sie ist eine psychagogische Kraft.
In den beiden erhaltenen Ausschnitten aus Musterreden, der Helena und der Verteidigung des Palamedes, äußert sich Gorgias über die Rede so: „die Rede ist eine gewaltige Machthaberin, die mit dem Kleinsten und unscheinbarsten Organe die wunderbarsten Wirkungen erzielt; denn sie vermag Furcht zu verscheuchen und Leid zu bannen, Freude zu erregen und Mitleid zu wecken“ (Nestle 1956, 191). Dass die Rede die Seele rührt, ist im Bereich der Poesie bekannt; aber auch im Gebiet der Wissenschaften und der Philosophie formt „die Überzeugungskraft, die der Rede beiwohnt, auch die Seele“. So gelangen wir durch die Rede der Astronomen dazu, das zu glauben, was wir nicht sehen, und im Gerichtsprozess werden durch „eine einzige Rede, die kunstgerecht verfaßt, wenn auch nicht wahrheitsgemäß gehalten ist, viele Leute erfreut und beeinflußt“ (ebd.). Und auch den Philosophen gelingt es, mit ihren raschen Beweisgängen für ihre Annahmen Glauben zu erzeugen. Gorgias ist sich der Ambivalenz der Wirkung der Rede bewusst und weist auch darauf hin:
„Die Wirkung der Rede verhält sich zur Stimmung der Seele ebenso wie die Bestimmung der Gifte zur Natur des Körpers. Denn wie jedes Gift wieder andere Säfte aus dem Körper ausscheidet und das eine der Krankheit, das andere dem Leben ein Ende macht, so bewirkt auch die Rede bei den Zuhörern bald Trauer bald Freude, bald Furcht bald Zuversicht, manchmal aber vergiftet und verzaubert sie die Seele durch Verführung zum Bösen“ (ebd.)
Ergänzt man diese Aussagen durch das Bild, das Platon von ihm in den Dialogen Menon und Gorgias entwirft, so ergibt sich als weiteres Charakteristikum, dass Gorgias geschwankt hat zwischen einer Konzeption von Rhetorik, nach der diese als eine von allen Inhalten abgelöste Redetechnik zu verstehen ist – so im Menon – oder als Redekunst im Dienst der Rechtsfindung und Rechtssprechung (Gorgias). Absichtliche Verzerrung der Intentionen von Gorgias oder gar persönliche Diffamierung ist Platon nicht vorzuwerfen.
Unter den Sophisten des 5. Jahrhundert nimmt Prodikos, der um 470 auf Keos geboren wurde und Sokrates überlebte, eine besondere Stellung ein, da er in mehreren platonischen Dialogen als Sokrates’ Lehrer bezeichnet wird. Platon zeichnet von ihm ein überaus ironisches Bild, so vor allem zu Beginn des Dialogs Protagoras. Dort wird Prodikos wie eine Gestalt der Unterwelt vorgeführt:
„Auch den Tantalos schaut ich; Prodikos nämlich, der Keier, war auch angekommen und befand sich in einem Gemach, welches Hipponikos ehedem als Vorratskammer gebraucht hatte; jetzt aber hatte Kallias, wegen der Menge der Einkehrenden auch diese ausgeleert und zum Gastzimmer gemacht. Prodikos nun lag noch dort eingehüllt in Decken und Felle, und zwar in sehr viele, wie man sah. Auf den nächsten Polstern um ihn her saßen Pausanias, der Kerameer, und neben ihm ein noch kaum halberwachsener Jüngling schöner und edler Natur (…). Wovon sie aber sprachen, konnte ich von draußen nicht vernehmen, wiewohl sehr begierig, den Prodikos zu hören, denn gar weise und göttlich dünkt mich der Mann zu sein. Allein die Tiefe seiner Stimme verursachte im Gemach ein dumpfes Getöse, das alles Gesprochene unvernehmlich machte“ (315 d).
Das Ironische dieser Darstellung wird erst erkennbar, wenn man berücksichtigt, dass Prodikos seinen wissenschaftlichen Ehrgeiz gerade in die Kunst der Wortunterscheidungen setzte.
Prodikos war als Gesandter seiner Heimatinsel nach Athen gekommen und durch seine Lehrtätigkeit rasch bekannt geworden. Der platonische Sokrates berichtet, er habe von Prodikos leider nur seinen 1-Drachmen-Vertrag angehört und nicht den 50-Drachmen-Kursus, und daher sei ihm die volle Weisheit des Prodikos nicht zuteilgeworden. Prodikos wurde bekannt durch seine grammatischen Studien, vor allem zur Semantik und Synonymik. Im Dialog Protagoras werden dafür auch einige Proben gegeben. So bittet Prodikos die Dialogpartner Sokrates und Protagoras, „über eure Sätze zu streiten, aber nicht zu zanken, denn streiten können auch Freunde mit Freunden in allem Wohlmeinen, aber zanken nur die, welche auch uneinig und auch feindselig gegeneinander sind“ (ebd. 337 b). Ebenso werden im Folgenden von ihm ‚achten‘ und ‚loben‘, ‚Vergnügen‘ und ‚Genuß‘ unterschieden. Offensichtlich leitete ihn dabei der Gedanke, dass eine Rede in jeder Hinsicht dem Sachverhalt angemessen sein müsse und dass dem treffenden Wort eine entscheidende Bedeutung zukomme.
Berühmt wurde auch seine Parabel von Herakles am Scheideweg, die bei Xenophon überliefert ist. Sie behandelt die Frage der richtigen Lebenswahl eines Menschen im Jünglingsalter am Beispiel eines Helden der Mythologie:
„Als Herakles vom Kind zum jungen Manne heranwuchs, in welchem Alter die Jünglinge bereits selbständig werden und offenbaren, ob sie sich für ihr Leben dem Weg der Tugend zuwenden oder dem des Lasters, da sei er in die Einsamkeit gegangen und habe sich niedergesetzt und unschlüssig überlegt, welchen von beiden Wegen er einschlagen solle“ (Xenophon 1987, 91).
Die Unterscheidung der Worte, die Wahl des richtigen Worts am richtigen Platz, wird hier ins Ethische hinein verlängert. Laster und Tugend tauchen nun als allegorische Frauengestalten auf. Die eine, das Laster, verheißt Glück ohne Anstrengung, wobei auch Betrug nicht ausgeschlossen wird; die andere, die Tugend, verweist Herakles auf den entbehrungsreichen Weg der Arbeit, der allein Anerkennung unter den Menschen und wahres Glück verspricht. Das ist ein Lob der Arbeit, wie es in Griechenland nur selten ausgesprochen wurde, vor Prodikos allenfalls in Hesiods Epos Werke und Tage.
Typisch griechisch ist dagegen Prodikos‘ Anthropologie. In einem pseudo-platonischen Fragment geht Prodikos die Entwicklungsstufen des Lebens durch und beginnt seine Elegie menschlichen Leids so:
„Gibt es irgendein Lebensalter, das frei wäre von Beschwerden? Weint nicht das kleine Kind gleich bei der Geburt und beginnt so das Leben mit Leid? Es bleibt ihm ja keine Unlust erspart: bald leidet es unter irgendeinem Mangel, bald unter Hitze oder Kälte, bald tut ihm etwas weh und noch kann es nicht aussprechen, was ihm fehlt, sondern nur weinen, da es keine andere Möglichkeit hat, seinem Unbehagen Ausdruck zu geben“ (Nestle 1956, 177f.).
Aber das ist erst der Anfang des Leids. Danach folgen die Mühen des Jugendalters, in dem der Knabe unter der Aufsicht strenger Erzieher steht. Es folgen die Nöte des Berufs und die des Krieges.
„Und dann schleicht unvermerkt das Alter heran, in dem alles zusammentrifft, was an unserer Natur hinfällig und unheilbar ist. Und wenn man nicht noch sein Leben wie eine Schuld bereinigt, so tritt die Natur als Wucherin auf und pfändet dem einen das Augenlicht, dem anderen das Gehör, nicht selten beides. Und hält man das aus, so macht sie einen lahm, krank und steif. Die meisten nehmen im Alter auch geistig ab und so wird man als Greis zum zweitenmal zum Kinde“ (ebd. 178).
Am glücklichsten ist daher der, den die Götter jung sterben lassen. Zu erwähnen ist schließlich noch Prodikos‘ mythenkritische Einstellung. So zitiert Sextus Empiricus ihn mit der Aussage, „daß die Menschen der Urzeit Sonne und Mond, Flüsse und Quellen und überhaupt alles, was für unser Leben von Nutzen ist, wegen des von ihnen gespendeten Nutzens für Götter gehalten hätten, wie z.B. die Ägypter den Nil, und daher sei das Brot für die Göttin Demeter gehalten worden, der Wein für den Gott Dionysos, das Wasser für Poseidon, das Feuer für Hephaistos und dementsprechend jedes Ding, das (den Menschen) nützlich war“ (Capelle 1968, 367f.).
Über die Lebensdaten des Sophisten Hippias von Elis sind nur die Angaben bekannt, die Platon im Dialog Protagoras macht. Danach wird Hippias neben anderen als so jung bezeichnet, dass Protagoras der Vater sein könnte. Er kann also Altersgenosse von Sokrates gewesen sein. Als Gesandter seiner Heimatstadt und als Wanderlehrer ist er in vielen Orten aufgetreten, u.a. in Olympia. Dort erregte er Aufsehen mit dem Hinweis, dass alles, was er bei sich trug, von ihm selbst hergestellt war. Man kann darin eine Zurschaustellung des Prinzips der Autarkie vermuten. In seinem Anspruch als Sophist darf er als Vertreter enzyklopädischer Bildung angesehen werden. Die Sammlung wissenschaftlicher Erkenntnisse erstreckte sich auf alle damals untersuchten Forschungsgegenstände: Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Rhetorik, Grammatik, Musik, Bildhauerkunst und Geschichte. Unter seinen Schriften finden sich auch poetische Versuche: Epen, Tragödien, Dithyramben u.ä. Eine als Mahnrede oder als Dialog verfasste Schrift trug den Titel Troikos und war pädagogischen Inhalts. Ein Buch behandelt die Namen von Völkern und eine Liste der Sieger in Olympia. Ein Buch mit dem Titel Synagoge scheint eine Mythensammlung gewesen zu sein. Zu seinem Lehrrepertoire gehörte auch die Mnemotechnik, in der er es, wie Platon mitteilt, zu einer erstaunlichen Meisterschaft gebracht hat. Im Bereich der Geometrie soll ihm die Drei- und Mehrteilung des Winkels gelungen sein.
Anthropologisch bedeutsam ist die ihm bei Platon zugeschriebene Überzeugung von der Gleichheit des Menschen, die das in der Sophistik erörterte Verhältnis von Nomos und Physis variiert:
„Ihr Männer, die ihr hier anwesend seid, ich glaube, daß wir alle – nicht dem Herkommen nach, sondern von Natur – miteinander verwandt und Stammesgenossen und Mitbürger sind. Denn das Gleiche ist dem Gleichen von Natur verwandt; das Herkommen dagegen, dieser Tyrann der Menschen, erzwingt vieles wider die Natur“ (Platon: Protagoras 337 c/d).
Platon hat Hippias zur Titelfigur zweier Dialoge gemacht. In beiden wird er als ein auf sein angeblich großes Wissen eingebildeter, philosophisch unbedarfter Mann dargestellt, dessen Gedächtnisleistung ironisch in Frage gestellt wird. Abweichend von der Charakterisierung anderer Sophisten wird jedoch nicht seine moralische Integrität angezweifelt.
Unter dem Namen Antiphon sind zwei Männer des 5. Jahrhunderts bekannt, über deren Identität bis heute eine gewisse Unsicherheit besteht: Antiphon, der Sophist aus Athen, und Antiphon, der Redner von Rhamnus. Letzterem wurde aufgrund seines Eintretens für die Oligarchie 411 der Prozess gemacht, und er wurde anschließend hingerichtet. Antiphon, der Sophist aus Athen, taucht als Gesprächspartner von Sokrates in Xenophons Memorabilien auf. Ihm werden zwei Bücher Über die Wahrheit zugeschrieben, von denen Fragmente und Papyrusfunde überliefert sind. Eine Schrift Über den Gemeinsinn enthält im Stil einer volkstümlichen Unterweisung allgemein gehaltene Bemerkungen zur Lebensführung, zur Erziehung, zur Politik. Daneben wird ihm ein Buch über Träume zugeschrieben, in dem diese rational erklärt werden. Die Schrift Über die Wahrheit behandelt das Verhältnis von ‚Physis und Nomos‘ und macht deutlich, dass ähnlich wie bei Hippias dieses Gegensatzpaar zur Grundlage seines Eintretens für den Gedanken der Gleichheit aller Menschen dienen konnte. Vor allem die für die meisten Griechen selbstverständliche Unterscheidung in ‚Hellenen und Barbaren‘, das heißt griechisch und nichtgriechisch sprechende Menschen, lehnt Antiphon ab:
„Denn von Natur sind alle in jeder Hinsicht gleich, ob Barbaren oder Hellenen. Das kann man aus dem erkennen, was von Natur für alle Menschen notwendig ist. Alle haben die Möglichkeit, es sich auf demselben Wege zu verschaffen, und in all diesem ist weder ein Barbar von uns verschieden noch ein Hellene. Denn wir atmen alle durch Mund und Nase in die Luft aus, und wir essen alle mit den Händen“ (Capelle 1968, 377).
Die Unterschiede, die zwischen Menschen gemacht werden, bestehen also nicht von Natur aus, sondern sind willkürlich vereinbarte Gesetze. Aber allein die Gesetze der Natur haben unbedingte Gültigkeit, sie sind wahr; die Gesetze des Staates gelten nur, solange der Staat sie geltend macht. Daher wird auch eine Missachtung des Naturgesetzes in jedem Fall geahndet, nämlich durch die Natur selbst, ein Verstoß gegen ein staatliches Gesetz dagegen nur, wenn er bekannt wird. Diese Fragen zu behandeln – sagt Antiphon – ist wichtig, „weil die größte Zahl der menschlichen Satzungen im Gegensatz zur Natur gegeben ist“ (ebd.). Keineswegs zieht Antiphon daraus den Schluss, dass ein Staat keine Gesetze haben soll. Im Gegenteil: „Nichts Schlimmeres gibt es für den Menschen als die Anarchie“ (ebd. 376). Aber offensichtlich trat er für die Entwicklung eines Naturrechts ein, das die Gleichheit aller Menschen zur Grundlage hat.
Seine anthropologischen Einsichten sind bemerkenswert. So sagt er: „Für alle Menschen ist der Geist der Führer ihres Körpers, auch zur Gesundheit und Krankheit und allem anderen“ (ebd. 373). Und in diesen Zusammenhang gehört wohl das Fragment: „Der Mensch, der behauptet, er sei von allen Tieren das gottähnlichste“ (ebd.). Gleichwohl ist Antiphons Einschätzung der Situation des Menschen von einer ähnlich pessimistischen Grundhaltung bestimmt, wie sie sich fast durchgängig in der griechischen Literatur findet. Den Formulierungen des Prodikos nicht unähnlich bemerkt Antiphon: „Das Leben (des Menschen) ist gewissermaßen Gefängnis auf einen Tag, die Länge des Lebens sozusagen ein einziger Tag, an dem wir zum Tageslicht emporschauen und es denen, die nach uns kommen, übergeben“ (ebd. 375). Und: „Das ganze Leben ist in erstaunlichem Grade voller Mängel, mein Lieber; es hat nichts Überschwängliches oder Großes und Erhabenes; vielmehr ist alles nur klein und schwach und von kurzer Dauer und mit großen Schmerzen verbunden“ (ebd.).
Bemerkenswert ist auch, dass Antiphon sich die bequeme Aussicht auf ein Leben im Jenseits versagt: „Es gibt Menschen, die das Leben hiernieden nicht leben, sondern sich mit allem Eifer rüsten, als ob sie irgendein zweites Leben leben würden, nicht aber das jetzige, und darüber vergeht die Zeit, die sie sonst noch hätten“ (ebd.). Aber: „Man kann das Leben nicht wiederholen wie einen Zug beim Brettspiel“. Zu erwähnen sind auch seine ethischen und pädagogischen Überlegungen. So sagt er: „Das Wichtigste auf der Welt ist nach meiner Meinung die Erziehung“ (ebd.). Diese These begründet er damit, dass überall der richtige Anfang entscheidend ist für die weitere Entwicklung einer Sache. Sein Plädoyer für Besonnenheit und Selbstbeherrschung charakterisiert ihn als einen Sophisten, der dem Begriff von Philosophie nahekommt, wie er in den platonischen Dialogen entfaltet wird.
Psychologisch gut beobachtet beschreibt er die Besonnenheit als eine Verzögerung im Handeln. So kann jemand, der einem anderen schaden möchte, fürchten, die Tat könne misslingen. Daher zögert er.
„Denn während er sich fürchtet, zögert er und, während er zögert, bringt oft die vergehende Zeit den Sinn von seiner Absicht ab. Was geschehen ist, ist nicht mehr zu ändern, in der Zögerung aber liegt die Möglichkeit, daß die Tat nicht geschieht“ (Nestle 1956, 215).
Bedenkenswert sind diese Ausführungen deshalb, weil nicht das Zögern als Konsequenz der Besonnenheit dargestellt wird, sondern diese aus jenem erst entspringt. Der Handlungsaufschub schafft uns die notwendige Zeit zum Denken. Besonnen ist, wer „die Lust des Augenblicks zurückdrängend, imstande ist, seiner Begierde Herr zu werden und sich selbst zu überwinden“ (ebd. 216). Im Übrigen vertritt Antiphon die Überzeugung: „Wer jedoch meint, er könne seinem Nächsten Schaden zufügen, ohne selbst solchen zu erleiden, der ist nicht verständig“ (ebd. 215). Seine Überlegungen zur Tugend der Selbstbeherrschung zeigen ihn ebenfalls als einen psychologisch geschulten Beobachter. Auch hier begnügt er sich nicht damit, für Selbstbeherrschung zu werben, sondern weist darauf hin, dass diese erst in der Auseinandersetzung mit dem Begehren eines „Schlechten“ provoziert wird und sich entfalten kann.
Thrasymachos aus Chalkedon (Bosporus), Sophist und Rhetor, war als Rhetor und Publizist in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts in Athen tätig. Er hat die Entwicklung der Rhetorik dadurch zu fördern gesucht, dass er in seinem rhetorischen Lehrbuch, der Megale techne, eine Lehre von der Beeinflussung der Emotionen der Hörer entwickelte und die Frage der wirkungsvollen Vortragsweise erörterte. Neben Gerichtsreden verfasste er symbuleutische, das heißt ratgebende Flugschriften, in denen er zu aktuellen politischen Fragen Stellung nahm. In Peri Politeias übt er Kritik am Verfall des Staates und empfiehlt die Rückkehr zur Verfassungsordnung der Väter. Er betont, dass das gegenwärtige Unglück Athens – gemeint ist die Situation des Peloponnesischen Krieges -, „das zum größten Teil nicht eine Fügung der Götter oder des Zufalls, sondern Schuld der Regierung ist“, nur zu beenden ist, wenn man sich „diesen Leuten“ nicht weiter überlässt. Während andere durch großen Wohlstand zum Übermut verleitet werden, waren die Athener, als es ihnen gut ging, besonnen, „im Unglück dagegen, das andere Leute zur Besinnung bringt, wurden wir toll“ (ebd. 198). Notwendig ist es daher, den Parteienstreit zu beenden und dabei auch den Ruf nach dem „guten alten Recht“, der z. Z. Verwirrung stiftet, zu untersuchen. Soweit es sich dabei um weiter zurückliegende Zustände handelt, muss man die geschichtlichen Zeugnisse untersuchen, ansonsten die noch lebenden älteren Zeitgenossen befragen.
Unabhängig davon, ob es sich um eine Musterrede, um eine von ihm gehaltene oder nur von ihm verfasste, von einem anderen vorgetragene Rede handelt – deutlich wird, dass in ihr in klassischer Weise Prinzipien der politischen Rhetorik angewandt wurden: Anknüpfung an eine der Situation entsprechende Stimmung, Benennung von Schuldigen, Appell an die politische Einsicht der Zuhörer, Impuls der Erneuerung besserer alter Zeiten. Der Hinweis auf die Götter lässt offen, ob nur das gegenwärtige Unglück menschengemacht ist oder ob es überhaupt verfehlt ist, das Schicksal Göttern zuzuschreiben. Interessant jedoch ist, dass aus den spärlichen Fragmenten, die von Thrasymachos überliefert sind, sich eins befindet, das hierzu Stellung nimmt. Dort heißt es:
„Die Götter beachten die menschlichen Dinge nicht. Denn sonst hätten sie nicht das größte der Güter der Menschen vergessen, die Gerechtigkeit. Sehen wir doch, daß die Menschen von dieser keinen Gebrauch machen“ (Capelle 1968, 369).
Hier taucht ein Gedanke auf, der bereits, in allerdings anderer Weise, bei Solon anklingt. Solon betont, dass die Bürger Athens zu Unrecht die Götter für das Unrechtsregime der Tyrannen verantwortlich machen, hätten sie doch selbst „diese Leute“ an die Macht gebracht. So argumentiert Thrasymachos auch in seiner Rede. In dem erhaltenen Fragment nimmt der Gedanke eine andere Wendung. Die Götter kümmern sich nicht um die Menschen, denn sonst würden sie es nicht zulassen, dass das Recht bei ihnen so missachtet wird. Das klingt bereits wie eine Vorwegnahme epikureischer Gedanken.
Blickt man von diesem Fragment auf die Darstellung der Person des Thrasymachos bei Platon, dann bekommt die dort von Thrasymachos aufgestellte These:
„Gerechtigkeit ist nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren“ eine neue Bedeutung. Es ist der illusionslose Blick des zynischen Realisten auf die sich gleichbleibende – schlechte – menschliche Natur. Es ist ein Blick, der in ähnlicher Weise und durch denselben Lehrer angeregt – nämlich Gorgias – auch bei Thukydides zu finden ist. „Wir glauben, daß bei den Göttern vermutlich, ganz sicher aber bei den Menschen, überall aus einem Zwange der Natur heraus das Mächtige über das gebietet, dessen es Herr wird“ (Thukydides o. J., 463).
Aus diesem Grund ist auch Guthrie zuzustimmen, der bemerkt, dass Platon in seinem Bild des Sophisten auf eine vielleicht einseitige, aber bei ihm tatsächlich vorhandene Charaktereigenschaft hingewiesen hat (Guthrie 1993, 298).
Bei Kritias schließlich handelt es sich um einen Sophisten des 5. Jahrhunderts, der als Dichter bekanntgeworden ist, mehr aber noch als berüchtigter Politiker. Er war ein Vetter von Platons Mutter und schloss sich als junger Mann gemeinsam mit Alkibiades dem Sokrates-Kreis an. Sehr bald verließ er diesen und trat als Vertreter der Oligarchie und als Demokratengegner auf. Xenophon berichtet, dass er von Sokrates wegen seines Lebenswandels heftig kritisiert wurde. Um 407 musste er zeitweise ins Exil nach Thessalien. Er konnte aber später zurückkehren und erreichte unter der Herrschaft der Dreißig eine führende Stellung. Er war verantwortlich für eine Reihe von Terrorakten. Als Thrasybulos im Jahre 403 die Herrschaft der Dreißig stürzte, um die Demokratie wiederherzustellen, fiel Kritias im Kampf gegen ihn.
Die literarische Tätigkeit von Kritias ist geprägt durch sophistische Einflüsse. Er schrieb eine Reihe politischer Elegien, in denen er auch fremde Sitten und Bräuche beschrieb sowie ethische und pädagogische Fragen behandelte.
Unter seinen Prosaschriften finden sich Verfassungsstudien über Thessalien, Sparta und vielleicht auch Athen. Weitere Schriften zeigen eine gewisse Ähnlichkeit mit sokratischen Dialogen. Außerdem verfasste er mehrere Dramen, die eine gewisse Nähe zu Euripides aufweisen. Aus dem Sisyphos, einem Satyrspiel, ist von Sextus Empiricus ein größeres Fragment überliefert, das eine radikale Mythenkritik enthält. Hier handelt es sich um ein prägnantes Beispiel sophistischer Aufklärung:
„Es gab eine Zeit, da war der Menschen Leben ungeordnet und tierhaft und der Stärkere untertan, da gab es keinen Preis für die Edlen noch auch ward Züchtigung den Schlechten zuteil. Und dann scheinen mir die Menschen Gesetze aufgestellt zu haben als Züchtiger, auf daß das Recht Herrscherin sei (zugleich von allen?) und die Frevelei zur Sklavin habe. Und bestraft wurde jeder, der sich nur verging. Dann als zwar die Gesetze sie hinderten, offen Gewalttaten zu begehen, sie aber im Verborgenen solche begingen, da, scheint mir, hat (zuerst) ein schlauer und gedankenkluger Mann die (Götter) furcht den Sterblichen erfunden, auf daß ein Schreckmittel sei für die Schlechten, auch wenn sie im Verborgenen etwas täten oder sprächen oder dächten. Von dieser Überlegung also aus führte er das Überirdische ein: Es ist ein Daimon, in unvergänglichem Leben prangend, mit dem Geiste hörend und sehend, denkend im Übermaß, sich selbst gehörend (?), göttlich Wesen in sich tragend, der alles unter Sterblichen Gesprochene hören, alles Getane schauen kann. Wenn du aber mit Schweigen etwas Schlechtes planst, so wird das nicht verborgen sein den Göttern; denn dafür ist die Vernunft (zu stark) ihnen: Mit diesen Reden führte er die lockendste der Lehren ein, mit lügnerischen Worten die Wahrheit verhüllend“ (D/K 88, B25).
Dieses Stück ist nicht nur ein Zeugnis dafür, dass der Mythos im 5. Jahrhundert seine maßgebliche Bedeutung verloren hatte, sondern es gehört auch in die damals vielerörterte Frage über das Verhältnis von ‚Physis und Nomos‘. Dass die in der Polis herrschenden Gesetze nur vereinbarter Brauch sind, gehört dem neuen Denken an. Kritias geht einen Schritt weiter. Wodurch erhält der vereinbarte Brauch seine Verbindlichkeit? Eine Antwort gibt seine Deutung der Entstehung von Mythen. Erreicht wird dadurch eine doppelte Destruktion: die des Mythos und die der Gesetze. Unbeantwortet bleibt allerdings die Frage: Wodurch können Gesetze Verbindlichkeit erlangen? Der Versuch der Beantwortung dieser Frage bildet ein Zentrum des sokratischen Denkens.
Betrachtet man die thematischen Schwerpunkte der Tätigkeit dieser Intellektuellen – wie man das Wort Sophist vielleicht am ehesten in unseren Sprachgebrauch übersetzen kann -, so sind folgende Aspekte zu nennen, die mit wechselnden Schwerpunkten auftreten:
Der tradierte Mythos wird kritisiert. Das geht von einer agnostischen Einstellung (Protagoras) über den Versuch der Erklärung der positiven Bedeutung der Religion für die Menschen (Prodikos) bis zur Entlarvung des Mythos‘ als Priesterbetrug (Kritias).
Der zweite Aspekt betrifft die Abwendung von naturphilosophischer Spekulation. Diese wird zwar nicht wie der Mythos kritisiert – vielmehr ist sie selbst ja mythenfeindlich konzipiert, wie Anaxagoras’ Denken deutlich macht –, aber Fragen der Kosmologie finden wenig Interesse bei den Sophisten.
Der dritte kann verstanden werden als Kritik an der tradierten Polis-Sittlichkeit. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Rechtsordnung der Polis entwickelte sich unter dem Begriffspaar ‚Physis – Nomos‘. Unter der ‚Physis‘ wird die natürliche Beschaffenheit einer Sache verstanden, wie sie sich aufgrund der in ihr gelegenen Anlagen entwickelt und darstellt. Dabei ist wesentlich mitgedacht, dass dieses ohne Zwang geschieht. Der Gegenbegriff zu ‚Physis‘ ist daher ‚bia‘, Gewalt, Zwang. Der Begriff ‚Nomos‘ ist zu verstehen als ‚Gesetz‘ oder ‚Brauch‘. Das ‚Gesetz‘ ist von einem Gesetzgeber „festgesetzt“ worden; es ist ‚thesei‘. Bräuche sind vereinbart. Die Kritik der Sophisten an der Polis-Sittlichkeit bestand darin, dass sie die These vertraten, die jeweiligen Rechtsordnungen seien bloß vereinbart, sie seien ‚nomo‘, nicht ‚physei‘. Schwieriger war es für sie zu sagen, wie denn eine Rechtsordnung aussehen müsste, die der Natur entspricht. Das von ihnen konzipierte Naturrecht war entweder egalitär, insofern es von der Gleichheit aller Menschen ausging (Antiphon, Hippias), oder es propagierte das Recht des Stärkeren (Kallikles, Thrasymachos).
Der vierte Aspekt beinhaltet die von den Sophisten eingeleitete anthropologische Wende. Das bedeutete nicht nur, dass die Situation des Menschen, seine unterschiedlichen Lebensweisen, seine Praxis, zunehmend Interesse fanden, sondern radikalisierte sich zu der Frage, ob nicht überhaupt alles unter dem Blickwinkel des Menschen gesehen werden müsse . Das jedenfalls ist der Kerngedanke des von Protagoras entwickelten ‚Homo-mensura-Satzes‘.
Mit diesen Überlegungen einher geht der fünfte Aspekt, der die menschliche Rede und überhaupt die Sprache zum Inhalt hat. Die Rede war Thema der Rhetorik, die seit ihren sizilianischen Anfängen bei Korax und Teisias in Gorgias ihren ersten Höhepunkt erreichte (Ueding/Steinbrink 1986, 13). Die menschliche Rede wurde als eine Macht verstanden, die Seele der Menschen zu beeinflussen. Daneben entwickelte sich ein Interesse an der Sprache, das in den Kontext einer Grammatik gehört. Die Komposition eines richtig gebauten Satzes und die Unterscheidung von Satzformen (Protagoras), aber auch die Semantik und Synonymik von Worten (Prodikos) spielten eine Rolle. Wichtig wurde die Rhetorik in einer geschichtlichen Situation, in der die Angelegenheiten der Politik nicht mehr nur einer kleinen Gruppe von Adligen vorbehalten waren, sondern die die politische Beteiligung einer größeren Anzahl von Bürgern ermöglichte.
Das politische Interesse stellt daher den sechsten Aspekt sophistischer Tätigkeit dar. Welche Fähigkeiten muss man haben, um ein erfolgreicher Politiker zu sein? Auf diese die athenische Jugend beschäftigenden Fragen suchten Sophisten mit ihrem Lehrangebot eine Antwort zu geben.
Schließlich war die Vermittlung einer höheren Bildung das Feld der sophistischen Lehrtätigkeit. Das pädagogische Interesse und die Entwicklung fachwissenschaftlicher Fragen stellen daher den siebten Aspekt ihres Auftretens dar. Dabei bildete sich ein Kanon von Wissenschaften wie Rhetorik, Grammatik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie heraus.