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3. Das Theater – Merkmale des dramatischen Dialogs in der Tragödie

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Neben der Entstehung des Politischen muss die Erfindung des Theaters als eine spezifisch griechische Angelegenheit angesehen werden. Das griechische Wort für Theater leitet sich ab von dem Wort ‚thea‘, das ‚Schau‘, ‚Besichtigung‘, ‚Anblick‘, ‚Schauspiel‘ und schließlich ‚Platz auf dem Theater‘ meint. Das, was angeschaut wird, ist ursprünglich die Prozession eines Chors zu Ehren des Gottes Dionysos, bei dem, von Musik begleitet, die mit Masken auftretenden Mitglieder des Chors sowie der Vorsänger (Exarchron) den Gott um sein Erscheinen bitten.

Als Beleg für die Weiterentwicklung dieser Frühform der griechischen Tragödie ist auf einen Dithyrambos des Chorlyrikers Bakchylides (ca. 505–ca. 450) mit dem Titel Theseus hinzuweisen, bei dem zunächst der Chor auftritt und fragt, „warum die Trompete geblasen“ habe. Darauf antwortet der Chorführer in der Gestalt des „Aigeus“, ein Bote habe von einem Mann berichtet, der ein Ungeheuer erschlagen habe. Der Chor fragt, ob dieser Mann ein Mensch oder ein Gott sei, und der Chorführer beschreibt nun den Fremden, sein Aussehen, seine Herkunft und seine bevorstehende Ankunft in Athen (Schadewaldt 1991, 41).

Von dieser Vorform bis zur ersten uns vollständig überlieferten und in seiner Form bereits vollendeten Tragödie Die Perser von Aischylos (525/24–456/55), aufgeführt 472, vergeht eine erstaunlich kurze Zeit.

Betrachtet man den Aufbau der erhaltenen Tragödien auf dem Hintergrund ihrer – teilweise erschlossenen – geschichtlichen Ursprünge, so wird deutlich, dass die Tragödie in sich zwei ganz unterschiedliche Stilelemente vereinigt: die dithyrambische Lyrik der Chöre mit ihrer musikalischen Begleitung und die dialogische Darstellung einer in der Regel dem Mythos entnommenen Heldensage. Hatte bereits Thespis (um 534) einen Schauspieler auftreten lassen, so fügt Aischylos, wie Aristoteles in seiner Poetik bemerkt, einen zweiten hinzu. Während der Chor das lyrisch-ekstatische Element repräsentiert, steht der Dialog für den Anspruch vernünftiger Rede, für den rationalen Logos. Zwar ist der Ursprung der Tragödie in der kultisch gebundenen Chorlyrik zu suchen, doch führt die weitere Entwicklung dazu, dass das Lyrische zugunsten des Dialogischen immer weiter zurücktritt. Dem Dialog kommt in der Tragödie keineswegs nur die Funktion einer in der Form der Wechselrede vorgetragenen Heldensage zu, sondern aus der mythischen Vergangenheit entsteht die in die Gegenwart transponierte, konfliktreiche Auseinandersetzung über eine menschliche Grundsituation. Vernant beschreibt diesen Sachverhalt treffend so:

„In der durch das Drama eröffneten Debatte wird die Stellung des Menschen selbst zum Problem, wird das Rätsel des menschlichen Daseins dem Publikum aufgegeben, ohne daß die immer wieder aufgenommene und nie abgeschlossene tragische Suche je eine definitive Antwort liefern und die Frage zum Verstummen bringen könnte“ (Vernant 1987, 198).

Diese Tendenz auf Darstellung der Situation des Menschen in einem grundsätzlichen Sinn veranlasste Aristoteles, die Dichtung im Vergleich zur Geschichtsschreibung, die stets über Einzelnes berichtet, als „philosophischer und bedeutender“ zu erachten (Aristoteles 1983, 1451 a). Diesem Gedanken entsprechend ist es nicht abwegig, die Tragödie als eine Vorstufe der philosophischen Dialektik zu bezeichnen (vgl. Schadewaldt 1991, 57).

Dieser Sachverhalt lässt sich am König Ödipus des Sophokles in prägnanter Weise verdeutlichen. Das Stück enthält eine intensive, untergründige Beziehung zur sokratischen Philosophie, die bislang kaum beachtet wurde. Sophokles (496–405), selbst in exemplarischer Weise Repräsentant des 5. Jahrhunderts, genoss in Athen als Tragödiendichter und als Politiker ein außerordentlich hohes Ansehen. König Ödipus wird nach Ausbruch der Pest aufgeführt worden sein. Verschiedene Anhaltspunkte sprechen für die Zeit zwischen 429 und 425. Der Sinn dieser Tragödie, wie der Tragödie überhaupt, erschöpft sich nicht in der Darstellung von „Schuld und Sühne“. Bereits Aristoteles versucht in seiner Poetik, diese Begriffe fernzuhalten – er spricht vielmehr von dem „Fehler“ eines Menschen, der sittlich keineswegs schlechter ist als irgendein Mensch sonst. Es handelt sich bei dem tragischen Geschehen auch nicht um den Ausdruck einer blinden Schicksalsgläubigkeit – wenngleich den Griechen im „tragischen Zeitalter“ durchaus der Gedanke nahelag, dass die Götter, die einen Menschen vernichten wollen, ihm selbst die Mittel dazu bereitstellen. Beide Interpretationen sind daher auch nicht völlig falsch, aber sie treffen auch nicht – wie Schadewaldt bemerkt – das Wesentliche. Eine entscheidende Einsicht der Tragödie wird im König Ödipus am Ende des Stücks vom Chor vorgetragen: Man darf keinen Menschen vor seinem Tod glücklich preisen. Das ist der betonte, immer wieder in Erinnerung gerufene Hinweis auf die Hinfälligkeit, Gebrechlichkeit und Sterblichkeit des Menschen.

Ödipus ist der Retter und Herrscher der Stadt Theben. Er befreite sie von den Opfergaben, die die Sphinx der Stadt auferlegte, indem er ihr Rätsel löste. Das Rätsel lautete: Was geht morgens auf vier Beinen, mittags auf zweien und abends auf dreien? Die Antwort ist: der Mensch, der als Kind auf allen Vieren kriecht, als Erwachsener auf zwei Beinen geht und als Greis auf einen Stock sich stützt. Dieses Rätsel ist bereits symbolisch, insofern es die überwiegende Hilflosigkeit des Menschen betont. Giorgio Colli hat in seinem Buch Die Geburt der Philosophie darauf hingewiesen, dass das im Mythos beheimatete Rätsel eine Vorform der Philosophie darstellt (Colli 1981, 45–54). So harmlos der Wortlaut des Rätsels auch klingen mag, so ernst ist sein Anspruch. Es gehört zum Wesen des Rätsels, dass sich die Sphinx, nachdem Ödipus ihr Rätsel löste, in den Abgrund stürzte, während ein ungelöstes Rätsel den Tod desjenigen nach sich zog, der an ihm scheiterte. Nun gilt es, ein zweites Mal die Stadt zu retten – diesmal von der Pest. Bedingung ist, die Mörder von Laios, den ehemaligen König der Stadt, zu finden. Und mit Bezug auf seine erste Rettung bemerkt Ödipus: „Nun denn: Von Grund auf werde ich es abermals/Aufklären“ (Sophokles 1973, 15).

Damit ist das Stichwort gegeben für die Handlung des Stücks. Es geht um Aufklärung eines Verbrechens – es geht um rücksichtslose Wahrheitssuche. Dazu ist Ödipus entschlossen. Diese Suche erfolgt im Auftrag des Gottes Apollon. Schadewaldt bemerkt: „Irgendwie ist es so, als ob Apollon der unmittelbare Mitspieler, ja der Hauptspieler in dem Stück sei. Apollon ist der Gott der Wahrheit, der nicht dulden kann, daß ein Verbrechen unentdeckt bleibt, der verlangt, daß die Dinge an den Tag kommen und offenkundig werden, bis sie gesühnt sind“ (Schadewaldt 1991, 278).

König Ödipus ist ein Drama der Wahrheitssuche und – eingedenk der Tatsache, dass das Wort Wahrheit im griechischen auch den Sinn von Unverborgenheit hat – ein Entdeckungs- und Enthüllungsdrama. Die tragische Ironie des Stücks besteht darin, dass Ödipus nicht scheitert, obwohl er den Fall löst, sondern weil er ihn löst. Der Mörder, den er sucht, ist er selbst. Die Aufklärung des verborgenen Sachverhalts führt ihn zur Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis ist im Mythos immer zu verstehen als Erkenntnis der eigenen Herkunft. Um tragische Ironie handelt es sich deshalb, weil Ödipus, ohne es zu wissen, dem Gebot Apolls folgte, das am Eingang seines Tempels in Delphi jedem Eintretenden in die Augen fiel: Erkenne dich selbst! Dieses Gebot ist Mahnung und Warnung zugleich. Es meint: Erkenne, dass du nur ein Mensch bist, ein sterbliches Wesen! Hüte dich vor Hybris! Diese Erkenntnis gewinnt Ödipus im Laufe des Stücks. Glaubte er, die Sphinx besiegt zu haben, indem er die Frage nach dem Menschen beantwortete, so wird ihm im Drama schmerzhaft deutlich, dass er sich selbst nicht kennt. König Ödipus ist das Drama der Selbsterkenntnis.

Das Wort Drama bedeutet Handlung. Bereits Aristoteles weist daraufhin, dass es in der Tragödie nicht um die Beschreibung menschlicher Charaktere geht, sondern um Handlung (Aristoteles 1983, 1448 a). Die Handlung vollzieht sich wesentlich in der Form des Dialogs.

Alles nichtsprachliche Geschehen wird entweder berichtet oder ereignet sich hinter der Bühne. Der Prozess der Aufdeckung der Wahrheit vollzieht sich als Dialog. Dabei werden konstitutive Prinzipien von Dialog-situationen deutlich. Die erste, entscheidende wird bereits im Gespräch mit dem Seher Teiresias gezeigt. Ohne eine Bereitschaft der Beteiligten ist ein Gespräch nicht möglich. Teiresias, der blinde Seher, der die Wahrheit kennt, ist zum Gespräch nicht bereit; und als er schließlich die Wahrheit mitteilt, glaubt ihm Ödipus nicht. Nicht minder problematisch verläuft das Gespräch mit seinem Schwager Kreon. Hier sind es Verdächtigungen, die Ödipus daran hindern, dessen Mitteilung vorbehaltlos zu prüfen. Wiederum anders sind die Schwierigkeiten im Gespräch mit Iokaste, seiner Frau und, was er nicht weiß, Mutter. Iokaste ahnt die fürchterliche Wahrheit und versucht, das Gespräch zu beenden, ohne aber den Grund selbst anzugeben. Auch die Möglichkeiten des Gesprächs, die durch den dritten Schauspieler sich bieten, zeigen prinzipielle Möglichkeiten dialogischer Situationen. Der dritte Gesprächsteilnehmer bietet die Möglichkeit einer Projektionsfläche der Rede über den zweiten; er ist Vertrauter oder Intrigant, Vermittler oder richterliche, den Streit schlichtende Instanz.

Im König Ödipus ist der Dialog der notwendige Umweg der Wahrheitsfindung, und das heißt hier der Selbsterkenntnis. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass Sokrates dieses Drama gesehen hat; und angesichts der bedeutenden Stellung, die die Tragödie im griechischen Leben einnahm, ist es ebenso sicher, dass der dramatische Dialog für die von ihm geführten philosophischen Dialoge eine nachhaltige Bedeutung hatte.

Sokrates

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