Читать книгу Psychotherapie im Alter - Wolfgang Schmidbauer - Страница 11
Leistung und Konsum
ОглавлениеDie moderne Gesellschaft beruht auf mobilen Individuen, die sich selbst verwirklichen oder das zumindest von sich glauben. Das heißt für das Alter, dass es schwieriger und leichter in einem geworden ist. Leichter, weil es weniger Festlegungen gibt und viel mehr Möglichkeiten, durch vertieftes Wissen über körperliche Hygiene und die Vorbeugung von Altersleiden bis ins Greisenalter fit zu bleiben – vorausgesetzt, man hat dazu die notwendigen materiellen und seelischen Ressourcen.
Denn hier kommen die Nachteile der Konsumgesellschaft ins Spiel. Sie ist jugend- und leistungsfixiert, das heißt, dass die Hochschätzung von Altersmilde und Altersweisheit, die manche (keineswegs alle) traditionellen Kulturen auszeichnet, nur als nostalgischer Traum existiert. Zudem ist diese Gesellschaft sehr auf Bedürfnisbefriedigung hin dynamisiert. Dadurch verlieren Menschen, die lieber in einem festen, übersichtlichen Rahmen leben und das Vertraute schätzen, an Wert. Personalchefs führen das Wort Flexibilität im Munde, als sei es inzwischen die kostbarste aller Sekundärtugenden, weit vor Verlässlichkeit, Pünktlichkeit und Sparsamkeit.
Wer in einer traditionellen Gesellschaft ein Handwerksmeister, ein Bauer oder ein Edelmann war, blieb das, so lange er lebte, es sei denn, er geriet in eine soziale Katastrophe. Dieser Schutz für unser Selbstgefühl und unsere Identität ist heute verschwunden. Wir sind, als was wir uns vernetzen. Wie unsere Umwelt uns definiert, wie wir unsere berufliche Zukunft gestalten, das kann sich von heute auf morgen in einer dramatischen Weise ändern.
Noch vor zwanzig Jahren prägten Großbetriebe wie Siemens in München oder Hoechst in Frankfurt ganze Generationen. Wer einmal in einer solchen Firma war, fühlte sich sicher, als sei er Beamter. Heute haben sich solche Verlässlichkeiten selbst bei der Post und bei der Bahn komplett aufgelöst. Gleichzeitig wird das soziale Netz fadenscheinig.
Wer über 50 Jahre alt ist und arbeitslos wird, muss sich auf ein Leben einstellen, in dem alle Sicherheiten schwinden, mit denen er als Zwanzigjähriger seine berufliche Perspektive aufbaute. Damals hat er für alle Fälle etwas gespart, um notfalls sein Arbeitslosengeld aufzubessern. Heute bereut er es, weil ihm sein Erspartes auf die Sozialhilfe angerechnet wird, die inzwischen die einzige Auffangstation der Menschen wird, welche keinen Arbeitsplatz mehr finden.
Immer mehr Menschen stürzen binnen weniger Jahre von einem Gehalt, das ihnen alle Annehmlichkeiten der Konsumgesellschaft sicherte, wie an einem Bungee-Seil in die Verarmung. Sie kommen in letzter Minute, dicht über dem Abgrund, zum Stillstand, finden sich in der Gruppe der Sozialhilfeempfänger, zu denen jemals zu gehören ihnen zu Beginn ihres Arbeitslebens ganz und gar nicht denkbar war.
Natürlich leben wir alle, verglichen mit den Zuständen in einem indischen Dorf oder einem brasilianischen Slum, in Luxus und Sicherheit. Aber für unser Selbstgefühl sind solche Vergleiche nicht hilfreich. Wer in einem Armutsviertel aufwächst, gewinnt eine seelische Einstellung, die ihm Freude über jeden Extrabissen und jede ergatterte Münze beschert. Wer aber in einer Leistungsgesellschaft heranwächst, definiert sich durch das, was er im Vergleich zu anderen leistet und sich leisten kann. Und wenn er in beiden Feldern beraubt und entwertet wird, ergibt das einen Nährboden für Depressionen, wie man ihn sich ärger schwer vorstellen kann.
Depressionsgefährdete können eine ambivalente Situation nicht in ihrer vollen Bedeutung wahrnehmen. Sie handeln erst und erleben später. Wichtig ist dann ein angemessener Umgang mit Grenze und Aggression beim Helfer. Er darf keiner Auseinandersetzung aus dem Weg gehen, denn häufig entlastet es Depressive, wenn sie streiten können und einen Partner finden, der sie trotz ihres elenden Zustandes so ernst nimmt, dass er mit ihnen streitet. Was unbedingt zu vermeiden ist, sind Entwertungen und jene billigen Konfrontationen, in denen Autoaggressionen besserwisserisch widersprochen wird. »Sie können sich hier im Wohlstand Europas den Luxus einer Depression leisten, denken Sie mal darüber nach, wie es ist, in Indien alt zu werden oder in Afrika!«
Während ein Gesunder in der Begegnung mit den armen, aber auch weniger depressiven Kulturen der Tropen durchaus Distanz zu seinen narzisstischen Problemen finden und innerlich gelassener von einer Reise nach Brasilien oder Indien zurückkehren kann, sind solche Vorhaltungen für den Depressiven nur eine weitere Kränkung. Sie sind vielleicht besser, als sich ganz von ihm zurückzuziehen, ihn pseudotaktvoll und dahinter hoch aggressiv seinem Schicksal zu überlassen. Aber sie sind nicht hilfreich, weil sie nicht das überlastete Ich stützen, sondern versuchen, das Problem durch Normierung zu erledigen – und an Normierungen hat der Depressive meist schon genug zu schleppen.
Wer interessiert und geduldig mit einem Depressiven spricht, findet immer Bereiche, in denen die Bedrückung etwas geringer ist und das Ich Spielräume hat. Sie werden vom Depressiven entwertet, weil es ihn ja nicht – gemessen an seinem Anspruch – weniger depressiv macht, wenn er wieder beginnt zu joggen, Rad zu fahren, ein altes Auto zu reparieren oder seinen Garten umzugraben. Aber wenn der Therapeut entschlossen dabei bleibt, dass es nicht angeht, auf ein Ende der Depression durch die Therapie zu warten, ist schon viel gewonnen. Der Patient darf nicht passiv auf Besserung hoffen, um erst dann handlungsfähig zu werden.
Er muss lernen, trotz der Depression zu handeln, etwas zu tun, was ein wenig entlastet, was früher Freude gemacht hat, dann wird er ein Stück Zukunft zurückerobern. Parallel dazu wird ihn die Therapie bewegen, die Geschichte der Depression zu rekonstruieren. Woher kommt es, dass dem Kranken ein Stück Lebenszuversicht nach dem anderen abhanden gekommen ist? Wo sind die seelischen Verletzungen, aus denen sich dann die illusionären Ansprüche, die moralischen Überempfindlichkeiten ergeben haben? Kann sich der Depressive nicht ein wenig mehr erlauben, sich auch über andere zu ärgern, nicht nur über sich selbst? Wann und wie ist ihm sein Humor abhanden gekommen? Wir alle können schließlich die Niederlagen des Lebens nur dann verarbeiten, wenn sie unseren Humor wecken und wachsen lassen. Andernfalls werden wir früher oder später erstarren, manchmal auch, vor allem, wenn wir als Kinder tiefer verletzt worden sind, in Rachsucht oder Depression enden.