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Wiederholung und Neubeginn

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Wenn sich das subjektive Zeiterleben im Alter beschleunigt, liegt das nicht zuletzt daran, dass wir Wiederholungen weniger Aufmerksamkeit schenken und sie als Routine in einem Zustand verminderter Aufmerksamkeit erledigen. So erinnern wir uns an eine dreiwöchige Fernreise ausführlicher und intensiver als an zehn Jahre gleichmäßiger Arbeit im Büro.

Angeblich ist die Mitte der erlebten Zeit bereits im Alter von zwanzig Jahren erreicht. Obwohl solche Objektivierungen in einem so subjektiven Erlebnisfeld nicht sonderlich aussagekräftig sind, kennt doch jeder Ältere aus eigenem Erleben, dass Tage und Wochen viel schneller vorbeiziehen.

Was sich in der Kindheit schier unübersehbar dehnte, ist überschaubar; die Sonne steigt zum Frühlings- und Sommerpunkt, dann sinkt sie wieder; die Wege in der Heimatstadt, im vertrauten Urlaubsort sind dieselben. Erinnerungen haben es schwer, sich mit Jahreszahlen zu verbinden. Nur große, einschneidende Ereignisse, ein Todesfall, ein Hauskauf, die Geburt eines Kindes oder eines Enkels ragen aus dem Einerlei.

Das hat für die psychotherapeutische Arbeit mit Alten zwei Folgen. Auf der einen Seite ist es schwerer, sie für eine Behandlung zu motivieren, denn diese bedeutet einen Bruch mit der Routine und konfrontiert mit der eigenen Erstarrung, mit dem Unwillen, sich noch auf neue Situationen einzulassen. Auf der anderen Seite ist es auch schwerer, eine Therapie zu beenden, die als Teil des eigenen Lebens erlebt wird und ein Stück Sicherheit und Lebensqualität bietet.

Nur die kritisch diskutierbare Erfahrung bereichert eine Beziehung. Erfahrung, die sich autoritär verabsolutiert, drückt Selbstgefühlsprobleme aus und kann keinen Beitrag zu ihrer Lösung leisten. Dann wird »Erfahrung« zu Abwehr von Erfahrung, die beispielsweise der ältere Psychotherapiepatient gegen einen jüngeren Therapeuten richtet. »Haben Sie erst einmal meine Lebenserfahrung ...« Erfahrung als reine Wiederholung stumpft ab; sie macht buchstäblich dumm. Erfahrung als Verarbeitung von Konflikten, als Schatz von Lösungen, die sich schon einmal bewährt haben, ist von unersetzlichem Wert.

Wer eine Lösung anzubieten hat, wem ein origineller Einfall zufliegt, der wird es nicht für nötig halten, als Quelle seine Erfahrung ins Feld zu fuhren. Wer hingegen von seiner vieljährigen Erfahrung spricht, als ob er damit Gewicht für seine Aussage gewänne, sagt mehr über seine narzisstische Bedürftigkeit als über sein Thema. Ich erinnere mich an einen Kollegen, der einer Diskussionsbemerkung auf einem Therapeutenkongress die Aussage vorausschickte, er habe in dreißig Jahren klinischer Praxis Erfahrungen mit zehntausend Patienten gesammelt. Dann sagte er einige Banalitäten und setzte sich wieder. Ich dachte im stillen an den Sponti-Spruch: »Esst Scheiße! Millionen Fliegen können sich nicht irren!«

Menschliche Kreativität ist so flüchtig wie erotische Spannung – daher fruchtet es überall wenig, ein Leporello-Verzeichnis über eigene Eroberungen anzulegen. Das Geheimnis bleibt im Dunkeln, das Zählbare wird gezählt. Wenn ein älterer Therapeut auf seine große Erfahrung angesprochen wird, muss er darin ein Ablenkungsmanöver erkennen. Durch die Schmeichelei soll seine Bereitschaft gesteigert werden, ein Abwehrmanöver des Patienten nicht anzutasten.

Wenn ein älterer Patient sich gegenüber einem jüngeren Therapeuten auf seine Erfahrung beruft, signalisiert das einen verborgenen, schambesetzten Mangel im Selbstgefühl. Anscheinend fällt es dem Betroffenen schwer, sich von der Überlegenheit zu verabschieden, die zu Beginn unseres Lebens durch Altersklassen geprägt wird und nie ganz verschwindet.

Natürlich finden wir uns damit ab, dass Jüngere Auszeichnungen erhalten, die uns vorenthalten bleiben. Aber je stärker wir den Eindruck haben, übersehen zu werden, desto ausgeprägter wächst das Empfinden, dass das so nicht in Ordnung sein kann. Wenn ein Älterer den Orden erhält, den ich erwarte, kann ich noch hoffen, ihn in seinem Alter auch zu bekommen. Wird aber ein Jüngerer ausgezeichnet, bin ich zu spät dran und fühle mich entwertet oder bestraft.

Alles, was ein Patient mitbringt, sollte zunächst einmal als Ressource für die Therapie angesehen werden. Freud war das selbstverständlich, es gehörte für ihn zur ärztlichen Haltung, die ein analytisches Vorgehen fundiert. Aber manche übereifrigen Therapeuten sind sehr schnell bereit, einen Widerstand, ein Nicht-Ernstnehmen der Therapie beim ersten Verdacht zu bekämpfen und dadurch womöglich die Gefahren heraufzubeschwören, die sie jetzt schon voreilig zu erkennen meinen.

Wenn der ältere Patient fürchtet, in seinen Erfahrungen, seinem Wissen nicht angenommen und berücksichtigt zu werden, ist es wichtig, diese Angst zu lindern, so gut es geht, ihm Respekt zu bekunden, ihn erzählen zu lassen, sich über die therapeutische Arbeit mit ihm zu beraten und Eskalationen zu vermeiden, wenn er versucht, sich durch Entwertung des »zu jungen« oder »unerfahrenen« Therapeuten aufzuwerten. Ebenso verbreitet sind aber Entwertungen älterer Patienten durch junge Therapeuten, die in einer intensiven Begegnung ihre eigene Verdrängung des Alterns gefährdet sehen.

Je weniger das Rollenmuster in einer Therapie von dem sozial üblichen Vorbild in Erziehung, Belehrung und Führung abweicht, desto weniger wird auch das professionelle Bewusstsein geschärft. Ein Therapeut, der immer nur Personen behandelt, die jünger und weniger qualifiziert sind als er selbst, hat viel weniger Möglichkeiten, in Krisen und Verunsicherungen die eigene professionelle Aufgabe zu entwickeln. Er übt seine Fertigkeiten nicht mehr als ein Steuermann, der nur bei schönem Wetter in Sichtweite der Küste segelt. Erst angesichts älterer Menschen, die einen höheren sozialen Rang haben und mehr wissen als der Therapeut, kann dieser seine Professionalität finden und behaupten. Er kann sich und dem Klienten klar machen, dass es nicht darauf ankommt, Überlegenheit zu beweisen, sondern in unterschiedlichen Rollen zusammenzuarbeiten, dass Rivalität nicht ausagiert, sondern benannt und auf ihre Sinnhaftigkeit geprüft wird.

Eine einerseits bürokratisch kontrollierte, andererseits von einer rasanten technischen Entwicklung geprägte Kultur wie die gegenwärtige Konsumgesellschaft ist in Gefahr, ihre eigenen Wurzeln zu verlieren. Sie idolisiert Fitness und schnelle Anpassung, körperliche Glätte, eine ästhetisierte Erotik und kreiert einen Jugendkult. Damit treten die Möglichkeiten zurück, das Zerrbild des rein biologischen und damit defizitären Alterns im öffentlichen Erleben durch Hochschätzung von Erfahrungsreichtum, Besonnenheit und Weisheit zu ergänzen. Die außerordentliche Langlebigkeit des Menschen hat aber genau diesen Sinn: Es dient der Kultur, wenn es Personen gibt, die im Lebensrückblick viele Moden vergleichen und relativieren können, die selten auftretende Ereignisse bereits kennen und ideologischen Überschwang mäßigen.

Der französische Präsident Aristide Briand antwortete auf die Frage, warum er so viele 80-Jährige in Regierungsämter genommen habe: »Weil es nicht mehr genug 90-Jährige gibt!« (Bibring 1969, S. 278)

Psychotherapie im Alter

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