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Vorwort: Wettlauf mit der Zeit
ОглавлениеEin jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden, sterben, pflanzen, ausrotten, das gepflanzt ist ...
Der Prediger Salomo, 3., 1.2. (nach Luther)
Gibt es auch eine Zeit für Psychotherapie? Seelische Probleme können uns herausfordern oder dazu verleiten, ihnen auszuweichen. »Morgen ist auch noch ein Tag!« Das mag dann dazu führen, dass angesichts vieler verpasster Chancen Resignation um sich greift – früher, ja früher hätte sich das noch gelohnt. Aber jetzt, lohnt sich das auch jetzt noch, kurz vor oder im Rentenalter?
Wer eine Psychotherapie bei einem älteren oder alten Menschen einleitet, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass nicht gelebte Chancen nur zum Teil nachgeholt werden können, wird nicht nur wenig ausrichten. Er weckt auch gefährliche Illusionen.
Auf der anderen Seite können Menschen lernen und sich regenerieren, so lange sie leben. Die Möglichkeiten eines alten Menschen sind anders als die eines jungen, aber nicht ärmer. Ein großes Hindernis für den Schritt in eine Psychotherapie ist der Perfektionismus, durch den ein verletztes Selbstgefühl sozusagen nach einem Verband für seine Wunde sucht.
Damals hätte es sein müssen, jetzt ist es zu spät. Wenn ich den richtigen Zeitpunkt verpasst habe, verdiene ich keine zweite Chance. Es geht mir schlecht, also muss ich wenigstens die Illusion verteidigen, ich könnte mit allem allein fertig werden.
»Das Alter der Kranken spielt bei der Auswahl zur psychoanalytischen Behandlung insofern eine Rolle, als bei Personen nahe an oder über fünfzig Jahren einerseits die Plastizität der seelischen Vorgänge zu fehlen pflegt, auf welche die Therapie rechnet – alte Leute sind nicht mehr erziehbar –, und als andererseits das Material, welches durchzuarbeiten ist, die Behandlungsdauer ins Unabsehbare verlängert.«1
Heute sind die meisten Therapeuten überzeugt, dass diese Einwände Freuds nicht mehr gelten. Die Menschen sind, ebenso wie ihre Umwelt, dynamischer geworden; während zu Freuds Zeiten die Altersklassen noch sehr stabil waren (er wurde 1856 geboren), haben sie sich heute aufgelöst und individualisiert. Der Großvater geht mit dem Enkel mountainbiken; die 60jährige sieht nicht ein, weshalb sie auf Erotik und Reisen verzichten soll und trennt sich von ihrem Partner, der sich in jeder Hinsicht zur Ruhe setzen will.
Karl Abraham hat Freuds These revidiert und von guten Erfolgen der Analysen Älterer berichtet. Später begannen Analytiker wie Grete Bibring, nicht mehr allein die Nachteile, sondern auch die Vorteile des Alters für eine psychotherapeutische Arbeit zu beschreiben: Lebenserfahrung, Reichtum an Erinnerungen, Humor, Distanz – Merkmale, die wir in der Arbeit mit jugendlichen Patienten oft vermissen.
Ein Extrem stellt sicher der Bericht von C.F. Settlage über die psychoanalytische Behandlung einer Frau ab dem 99. Lebensjahr bis zu ihrem Tod im Alter von 104 Jahren dar.2
1 S. Freud, Ges. W., V, S. 20, Frankfurt 1950
2 Transzendenzerfahrungen im hohen Alter. In: M. Teising (Hg.), Altern: Äußere Realität, innere Wirklichkeit. Opladen 1998.