Читать книгу Psychotherapie im Alter - Wolfgang Schmidbauer - Страница 4
Einleitung
ОглавлениеBaccalaureus:
Gewiss! das Alter ist ein kaltes Fieber,
Im Frost von grillenhafter Not;
Hat Einer dreißig Jahr vorüber,
So ist er schon so gut wie tot.
Am besten wär’s, euch zeitig totzuschlagen.
Mephistopheles:
Der Teufel hat hier weiter nichts zu sagen.
Goethe, Faust II
Nach dem Sprichwort heilt die Zeit alle Wunden. Das ist richtig und falsch zugleich. Einerseits ist die Fähigkeit des Menschen wirklich verblüffend, sich nach schwersten Belastungen zu erholen, wenn man ihm die Zeit dazu lässt. Sie wirkt manchmal fast unbegrenzt; das ist jedoch eine Illusion. Denn auf der anderen Seite ist die Beobachtung nicht abzuweisen, dass es Wunden gibt, die nicht heilen, sich manchmal sogar verschlimmern – im körperlichen wie im seelischen Bereich.
Das Sprichwort kommt aus Zeiten, die grausam und gnädig zugleich waren. Von Wunden, welche die Zeit nicht heilte, erlöste der Tod. Wenn in einer vorindustriellen, nur mit traditionellen Heilmitteln versorgten Kultur ein Mensch körperlich oder seelisch aufgibt, kann er sich hinlegen und muss nicht mehr aufstehen. Schlechte Ernährung und mangelnde Belüftung der Atemwege fuhren dazu, dass er recht schnell eine Entzündung der Lunge erleidet und daran meist auch stirbt.
Heute bringt man ihn in ein Krankenhaus und gibt ihm Penicillin; er wird das Ereignis überleben.
Wenn die Zeit seelische Wunden heilt, müssten alte Menschen psychisch stabiler sein als junge. In gewissem Umfang ist auch das richtig. Viele schwere seelische Erkrankungen, wie die sogenannten »produktiven« Psychosen, in denen die Betroffenen Wahnvorstellungen entwickeln oder Stimmen hören, werden im Alter milder oder heilen ganz. Wer mit seinem beruflichen Ehrgeiz abgeschlossen hat, wird sich viele Ängste und Kränkungen ersparen. Ähnliches gilt für die Sehnsucht nach Erfüllung in Freundschaft und Liebe.
Aber Resignation stabilisiert nicht nur unseren Realitätsbezug, sie führt auch zu einem Mangelzustand. Folgerichtig ist die wesentlichste seelische Erkrankung des Alters die Depression.
Nach einem Medizinerscherz hat jeder Patient das Leiden, welches in der Klinik behandelt wird, in die man ihn bringt. Wer vor der Chirurgie zusammenbricht, hat ein chirurgisches Problem, wer vor der Inneren ohnmächtig wird, ein internistisches Leiden. Das ist wahr genug, um sich daran zu erinnern, dass der Kranke Hilfe wünscht, aber keinen Spezialisten, während der Spezialist naturgemäß darauf achtet, das Problem zu finden (oder herzustellen), auf das seine Kenntnisse zugeschnitten sind.
Eine Spezialisierung auf die Psychotherapie Alternder scheint mir nicht sinnvoll, weil diese keine psychischen Spezialprobleme haben. Wir finden die ganze Palette der »normalen« Störungen, die vom Alter manchmal in der einen oder anderen Weise beeinflusst sind. Das Alter ist eine Erfahrung, die den meisten höheren Organismen gehört, es ist ein ganz allgemeines Thema, es durchtränkt unser Erleben. Sobald während der Adoleszenz die Reflexion über das eigene Ich beginnt, setzt auch das Nachdenken über das Alter ein, häufig in der Gestalt einer pathetischen Unfähigkeit, sich vorzustellen, man könne selbst jemals alt werden. Der Baccalaureus in Goethes »Faust II« steht für diesen Zug in unserem Erleben.
Die seelischen Probleme der Älteren (also der Gruppe zwischen 60 und 75) und der Alten sind so vielgestaltig wie die Menschen, die mit ihnen umgehen müssen. Wer genauer hinsieht, erkennt die Fälschung in einem Ausdruck wie »Altersstarrsinn«. Starrsinn als die Unfähigkeit, von dem als richtig und recht Gewähnten abzuweichen, beginnt bereits im Kindesalter, wie jeder Erzieher weiß, der mit einem Trotzkopf zusammenprallt. Jugendliche und Erwachsene haben ihre starren Seiten. Diese sind kein Altersphänomen. Sie sprechen für eine überforderte seelische Abwehr, wie wir sie vor allem bei Angststörungen und narzisstischen Problemen finden.
Wer altert, beobachtet an sich eine höhere Toleranz und Nachsichtigkeit so oft und so gut wie zunehmende Rigidität. Wenn wir die Neugier und Aufmerksamkeit einer Gruppe reisender Pensionisten in Florenz oder New York mit der passiven Haltung einer Schulklasse auf ihrem Ausflug in ein Museum vergleichen, können wir auch nicht mehr überzeugt sein, dass Jugend per se aufgeschlossen ist, Alter aber in stumpfem Dämmern verstreicht. Wenn in allen Debatten über Arbeitslosigkeit Flexibilität eingeklagt wird, heißt das auch, dass es von dieser postmodernen Tugend immer zu wenig gibt, egal wie alt die Betroffenen sind.
Um den Beitrag der Psychotherapie zu fassen, müssen wir die spezifischen Belastungen älterer und alter Menschen herausarbeiten, dürfen aber auch ihre speziellen Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten nicht vergessen. Es geht um die Trennung von den Kindern, den Abschied von der Berufstätigkeit, die Auseinandersetzung mit dem Tod Nahestehender, die Verarbeitung von körperlichen Rückschritten und sexuellen Problemen.
In einer langlebigen Gesellschaft müssen sich viele Menschen zu einer Zeit mit dem Tod der eigenen Eltern auseinandersetzen, in der sie selbst schon alt geworden sind. Umgekehrt gibt es in jedem Verlust auch eine Chance, einen offenen Raum, der neu besetzt werden kann. So stellt der Abschied von beruflichen Verpflichtungen oft gänzlich neue Anforderungen an die Erotik eines Ehepaars, erlaubt die Begegnung mit Enkelkindern eine im Stress der eigenen Elternschaft nicht mögliche Intensität der Beziehung.
Die subjektive Auseinandersetzung mit dem Alter beginnt meist bereits angesichts des 50. Geburtstags, ganz sicher aber angesichts des 60. Die sozialpolitische Grenze wird meist bei 65 Jahren gezogen. Die dreißig und mehr Jahre, die ein Mensch nach dem Überschreiten dieser Altersgrenze in den entwickelten Gesellschaften noch leben kann, sind nicht weniger vielfaltig als sein Leben vorher. Sie werden heute in das dritte und vierte Lebensalter bzw. in das »junge« und »alte« Alter unterteilt, wobei der Beginn des »alten« Alters zwischen 75 und 85 Jahren angesetzt wird.