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1. Die Bedeutung Sigmund Freuds

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Sigmund Freud gehört neben Karl Marx und Charles Darwin zu den einflussreichen Denkern, die den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert prägten. Ihnen gemeinsam ist auch, dass sie bis heute umstritten sind. Immer wieder gibt es leidenschaftliche Polemik gegen jeden dieser drei. Sie werden idealisiert und für unverzichtbar gehalten, oder aber für Mängel einer Moderne verantwortlich gemacht, die angeblich ohne Evolutionstheorie, Kapitalismuskritik und Psychoanalyse besser dran wäre.

Die Energie, mit der Freud die psychoanalytische Bewegung aufbaute und zusammenhielt, seine Neigung, mit Abweichlern so unnachgiebig zu sein wie mit seinen Gegnern, erinnern an Marx; sein mehr wissenschaftlich als sozialrevolutionär ausgerichteter Ehrgeiz und seine geniale Fähigkeit, Erfahrungen zu sammeln und in einer kühnen Theorie zusammenzufassen, an Darwin.

Sigmund Freuds Biographie ist beispielhaft für den neuen Beruf des Psychotherapeuten, für seinen geistigen und kulturellen Hintergrund. Viele Faktoren wirkten zusammen, um aus diesem Mann einen Vermittler und Wegbereiter zu machen. Freud erschloss der modernen Gesellschaft den Weg zu einem vertieften Wissen über jene seelischen Störungen, die mit ihrem Fortschritt verbunden sind.

In Freuds Persönlichkeit sind viele Widersprüche und Brücken angelegt, die ihn auf diese Rolle vorbereitet haben. Er war Jude, hatte sich aber von den eigenen religiösen Traditionen entfernt und erforschte die Religion mit demselben kritischen Auge wie die neurotischen Symptome. Er war ein Aufsteiger in die akademische Welt, der viele soziale Schritte als erster seiner Familie zu bewältigen hatte. Er war Kind in einer Familie, die große Spannungen überbrücken musste: Erstgeborener der zweiten Ehe seines Vaters, Sohn einer sehr jungen Mutter, ein nachgeborener Bruder starb früh, die Familie zog mehrmals um.

Das bis heute anhaltende Interesse an Freuds Lebensgeschichte hat verschiedene Ursachen. Er ist nicht nur ein kritischer, selbstreflexiver Weiterdenker der Aufklärung, sondern auch der Gründer und damit in gewisser Weise auch das Symbol einer neuen Profession. Ihn besser zu verstehen, heißt die Geschichte dieses Berufs besser zu verstehen und damit auch die Identität einer neuen Gruppe von Helfern, die man als »Beziehungshelfer«5 den traditionellen, normativen Helfern vom Typus Priester, Lehrer, Arzt gegenüberstellen kann.

Wenn wir nach dem Unterschied zwischen dem Psychotherapeuten und dem Arzt fragen, kommen wir auf die Nähe zum Schamanen. Wir begegnen den Verlusten, die durch den Kulturfortschritt entstehen, dem – wie es Freud unnachahmlich formuliert – »Unbehagen in der Kultur«. Der Arzt handelt »objektiv«, er versachlicht den Patienten und vollstreckt an ihm die (Natur-)Gesetze der Heilung. Der Psychotherapeut hingegen orientiert sich subjektiv; er wirkt umso mehr, je persönlicher, individueller und kreativer er die emotionale Beziehung zum Kranken gestalten kann.

Folgerichtig erlernen Ärzte ihr Handwerk technisch, in Sezierkursen, chemischen Experimenten und praktischer Übung am Krankenbett; Schamanen und Psychoanalytiker in der Heilung einer eigenen Krankheit, in der Identifizierung mit einem Heiler, der ihr Vorbild ist, der seine Krankheit vor ihnen bewältigt hat und nun ihnen zeigen kann, welchen Weg sie einschlagen müssen, um ihre Krankheit zu bewältigen.

Freud tat seine ersten Schritte in die Psychoanalyse im Alter von 40 Jahren. Dieses Modell ist in der Psychotherapie in gewisser Weise erhalten geblieben. Sie wird auch heute noch nicht als erster Beruf erlernt, sondern in einem Aufbaustudium, das gegenwärtig meist auf Ausbildungen in Medizin oder klinischer Psychologie basiert, in Ausnahmen (etwa die österreichische Regelung) aber auch alle Personen weiterführt, die einen sozialen Beruf ausüben. Bis heute hat sich in der Psychotherapie die Zwitterrolle der abgeleiteten Profession zwischen Medizin und Sozial- bzw. Geisteswissenschaften erhalten. Sie trägt die Spuren der Persönlichkeit Freuds und seiner vielfaltigen Interessen, die in Kulturwissenschaft und Kulturkritik einmündeten.

In den letzten fünfzig Jahren hat sich das Interesse an der Psychoanalyse gewandelt. Sie gilt nicht mehr als neu, sondern als alt. Thomas Mann hat sie mit Respekt behandelt; viele Schriftsteller der nächsten Generation ironisieren sie. In den fünfziger und sechziger Jahren wurden Psychoanalytiker in der Massenpresse als Experten geachtet; heute laufen ihnen in den meisten Illustrierten Verhaltenstherapeuten den Rang ab, in deren Äußerungen Freud nur als blue box dient, um einen guten Hintergrund für die eigenen Gedanken zu bieten.

So wird die Psychoanalyse Opfer eines Prozesses, den sie selbst in den Zeiten der Blüte ihres gesellschaftlichen Ansehens nicht viel anders handhabte. Jede geistige Eroberung verhält sich wie der Vampir der Sage. Sie saugt ihren Vorgängerinnen das Gute aus, eignet es sich an und lässt den geschwächten Rest liegen.

Freud hatte sich vor seiner Kritik an Hypnose und Suggestion deren therapeutische und wissenschaftliche Qualitäten längst angeeignet; so ließ sich der armselige Rest leicht erledigen. In seiner Religionskritik büßen Glaubenstraditionen alle wissenschaftlichen und künstlerischen Qualitäten ein; um die kümmerlichen Überbleibsel ist es nicht schade. Ganz ähnlich haben die systemischen, die Gestalt- und Verhaltenstherapeuten des 21. Jahrhunderts die Psychoanalyse geplündert und konnten dann so manchen skurrilen Rest getrost als unbrauchbar verwerfen.

Einst war die Psychoanalyse revolutionär, die originellste und modernste Art, seelische Störungen zu behandeln. Heute wird manchmal behauptet, sie sei langweilig, langwierig, altmodisch; es gäbe viel schnellere, viel wirksamere Methoden. Wer solche Argumente bringt, spricht aus politischen oder ökonomischen Motiven; eine wissenschaftliche Legitimation haben solche Äußerungen nicht. Denn nicht die Psychoanalyse ist langwierig, sondern die Behandlung schwerer seelischer Störungen. Wer das leugnet, um eine Blitztherapie zu vermarkten, ist als Kritiker der Psychoanalyse nicht glaubwürdig.

Der Mensch Sigmund Freud

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