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2. Freuds Kindheit
ОглавлениеAm 6. Mai 1856, im Todesjahr von Heinrich Heine, wurde Sigmund Freud in Freiberg (heute Pribor) geboren, einem kleinen Städtchen in den Ausläufern der Karpaten, 200 km nordöstlich von Wien.6 Bis 1859 lebte die Familie in einem kleinen Zimmer im ersten Stock des Hauses Schlossergasse 17. Sie erweiterte sich um einen zweiten Sohn, der wenige Monate nach der Geburt starb, und eine Tochter.
Der Vater Jacob Freud war bei Freuds Geburt 40 Jahre alt. Er hatte zwei erwachsene Söhne aus einer früheren Ehe; der ältere, Emanuel, war 1832 geboren und damit vier Jahre älter als Freuds Stiefmutter Amalie. Jacob Freuds jüdische Vorfahren sollen am Rhein (in Köln) gelebt haben. Nach Pogromen im 14. oder 15. Jahrhundert flohen sie in den Osten und wanderten im 19. Jahrhundert von Litauen aus über Galizien nach Deutschösterreich zurück.
Auch Amalie Freud kam aus Galizien, wo in Brody ein Grabstein ihres Vorfahren Samuel Charmaz als eines Fürsten und rabbinischen Gelehrten gedenken lässt.7 Kurz nach der Beschneidung seines Sohnes trug Jacob Freud in die Familienbibel ein:
»Mein Sohn Schlomo Sigismund, er soll leben, wurde geboren am Dienstag, dem 1. Tag des Monats Ijar (5)616 ... wurde beschnitten am ... 13. Mai (1)856. Der Beschneider war Reb Schimschon Frankel aus Mährisch Ostrau, Paten waren Reb Lippa und seine Schwester Mirel Hurwitz, Kinder des Rabbi aus Czernowitz.«8
Schlomo hiess Jacob Freuds Vater, der kurz vor der Geburt dieses Enkels verstorben war. Freud hat den Namen Sigismund während seiner Studienzeit in Sigmund abgekürzt und den Namen Schlomo (Salomon) abgelegt. Als Vierjähriger kam Freud mit der Familie nach Wien. Sein Vater Jacob war Wollhändler und verdiente gerade genug, um seiner Familie eine kleinbürgerliche Existenz zu erhalten.
Freud wuchs in sehr beengten Verhältnissen auf. Er beschreibt sich als Liebling der Mutter und glorifiziert seine Rolle als Erstgeborener ganz ähnlich, wie er sich auch während seiner Gymnasialzeit als unangefochtener Primus seiner Klasse schildert. Nirgends in seinen Schilderungen fällt ein Schatten der Kritik auf seine Mutter, aber die Beziehung war im Erwachsenenleben eher distanziert. Zur Beerdigung seiner Mutter im Jahr 1930 ging Freud nicht selbst, sondern ließ sich durch seine Tochter Anna vertreten.
Wir können nur vermuten, wie sich eine 19jährige fühlt, die mit einem 40jährigen Witwer verheiratet wird, einen Einzimmerhaushalt führen muss und zwei Jahre nach der Geburt des ersten Sohnes den Zweitgeborenen verliert. Die kleine Familie zog drei Jahre später nach Leipzig und ein Jahr später nach Wien. Sie blieb arm; in rascher Folge wurden noch vier Mädchen geboren, denen schließlich der Jüngste, Freuds einziger Bruder und späterer Reisegefährte Alexander folgte. 1865, Freud war neun Jahre alt, traf die Familie ein Schlag, von dem sich Freuds Vater nur mühsam erholt hat: Der Bruder Jacob Freuds, Joseph Freud, wurde wegen Handels mit gefälschten Rubel-Scheinen angeklagt und zu einer Gefängnishaft verurteilt. Über diesen Onkel erfahren wir aus der »Traumdeutung«. Freud träumt dort:
»Freund R. ist mein Onkel. Ich empfinde große Zärtlichkeit für ihn. Ich sehe sein Gesicht etwas verändert vor mir. Es ist wie in die Länge gezogen, ein gelber Bart, der es umrahmt, ist besonders deutlich zu sehen.« 9
Zum Zeitpunkt des Traumes hatte Freud gerade erfahren, dass man ihn (im Frühjahr 1897) beim zuständigen Minister zur Ernennung zum Professor vorgeschlagen hatte, nicht wegen seiner psychologischen Arbeit, die damals eben erst begann, sondern wegen seiner Forschungen über die Anatomie des Nervensystems.
Der Professorentitel bedeutete nicht nur eine öffentliche Ehre, sondern konnte auch die Einnahmen eines frei praktizierenden Arztes beträchtlich steigern, auf die Freud damals angewiesen war. Noch am Vorabend des Traums hatte Freund R., wie Freud zum Professor vorgeschlagen, den Minister besucht und sich nach den Aussichten erkundigt. Weniger zurückhaltend als Freud, war es ihm gelungen, den hohen Herrn in die Enge zu treiben und eine Antwort zu erhalten, in der kaum verhüllt gesagt wurde, gegenwärtig seien die Aussichten für Juden gering, ernannt zu werden.
»Als mir der Traum im Laufe des Vormittages einfiel, lachte ich und sagte, der Traum ist Unsinn. Er ließ aber nicht nach und ging mir den ganzen Tag nach, bis ich mir endlich am Abend Vorwürfe machte. Wenn einer deiner Patienten zur Traumdeutung nichts zu sagen wüßte als, das ist Unsinn, so würdest du es ihm verweisen und vermuten, daß sich hinter dem Traum eine unangenehme Geschichte versteckt, welche zur Kenntnis zu nehmen er sich ersparen will. Verfahr mit dir selbst ebenso; deine Meinung, der Traum sei ein Unsinn, bedeutet nur einen inneren Widerstand gegen die Traumdeutung. Laß dich nicht abhalten! Kaum ist dieser Widerstand überwunden, kommt der erste Einfall: Ich habe doch nur einen Onkel gehabt, den Onkel Joseph. Mit dem war es eine traurige Sache. Er ist mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und wurde schwer bestraft. Mein Vater pflegte zu sagen, ein schlechter Mensch sei der Onkel ja nicht, aber ein Schwachkopf. Wenn aber jetzt mein Freund R. im Traum mein Onkel ist, dann will der Traum sagen: Er ist ein Schwachkopf. Auch der blonde Bart paßt dazu: Onkel Joseph hatte einen solchen Bart.«
Zu dem Trauminhalt fällt Freud noch etwas ein: Wenige Tage vorher hat er mit einem zweiten Kollegen, der ebenfalls Professor werden soll, gesprochen; dieser zweifelte an der Ernennung, weil er einmal von einer Erpresserin angezeigt worden war. Vielleicht würde man das damals eingestellte Verfahren wieder ausgraben, um ihm einen Strick daraus zu drehen. Damit, bemerkt Freud, hat er den Schwachkopf wie den Verbrecher, deren Rolle Onkel Joseph stellvertretend übernommen hat: Mit beiden wenig schmeichelhaften Etiketten belegt der Traum die beiden ebenfalls auf den Professorentitel wartenden Bekannten.
Der Grund dafür ist unschwer zu finden: Wenn es die jüdische Konfession ist, die die Ernennung verhindert, dann muss auch Freud seine Hoffnungen begraben. Sind es aber andere Gründe, ist der eine Kollege ein Schwachkopf, der andere ein Verbrecher, dann kann er weiter hoffen. Freud würde gegen jedermann bestreiten, sein Freund R. sei ein Schwachkopf, sein Kollege ein Verbrecher. Doch sein Unbewusstes wünscht, dass es so sei. Auch die zärtlichen Gefühle im Traum kann Freud deuten: Sie sind eine Maske, welche die tatsächliche Intention des Unbewussten verschleiern soll.
Aber die Rekonstruktion in der »Traumdeutung« ist auf charakteristische Weise auch unvollständig. Sie unterschlägt die traumatische Bedeutung der Ereignisse um Onkel Joseph und die damit verbundenen Verdächtigungen (War Freuds Vater Mitwisser in der Geldfälscher-Affäre?). Nach diesem »Unglück« ergraute Freuds Vater in wenigen Tagen, und seine Rede von der »Dummheit« des kriminellen Bruders sticht merkwürdig ab gegenüber Freuds kritischem Blick.
In dem Traum vom Onkel Joseph erfassen wir einen Zipfel von der Tragik des armen Juden, der ein wenig von der Sicherheit und dem Reichtum einer Umgebung erhaschen will, die ihm mit der einen Hand die Bürgerrechte anbietet, mit der anderen aber die Gleichheit der Chancen verweigert.
Freud war tief in diesen Konflikt verstrickt. Er hinderte ihn auch, sich tragend und stabil mit seinem Vater zu identifizieren, dessen Gefügigkeit und ängstliche Anpassung er ebenso verachtete wie seine Anhänglichkeit an die »Illusion« des Gottesglaubens. »Die Zukunft einer Illusion« ist in gewisser Weise ein Pamphlet gegen Jacob Freud.
»Ein Mann, der der unbestrittene Liebling seiner Mutter war, behält sein Leben lang das Gefühl eines Eroberers, jenes Vertrauen auf Erfolg, das oft den wirklichen Erfolg herbeiführt«, hat Freud gesagt.10
In einem Brief aus dem Jahr 1895 an Wilhelm Fließ phantasiert Freud, halb im Scherz, ob nicht über seinem Tisch in einem Restaurant, wo er zuerst das Wesen eines seiner Träume durchschaut hatte, einmal eine Tafel angebracht werden würde: »Hier wurde Dr. Sigmund Freud am 24. Juli 1895 das Geheimnis der Träume enthüllt.«
Solche Tagträume kompensierten die tiefen Zweifel an der Kraft und Autorität seines Vaters, der – obwohl selbst thorakundig und des Hebräischen mächtig – seinen Sohn »in voller Unwissenheit über alles, was das Judentum betrifft, aufwachsen liess.«11 Dieser erzählte dem kleinen Sigmund einmal, wie ihm auf der Straße ein Passant mit den Worten »Jude, herunter vom Trottoir!« die Pelzhaube vom Kopf schlug. »Was tatest du?« fragte Freud empört. »Ich bückte mich über den Randstein und hob meinen Hut auf« erwiderte der Vater.
Freuds Vater dachte, das Beste für seinen Sohn zu tun, indem er ihn aufforderte, sich zu assimilieren. Er tat das wohl eher aus Mangel an Durchsetzungsvermögen und eigener moralischer Haltung denn aus wirklicher Überzeugung. Freud glaubte die meiste Zeit seines Lebens daran, es sei möglich, eine neue, aufgeklärte Kultur zu schaffen, in der ungläubige Juden und ungläubige Christen sich gemeinsam von aller frommen Verdummung abwenden. Diese verglich er später mit dem Brauch afrikanischer Völker, den Schädel der Neugeborenen zu deformieren.
Freud wollte den ehrgeizigen Wünschen seiner Mutter gerecht werden, ohne sich auf das Vorbild eines starken, durchsetzungsfähigen Vaters stützen zu können. So klagt er in einem seiner Briefe an Martha Bernays, seine spätere Frau:
»Jedesmal, wenn ich mit wem zusammenkomme, merke ich, daß der Neue von einem Antrieb, den er gar nicht zu analysieren braucht, zunächst veranlaßt wird, mich zu unterschätzen.« 12
Hier liegt eine Wurzel für Freuds charakteristischen Zug, sich »Väter« zu suchen, an die er sich anschließen kann – solange er selbst nicht Vater einer eigenen Lehre ist. Verbunden damit kündigt sich auch eine sehr enge, leidenschaftliche, nicht distanzierte Beziehung zu diesen Vätern an, die sich später in der Beziehung zu seinem geistigen Geschöpf fortsetzt. Freud kann die Psychoanalyse nicht loslassen, wie das anderen Schöpfern großer Theorien gelingt. Er hält identifikatorisch an ihr fest.
Das spiegelt sich im Umgang mit seiner Familie und seinen Freunden. Freud schrieb fast jeden Tag nach Hause, wenn er verreist war. Er war ein leidenschaftlicher Liebhaber, der seine Frau kontrollieren wollte, und ein ebensolcher Freund. Er suchte Menschen an sich und seine Sache zu binden.
Bis in die Gegenwart streiten Psychoanalytiker um den Nutzen der hochfrequenten Analyse, wie sie Freud begründet hat. Wer einen Patienten (fast) jeden Werktag sieht, wie es lange Zeit Freuds Praxis war, kann den analytischen Prozess am besten kontrollieren. Er muss aber auch nicht die Gelassenheit einüben, die schon Freuds »abtrünnige« Schüler Alfred Adler und Carl Gustav Jung einführten. Sie begnügten sich damit, ihre Patienten ein- oder zweimal pro Woche zu sehen, und hatten auch damit ihre Erfolge. Einen Vergleich der Wirkung beider Verfahren, der wissenschaftlich stichhaltig ist und eindeutige Schlussfolgerungen erlaubt, habe ich noch nicht gefunden. Aber was wir an Studien besitzen, spricht eher dafür, dass die Häufigkeit des Kontakts zwischen Therapeut und Patient weniger wichtig ist als z.B. die persönliche Beziehung, – und dass beide Methoden wirksam sind.
Immer noch wird von den orthodoxen und den nicht so orthodoxen Analytikern prinzipiell gestritten, welches Verfahren »echte« Analyse sei. Obwohl ich persönlich beiden Methoden verpflichtet bin, sie auf der Couch selbst erlebt und ausgeübt habe, spricht allein meine Offenheit für diese Debatte in den Augen aller Orthodoxen gegen mich. Allerdings gibt es heute kaum mehr Analysen mit mehr als vier Wochenstunden; insofern sind inzwischen alle Analytiker weniger darauf bedacht, den Prozess zu überwachen, als es Freud nach meiner Vermutung war.
Zurück zu Freuds idealisierten Ersatzvätern. Den ersten findet der junge Forscher in dem Physiologen Ernst Brücke, in dessen Laboratorium er arbeitet, den zweiten in dem französischen Neurologen Jean Charcot, bei dem er als Stipendiat in Paris gastiert, den dritten in dem Wiener Arzt Joseph Breuer, dem er noch 1909 das Verdienst zubilligte, die Psychoanalyse entdeckt zu haben.
Brücke und Charcot waren berühmte Wissenschaftler. Breuer, schon näher an Freud und weniger Vaterfigur, war ein angesehener und erfolgreicher Arzt, der freilich in der Behandlung neurotischer Patientinnen scheiterte. Bei diesen drei Männern rechtfertigten reale Qualitäten die Rolle, in die Freud sie setzte. Demgegenüber sind die Charakteristika des bedeutenden Wissenschaftlers, die Freud Wilhelm Fließ zuschrieb, dem vierten und letzten dieser engen Freunde, vorwiegend fiktiv. Freud hat ihn mit allen eigenen Vorzügen ausgerüstet und sich sozusagen mit einem Spiegelbild unterhalten; in der Narzissmuslehre spricht man von einer »Spiegelübertragung«.
Später hat sich Freud der Zeugnisse dieser Freundschaft sichtlich geschämt und Fließ gegenüber gemeinsamen Bekannten entwertet. Er hat die Briefe, die Fließ an ihn gerichtet hatte, vermutlich verbrannt. Nur Freuds Schreiben an Fließ sind erhalten. Als Marie Bonaparte diese Briefe einem Händler abkaufen konnte, wollte Freud sie vernichten und konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden. Sie sind heute unsere wichtigste Quelle über die Entstehung der Psychoanalyse.
1910 beklagte sich Sandor Ferenczi bei Freud, er verberge sein Erleben in Männerfreundschaften. Freud erteilte ihm eine Abfuhr:
»Wahrscheinlich stellen Sie sich ganz andere Geheimnisse vor, als ich mir reserviert habe, oder meinen, es sei ein besonderes Leiden damit verknüpft, während ich mich allem gewachsen fühle und die Überwindung meiner Homosexualität mit dem Ergebnis der größeren Selbständigkeit gutheiße.«
Fließ war Freuds letzte Männerfreundschaft, in der er sich mit dem Freund duzte und ihm auf eine Weise schmeichelte, die ihm den Vorzug vor allen anderen Beziehungen einräumt. Immer wieder betont Freud, dass ihm der »teure Wilhelm« näher steht als jede andere Person, dass er sich mehr auf die gemeinsamen Treffen freut als auf den Urlaub mit der Familie. Hätte Martha Bernays diese Briefe gelesen, sie hätte von Stein sein müssen, um nicht eifersüchtig zu werden.
Ferenczi und C. G. Jung, mit denen Freud sich ebenfalls intensiv austauschte, kamen ihm nicht mehr wirklich nahe. Beide haben das bemerkt und sich auch darüber beklagt; Freud hat an dieser Distanz festgehalten. Sein Bedürfnis nach einer Person, die er idealisieren und mit allen denkbaren Vorzügen ausrüsten konnte, hatte er auf die Psychoanalyse und die Gruppe seiner treuen Schüler verlegt.
Die Fließ-Briefe landeten in einem Banksafe in Wien und sollten zu Freuds Lebzeiten nicht publiziert werden. Die Manuskripte wurden in einer dramatischen Aktion von Maria Bonaparte 1938 vor der Gestapo gerettet und erst 1985 unzensiert veröffentlicht.