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4. Freud und die Hypnose
ОглавлениеAls Freud sich 1885 zum Dozenten für Neuropathologie habilitiert hatte, versteht er – so stellt er 1926 fest – von Neurosen nichts. Seine Interessen liegen auf dem Gebiet der Nervenanatomie und der Pathologie des Gehirns, über die er eine Reihe wichtiger Arbeiten veröffentlicht hat (über Sprachstörungen, Kinderlähmung, die Sinnesnerven und das Kleinhirn). Was ihn bewog, den Antrag auf ein Reisestipendium nach Paris zu stellen, um Charcot zu hören, war auch nicht sein psychologisches Interesse, sondern das Ungenügen an der damaligen Therapie von Neurotikern, die sich in einem pseudo-naturwissenschaftlichen Elektrisieren der Kranken erschöpfte.
Jean Martin Charcot war ursprünglich Neurologe und seit 1862 Chefarzt der Salpêtrière in Paris. Der Name leitet sich von einem alten Pulvermagazin ab, das später in ein Hospital umgewandelt worden war und damals 5000 Patienten beherbergte. Charcot hielt die Hysterie für eine organische Krankheit, eine Schwäche des Nervensystems, die mit erhöhter Erregbarkeit der Muskulatur verbunden sei. Er beschrieb als erster hysterische Symptome von Männern und wies nach, dass man neurotische Lähmungen in Hypnose willkürlich hervorrufen und manchmal auch bestehende, seelisch bedingte Lähmungen auf diesem Weg heilen kann.
An Charcot lässt sich zeigen, wie der »wissenschaftlich« vorgehende Arzt und die »nervöse« Patientin in der Gestaltung von Krankheiten und Krankheitssymptomen in einer Weise zusammenwirken, die wir heute vielleicht mit der Interaktion von Regisseur und Schauspielerin vergleichen würden.24
Charcots Ansehen in Paris beruhte auf soliden neurologischen Diagnosen, wurde von ihm aber mit großem Sinn für Prestige und Machtausübung erweitert. Charcot wies zum Beispiel nach, dass die charakteristischen Schäden der Kniegelenke bei Spätsyphilis mit Rückenmarksbefall nicht durch die Grundkrankheit, sondern durch sekundäre Traumen entstehen. Weil die Kranken Tiefensensibilität und Vibrationsempfindung in den Beinen eingebüßt haben, treten sie so ungeschickt auf, dass ihre Gelenke zerstört werden.
Die »große Hysterie«, die Charcot entwarf und bis zu seinem Tod im Bewusstsein der europäischen Medizin verankerte, war ein Kunstprodukt, erzeugt durch suggestive Ansteckung der zusammengepferchten Patientinnen und aufrecht erhalten durch die »hypnotischen« Bemühungen der Assistenten, Beweise für die Theorie des Meisters zu finden.
Jules-Joseph Dejerine, der zwei Jahre nach Charcots Tod dessen Lehrstuhl übernahm, betreute ebenfalls einen ganzen Saal armer hysterischer Frauen. Aber wo unter Charcot gezuckt und geschrien wurde, ging es jetzt ruhig zu, weil der Chef keine Anfälle mochte. »In den acht Jahren, die ich nun an der Salpêtrière bin«, fasst Dejerine zusammen, »haben die Symptome der sogenannten großen Hysterie, wo sie sich in meiner Abteilung zeigten, in keinem einzigen Fall länger als eine Woche angehalten.« 25
Freud nennt Charcot einen »der größten Ärzte, einen genial nüchternen Menschen«.26 Vor seinen Besuchen bei Charcot nimmt der junge Wiener Arzt eine kleine Dosis Kokain, das er als einer der ersten Ärzte erforscht hat. Er nannte seinen Erstgeborenen nach Charcots Vornamen Johann Martin; Charcot hat sich für die Mitteilung dieser Namenspatenschaft höflich bedankt.
Freuds Briefe aus Paris zeigen vielleicht zum ersten Mal einen Ansatz zu der Lehre vom Unbewussten. Er schreibt am 27. Januar 1886 an seine Verlobte:
»Eins hat mich wirklich überrascht... daß Dir solche Gedanken durch den Kopf gehen, solche böse Gedanken, die man gleich als deinem Wesen fremd erkennt und doch nicht aufzutauchen verhindern kann. Ich hatte geglaubt, daß Du die nicht kennst. Es gibt Menschen, die gut sind, weil ihnen nichts Böses einfällt, und andere, die gut sind, weil sie ihre bösen Gedanken immer und häufig überwinden. Ich hatte dich zu den ersten gerechnet. Aber gewiß bin ich selbst schuld daran, daß Dir diese Arglosigkeit verloren gegangen ist. Es liegt schließlich auch nicht viel daran; wer mit dem Leben viel zusammenstößt, muß sie verlieren und sich dafür einen Charakter anschaffen.« 27
Einem »bißchen Kokain, was ich genommen habe«28 verdanken wir auch die vielleicht offenste Selbstcharakterisierung des dreißigjährigen Freud. Er klagt freimütig über seine Lage: Armut, langsame Erfolge, wenig Gunst bei Menschen, übergroße Empfindlichkeit, Nervosität und Sorgen und er fahrt fort:
»Ich glaube, man merkt mir was Fremdartiges an, und das hat seinen letzten Grund darin, daß ich in der Jugend nicht jung war und jetzt, wo das reife Alter beginnt, nicht recht altern kann. Es gab eine Zeit, in der ich nichts anderes als wißbegierig und ehrgeizig war und mich Tag für Tag gekränkt habe, daß mir die Natur nicht in gütiger Laune den Gesichtsstempel des Genies, den sie manchmal verschenkt, aufgedrückt hat. Seitdem weiß ich längst, daß ich kein Genie bin und verstehe nicht mehr, wie ich es zu sein wünschen konnte. Ich bin nicht einmal sehr begabt, meine ganze Fähigkeit zur Arbeit liegt wahrscheinlich in meinen Charaktereigenschaften und in dem Mangel hervorragender intellektueller Schwächen. Ich weiß aber, daß diese Mischung eine für den langsamen Erfolg sehr günstige ist, daß ich unter günstigen Bedingungen mehr leisten könnte als Nothnagel (ein bedeutender Internist, unter dem Freud eine Zeit lang arbeitete, WS.), dem ich mich weit überlegen glaube, und daß ich vielleicht Charcot erreichen könnte. Damit ist nicht gesagt, daß ich’s werde, denn diese günstigen Bedingungen finde ich nicht mehr, und das Genie, die Kraft, sie zu erzwingen, besitze ich nicht. Aber wie ich schwätze! Ich wollte was ganz anderes sagen. Nämlich erklären, woher meine Unzugänglichkeit und Schroffheit gegen Fremde, die Du anführst, kommt. Sie ist nur die Folge des Mißtrauens, nachdem ich oft erfahren habe, daß mich gewöhnliche oder schlechte Menschen schlecht behandeln, und wird in dem Maße schwinden, als ich nichts von ihnen zu befürchten brauche, als ich mächtiger und unabhängiger werde. Ich tröste mich immer damit, daß mir untergebene oder gleichgestellte Personen mich nie unangenehm empfunden haben, nur Vorgesetzte oder sonstwie Überlegene. Man würde es mir kaum ansehen, und doch war ich schon in der Schule immer ein kühner Oppositionsmann, war immer dort, wo es ein Extrem zu bekennen und in der Regel dafür zu büßen galt. Als ich dann eine bevorzugte Stellung als langjähriger Primus bekam, als man mir allgemein Vertrauen schenkte, hatte man sich auch nicht mehr über mich zu beklagen. Weiß Du, was mir Breuer eines Abends gesagt hat? Ich war so ergriffen davon, daß ich ihm darauf das Geheimnis unserer Verlobung mitteilte. Er sagte, er hätte herausgefunden, daß in mir unter der Hülle der Schüchternheit ein maßlos kühner und furchtloser Mensch stecke. Ich habe es immer geglaubt, und mich nur nie getraut, es wem zu sagen. Mir war oft so, als hätte ich den ganzen Trotz und die ganze Leidenschaft unserer Ahnen, als sie ihren Tempel verteidigten, geerbt, als könnte ich für einen großen Moment mit Freude mein Leben hinwerfen. Und dabei war ich immer so ohnmächtig und konnte die glühenden Leidenschaften nicht einmal durch ein Wort oder ein Gedicht zum Ausdruck bringen. So habe ich mich unterdrückt, und das, glaube ich, muß man mir ansehen.« 29
Dieses Selbstportrait Freuds zeigt nicht nur seine außerordentliche Beobachtungs- und Darstellungsgabe. Es enthüllt einen jungen Mann, der seine Schwächen kennt, seine immense Sehnsucht, wahrgenommen zu werden, aber auch seine Ängste, seine Unsicherheit und seine Schwierigkeiten, sich darzustellen und an das Wohlwollen Gleichgestellter oder Überlegener zu glauben.
Wir würden heute von einer kompensierten Selbstgefühlsstörung sprechen. Freud kann sich gut einfügen und konstruktiv in einer Gruppe arbeiten, wenn er sich anerkannt fühlt. In der Schule eckte er an, bis er Primus in seiner Klasse wurde; in der psychoanalytischen Bewegung war er beliebt und konstruktiv, stützte und lobte seine Mitarbeiter, hielt die Gruppe zusammen, solange er in seinen Leistungen anerkannt wurde. Wer ihn entwertete, war für Freud erledigt; er brach den Kontakt ab.
Man geht also fehl, Freuds Auseinandersetzungen mit den »abtrünnigen Schülern« (Adler, Jung, Rank) auf Differenzen in den Inhalten zurückzuführen. Freud war ein kritischer Mensch und ließ sich auch selbst kritisieren, solange die Kritik ohne Entwertung vorgetragen wurde. Er konnte sehr wohl zwischen Meinungsunterschieden und freundschaftlichen Beziehungen trennen, wenn er einen starken und persönlich nicht übermäßig kränkbaren Partner (wie Ludwig Binswanger) fand, der nicht zuließ, dass solche Differenzen die persönliche Beziehung trübten.
Aber Freuds Fähigkeit, Kränkungen zu überbrücken, war geringer entwickelt als andere persönliche Qualitäten. Er hatte große Mühe mit geteilten Loyalitäten: Wenn er einen Menschen verachtete, konnte er kaum freundschaftlichen Kontakt mit Personen halten, die seine Verachtung nicht teilten.
In uns allen steckt die Tendenz, zu überschätzen, was wir lieben und bewundern, und zu entwerten, was diese Idealisierung enttäuscht. Die Identifizierung mit einem starken Vater und das Aufwachsen in einer festen kulturellen Tradition hätte Freud vor der »Unzugänglichkeit und Schroffheit gegen Fremde«, der »Schüchternheit« bewahrt, die er sich zuschreibt. Freud musste sich nach oben kämpfen; er fühlte sich nicht von seinen Eltern beschützt, sondern glaubte eher, diese schützen zu müssen. Freud hat sich nie kritisch über seine Mutter geäußert, öffentlich auch nie über seinen Vater.30
Tat er es nicht, um die Familie zu schonen? War er sich hier keiner Vorbehalte, keiner Unzufriedenheit bewusst? Dieser scharfsinnige Beobachter von Ambivalenzen und Denkverboten hat jeden Vergleich mit anderen Eltern, anderer Herkunft vermieden oder – wie in der Moses-Studie – verschlüsselt. Er deutet sie nur indirekt an, indem er seine Unsicherheit darauf zurückführt, dass er noch nicht weit genug in der Kompensation solcher Mängel an Schutz und Fürsorge vonseiten seiner Eltern gediehen ist. »Sie ist nur die Folge des Mißtrauens, nachdem ich oft erfahren habe, daß mich gewöhnliche oder schlechte Menschen schlecht behandeln, und wird in dem Maße schwinden, als ich nichts von ihnen zu befürchten brauche, als ich mächtiger und unabhängiger werde«, sagt er in dem oben erwähnten Brief an Martha.
In den ersten Jahren seiner ärztlichen Arbeit, die Freud nach seiner Rückkehr von Charcot aufnahm, um die brotlose Arbeit als Forscher zu beenden und endlich seine geliebte Martha heiraten zu können, verwendete er in einer gemischten, aber vorwiegend neurologischen Praxis nahezu ausschließlich die Hypnose. Er verzichtete also weitgehend darauf, organische Nervenleiden zu behandeln, was ihm nicht schwerfiel, da deren Therapie meist wenig aussichtsreich ist und die Zahl der Hilfesuchenden viel geringer war als die der Neurotiker, die einen Arzt nach dem anderen konsultierten, ohne dass ihnen einer helfen konnte. Viele hätten sich mit dem Erreichten zufriedengegeben. Freud war ein guter Hypnotiseur, seine Erfolge trugen ihm den »Ruf des Wundertäters« ein, wie er selbst bemerkt. Dennoch wurden bald seine wissenschaftlichen Interessen wieder wach.
Der Begriff der Hypnose wurde von einem schottischen Chirurgen, James Braid, im Jahr 1841 geprägt. Er hatte damals die Abendvorstellung eines französischen Magnetiseurs besucht, die Beobachtungen aber nicht mit dem »magnetischen« Fluidum, sondern neurologisch erklärt. Das passte weit besser in die naturwissenschaftliche Medizin als die abstruse Theorie Mesmers vom »animalischen Magnetismus«.
Braid berichtet in seinem Werk »Neurypnology, or the rationale of nervous sleep, considered in relation with the animal magnetism« (London und Edinburgh 1843), wie er einen jungen Mann in sein Arbeitszimmer kommen lässt, ihn bittet, sich auf einen Stuhl zu setzen und unbeirrt eine Flasche anzusehen. Nach drei Minuten fallen dem jungen Mann die Augen zu. Braid fordert nun seine Ehefrau auf, die behauptet, sie ließe sich nicht so leicht einschläfern. Sie muss eine Porzellanschale ansehen; nach zweieinhalb Minuten schließt sie die Augen. Man weckt sie, als sie vom Stuhl zu fallen droht. Der Diener wird geholt; er soll einen Löffel in einem Glas ansehen, aus dem angeblich ein Funke hervorspringen wird. Nach drei Minuten schläft auch er.
Kein Fluidum wird übertragen, keine magnetische Kraft ausgeübt, der betreffende Mensch lediglich dazu angeregt, bestimmte Veränderungen in sich selbst zu suchen und sie dadurch nach dem Prinzip der Suggestion auch herbeizuführen. Obschon vorwiegend physiologisch orientiert, hat Braid klar erkannt, dass es so viele hypnotische Zustandsbilder wie Hypnotiseure gibt, da der als Autorität anerkannte Meister die Gedanken und Vorstellungen des Hypnotisierten lenken kann. Braid empfahl Hypnose als Behandlung von nervös-funktionellen Leiden wie Spasmen, Krämpfen, Konvulsionen, aber auch bei Rheumatismus, in dem Muskelverspannungen eine Rolle spielen.
An der Hypnose irritierte Freud nach seinen eigenen Aussagen, dass sie nichts über den Sinn und die Ursache der Symptome zu sagen weiß und immer mit der nämlichen Gebärde ihnen die Existenz zu verbieten sucht. Darüber hinaus misslang es öfter, eine Kranke zu hypnotisieren. Diese Kranken waren besonders interessante Personen, die dringend Hilfe brauchten und – nicht unwichtig – auch in der Lage waren, den Arzt zu bezahlen, von dem sie sich eine Kur versprachen. Und gerade in diesen Fällen ließ sich keine so tiefe Hypnose erzielen, wie Freud es wünschte. Lag es an der Technik, die er verwendete?
Freud verbündete sich auf eine Weise mit seinen Patientinnen, die es ihm möglich machte, von ihnen nicht weniger zu lernen als sie von ihm. Eine der wichtigsten dieser Frauen war seine »Lehrmeisterin«, »Hauptklientin«, »Primadonna«, die Baronin Anna von Lieben aus jüngst geadelter, österreichisch-jüdischer Familie. Freud lernte viel von ihr, konnte sie aber nicht heilen.
Er glaubte, es läge daran, dass sich »Cäcilie M.« von ihm nicht hypnotisieren ließ und schickte sie zu den beiden berühmtesten Hypnotiseuren seiner Zeit, zu Charcot und Bernheim. Nach Paris reiste die Baronin allein und konsultierte Charcot, der einen freundlichen Brief an Freud schrieb und ihn darin bestätigte, dass die Beschwerden seiner Patientin psychogener Natur seien. Zu Bernheim, den er noch nicht kannte, begleitete Freud seine Patientin. Dieser versuchte, die Kranke zu hypnotisieren und scheiterte. Er gestand Freud, dass er seine Aufsehen erregenden Erfolge mit Hypnose nur bei den mittellosen Spitalpatienten aus der Arbeiterklasse erziele, die im Arzt ein höheres Wesen sehen, nicht aber bei gebildeten und kritischen Privatpatienten. Freud führte eine Reihe von Gesprächen mit Bernheim und übersetzte später dessen beide Bücher über die Suggestion ins Deutsche.
Wer verstehen will, wie die Psychoanalyse entstand, kommt um die Frage nicht herum, weshalb Freud die Hypnose aufgab. Man könnte schlicht sagen: Weil ein Genie dort neue Wege geht, wo alle anderen nur die alten ein wenig weiterschreiten – vom Magnetismus zur Hypnose, von der Hypnose zur Theorie der Suggestion, von der Suggestion zum neurolinguistischen Programmieren.
Aber damit wäre nur das Rätsel eines radikalen Schritts gegen das Rätsel des Genies getauscht. Freud hat Genie ausdrücklich verneint und ironisch von seinem Mangel an hervorragenden intellektuellen Schwächen gesprochen. Wichtig ist noch eine zweite Nuance. Freud wollte mehr als Routine, mehr als die abständige Dominanz des Hypnotiseurs, der sich ein seines Willens beraubtes Medium unterwirft.
Auch wirtschaftliche Gründe spielten eine Rolle. Wenn Freud in einer Privatpraxis Geld verdienen wollte, musste er Patienten aus den wohlhabenden Schichten gewinnen. Diese aber ließen sich, wie er sich durch die Reise nach Nancy noch einmal bestätigte, nicht so leicht hypnotisieren wie die um jede ärztliche Zuwendung dankbaren, mittellosen Patienten, die in die Ambulanz der großen Hospitäler kamen.
Die Geburt der Psychoanalyse spiegelt in mancher Hinsicht eine Gruppendynamik, die schon einmal den »Prozess der Zivilisation« (Norbert Elias) prägte. Elias hat nachgewiesen, dass für die Entwicklung des »zivilisierten« Verhaltens jene Regelungen bedeutsam waren, die an den Feudalhöfen benötigt wurden, um das Verhältnis zwischen den (als Herzogin oder Königin) ranghohen Frauen und jenen Männern zu regulieren, die in der primitiv-patriarchalischen Dominanz über, im gesellschaftlichen Rang aber unter den Frauen standen.
Friedrich von Schiller hat in einem frühen Gedicht, das den nicht ganz passenden Titel »Männerwürde« trägt, das Elementarverhältnis des Mannes zur (ranghöheren) Frau dargestellt:
»Wie wird sie erst um Gnade schrein ertapp ich sie im Bade? Ich bin ein Mann, das fällt ihr ein, Wie schrie sie sonst um Gnade?
Ich bin ein Mann, mit diesem Wort Begegn ich ihr alleine, Jag ich des Kaisers Tochter fort So lumpig ich erscheine.« 31
Das »höfliche«, später das professionelle Verhalten reguliert diese primitive Dominanz. Dadurch entsteht eine hochkreative Situation. Europa verdankt ihr die höfische Dichtung und den Minnesang, Dantes Divina Commedia und Boccaccios Decamerone. Das zentrale Beziehungsmodell der bürgerlichen Familie wurzelt hier. Es beruht darauf, dass ein Mann eine Frau erwählt, sie beschützt, sie gegen alle Widrigkeiten verteidigt und ihr seine Arbeit zu Füßen legt.
Freud war stark von diesem Modell geprägt. Er verteidigt es einmal leidenschaftlich in einem Brief an seine Verlobte (November 1883), in dem er auch von dem Essay über Frauenemanzipation spricht, den John Stuart Mill verfasst und Freud während seiner Militärzeit übersetzt hatte. Frauen seien nicht unterdrückt, »jedes Mädchen, wenn auch ohne Stimmrecht und richterliche Befähigung, dem ein Mann die Hand küßt, um deren Liebe er alles wagt, hätte ihn (J. S. Mill) zurechtweisen können.«
Die Psychoanalyse wurzelt in dieser Situation des begabten Mannes, der in die höheren gesellschaftlichen Schichten eindringen will und dadurch in seiner Kreativität stimuliert wird. Freud ist der Minnesänger im Arztkittel, ein Mann, der sich in einer Weise für seine Patientinnen und Patienten interessiert, die das hierarchische Modell der traditionellen Medizin durch etwas gänzlich Neues ersetzt: durch eine von Vertrauen getragene Beziehung, durch ein wohlwollendes Interesse für die geheimsten und verbotensten Gedanken und Wünsche. Die »Studien über Hysterie« dokumentieren das; es sind Geschichten über einen klugen Mann, der seine Intelligenz in den Dienst einer Frau stellt.
Es ist ein hübsches Detail, dass Freud in seinen Namensverschlüsselungen der »Studien über Hysterie« den Adelstitel, welchen er der Baroness von Lieben in ihrer Abkürzung als »Cäcilie M.« genommen hatte, einer weiteren »Großpatientin«, Emmy von N. spendierte, die in Wahrheit Fanny Moser hieß. Diese Patientin, eine wohlhabende Witwe in mittleren Jahren, die an Tics, Sprechhemmungen und grausigen Halluzinationen von Schlangen und Ratten litt, war es, die Freud davon überzeugte, dass die Hypnose »sinnlos und wertlos« sei, und es besser sei, Patientinnen nicht auszufragen, sondern sie erzählen zu lassen, ohne sie zu unterbrechen.