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3. Jugend, Politik, Beruf
ОглавлениеAber mehr als 35 Jahre lang – während Freud aufwuchs, studierte, heiratete, seine Familie gründete und auf die Psychoanalyse hinarbeitete – war der Liberalismus eine wesentliche, wenn auch mehr und mehr zerfetzte Strähne in der Wiener Politik gewesen. 13
In seiner »Selbstdarstellung« von 1925 schreibt Freud:
»Als Kind von vier Jahren kam ich nach Wien, wo ich alle Schulen durchmachte. Auf dem Gymnasium war ich durch sieben Jahre Primus, hatte eine bevorzugte Stellung, wurde kaum je geprüft. Obwohl wir in sehr beengten Verhältnissen lebten, verlangte mein Vater, daß ich in der Berufswahl nur meinen Neigungen folgen sollte. Eine besondere Vorliebe für die Stellung und Tätigkeit des Arztes habe ich in jenen Jugendjahren nicht verspürt, übrigens auch später nicht. Eher bewegte mich eine Art von Wißbegierde, die sich aber mehr auf menschliche Verhältnisse als auf natürliche Objekte bezog und auch den Wert der Beobachtung als eines Hauptmittels zu ihrer Befriedigung nicht erkannt hatte. Indes, die damals aktuelle Lehre Darwins zog mich mächtig an, weil sie eine außerordentliche Förderung des Weltverständnisses versprach, und ich weiß, daß der Vortrag von Goethes schönem Aufsatz ›Die Natur‹ in einer populären Vorlesung kurz vor der Reifeprüfung die Entscheidung gab, daß ich Medizin inskribierte.« 14
Wie wohl die meisten begabten Kinder kleinbürgerlicher Väter in der dynamisierten Epoche der Industrialisierung suchte Freud seit der Pubertät nach Vorbildern, an denen er sich orientieren konnte. Seit dem empörenden Beispiel der Feigheit seines Vaters gegenüber dem christlichen Angreifer entwarf sich der junge Freud zunächst militärische Gestalten wie den Feldherrn der Karthager, Hasdrubal, der – anders als Jacob Freud – seinen Sohn Hannibal in einem Heiligtum schwören ließ, Rache an den Römern zu nehmen. Freud beging hier eine Fehlleistung: Hasdrubal war der Bruder Hannibals; den Schwur leistete Hannibal seinem Vater Hamilkar. In der Tat hatte Freud in seinen Halbbrüdern »Väter« im Alter seiner Mutter, die in England erfolgreiche Geschäfte machten und von denen sein Vater später unterstützt wurde.
Ein genialer Feldherr, der übermächtige Feinde in vernichtenden Schlachten besiegt, war einer der imaginären Väter Freuds. Aber die Phantasie, ein von der römischen Kirche »besetztes« Land erobern zu können, lag im Wien nach 1867 in der Luft. Endlich hatten Juden zumindest auf dem Papier die gleichen Möglichkeiten wie Christen.
Freud hat sich immer zu einer liberalen politischen Haltung bekannt; konservativ-nationalistische Strömungen kamen für ihn so wenig in Frage wie Sozialismus. Die Grundlage zu dieser Entwicklung wurde in seiner Kindheit gelegt. Für einen Juden war der Liberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die große Hoffnung, in einem nationalen, aber nicht klerikalen oder rassistischen Bürgertum eine neue Heimat zu finden, Schutz vor Diskriminierung und Pogrom. Zionismus und Sozialismus entfalteten erst später politischen Einfluss. Sie reagierten auf das geschwächte Projekt des Liberalismus.
Vielleicht hatte sich Amalie Freud mehr von ihrem Mann erwartet, als dieser leisten konnte. Mir sind keine Zeugnisse bekannt, wie sich die bei der Eheschließung 19-Jährige an der Seite ihres geschäftlich wenig begabten, so viel älteren Mannes fühlte, mit dem sie in bedrückender Enge leben musste. Deutlich ist aber, dass sich ihr Ehrgeiz bald auf ihren »goldenen Sigi« richtete. Damit entstand eine Verbindung, die Freud in seinen persönlichen Äußerungen immer idealisiert hat. Gegen alle analytische Einsicht beschrieb er später das Mutter-Sohn-Verhältnis als »reine« Liebesbeziehung.15
Nicht alle Menschen, die später Herausragendes leisten, sind Klassenprimus. Warum Freud? Drei Faktoren wirkten zusammen: Seine intellektuelle Hochbegabung, seine Suche nach neuen Vorbildern und – seine Angst. Der von seiner Mutter idealisierte Sohn fühlt sich dazu aufgefordert, sie in ihrem Selbstgefühl zu festigen. Daher erlebt er ihre Zuwendung nicht verlässlich. Sie gilt nicht seiner Autonomie, sondern der gemeinsamen Illusion von Erfolg, Sicherheit, Geltung. Hier wurzelt jene Charaktereigenschaft, die man beim Erwachsenen Ehrgeiz nennt. Sie enthält meist eine Überkompensation von Ängsten, in Bedeutungslosigkeit und innerer Leere zu versinken, wenn nicht in rastloser Aktivität Höchstes erreicht wird.
Symbiotisch-idealisierend an die Mutter gebundene Söhne entwickeln besondere Strategien, um dieses sozusagen gemeinsame Selbstgefühl zu festigen und die Angst zu vermeiden, die in jenem unklaren seelischen Bereich beginnt, wo das Nicht-Erreichen des Leistungsideals und der Verlust der Mutter verschmolzen sind. Ein Hochbegabter, der entspannt seinen Interessen folgt, schwimmt in der Schule locker mit; er toleriert die ein oder andere harmlose Leistungsschwäche. Wer über sieben Jahre Primus ist, kann sich solche Nachlässigkeit seelisch nicht leisten.
Freuds Disposition zu Angstanfällen ist durch Ernest Jones und Max Schur dokumentiert. Interessant sind seine Verhaltensweisen, die Verlust- und Trennungsängste kompensieren. Sie prägen seine Biographie, angefangen von harmlosen Zügen (etwa der Eigenart, aus Angst, den Zug zu verpassen, stets zu früh am Bahnhof zu sein), bis hin zu zentralen Befriedigungen (seiner Sammelleidenschaft für antike Kleinplastiken) und seiner ganzen Lebensgestaltung.
Als Reaktionsbildung gegen die Enge und ständige Beunruhigung während seiner frühen Kindheit hat Freud in seinem Privatleben als Erwachsener feste Strukturen aufgebaut und unerschütterlich daran festgehalten. Er beschränkte sein sexuelles Leben auf eine einzige Frau, wohnte die meiste Zeit seines Lebens in einer Wohnung und begegnete Neuerungen (wie dem Telefon und dem Automobil) mit Skepsis, die sich auch in seiner Abscheu gegen die USA ausdrückte, das Land der Neuerungen schlechthin.
Freud beschreibt in den Fließ-Briefen detailliert seine hypochondrischen Zustände, seine Eisenbahn-Angst, und seine Hoffnungen auf »die Lösung der eigenen Hysterie«. (3. Oktober 1897, a.a.O. S. 289). Wegen einer heftigen Herzneurose, wir würden heute von Panikattacken sprechen, verzichtet er – einem Rat von Fließ folgend – auf die geliebten Zigarren, verspricht dem Freund sogar, nie wieder zu rauchen, fühlt sich dann aber so elend, daß er seinen Schwur bricht.
Er spekuliert häufig über Zeitpunkt und Ursache seines Todes –
»daß ich noch 4–5–8 Jahre an wechselnden Beschwerden mit guten und schlechten Zeiten leiden und dann zwischen 40 und 50 an einer Herzruptur schön plötzlich verenden werde; wenn es nicht zu nahe an 40 ist, ist es gar nicht so schlecht.« (Fließ-Brief)
Solche Äußerungen verraten, wie wenig Freud sich vorstellen konnte, alt zu werden. Wie als Gegenleistung wendet er sich immer wieder liebevoll-besorgt den Kopfschmerzen von Fließ zu; in den nicht erhaltenen Briefen des Freundes müssen hypochondrische Phantasien ebenfalls eine große Rolle gespielt haben. Die abstruse Theorie über die universellen »Perioden« von Mann und Frau, die Freud als grandiose Entdeckung seines Freundes feiert und durch Beispiele aus seiner Familie zu untermauern sucht, läßt sich gut als Rationalisierung hypochondrischer Ängste verstehen.
Freuds Jugend in Wien ist von einer Epoche bestimmt, in der mehr als überall sonst die Utopie einer friedlichen, von Wissenschaft und Bildung getragenen, liberalen und multikulturellen Gesellschaft zum Greifen nahe schien. Seit 1848 hatte sich die Lage der Juden in der Donaumonarchie stetig verbessert, um 1867 waren alle Reste rechtlicher Diskriminierung aufgrund der Religionszugehörigkeit beseitigt worden. Bis dahin waren beispielsweise jüdische Hebammen in nichtjüdischen Haushalten verboten. Nun waren Juden wählbar, sie stellten Bürgermeister der liberalen Partei, »jeder fleißige Judenknabe (trug) also das Ministerportefeuille in seiner Schultasche.«16
Während der Gymnasialzeit Freuds (1865–1873) stieg die Zahl der jüdischen Schüler dort von 44 auf 73 Prozent, in den 80er Jahren war mindestens die Hälfte der Ärzte, der Journalisten und Anwälte in Wien jüdisch. Es herrschte eine Aufbruchsstimmung ohnegleichen; niemand konnte voraussehen, dass bald die Verfolgung der »Ungläubigen« in weit bösartigerer Gestalt zurückkehren würde. Was Freud immer als seine »Weltanschauung« verteidigt und zur Grundlage der psychoanalytischen Haltung gemacht hat, wurzelt in dieser politischen Situation.
Im vorliberalen Österreich musste sich der Jude, dem die rechtlichen Einschränkungen lästig waren, taufen lassen. Eine solche Demütigung wäre den Juden in der liberalen Zukunft, in der engstirnige Tradition dem wissenschaftlichen Fortschritt weichen muss, erspart geblieben. Es gab eine gemeinsame Welt für sie und für alle anderen, die sich der Welt geistig bemächtigen wollten. In dieser spielten Glaube, Hautfarbe, Herkunft und Geschlecht keine Rolle mehr.
Es waren freiere Zeiten als heute, denn Auschwitz kann aus der Welt nicht mehr hinausgedacht werden. Für Freud bedeutete der Satz: »Auch ich bin Jude geblieben«, dass er es für verfehlt gehalten hätte, eine durch Geburt erworbene Religionszugehörigkeit gegen eine zufällig praktischere zu tauschen, sich also – wie Heinrich Heine – aus Karrieregründen taufen zu lassen. Das war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für eine Karriere in Verwaltung oder Militär noch unabdingbar.
Mit der liberalen Regierung in der Donaumonarchie schien die Möglichkeit greifbar nahe, solche Einschränkungen zu überwinden. Freud hat auf seine Weise für eine solche Zukunft gekämpft. Aus diesem Grund war für ihn auch der Bruch mit C. G. Jung so schmerzhaft. Er hatte die stürmische Hingabe des Schweizers an die gemeinsame Sache als Zeichen genommen, dass die Psychoanalyse genau jene Bindungen schaffen könnte, von denen er als junger Wissenschaftler träumte.
Seine Söhne hat Freud nicht beschneiden lassen; er war hier einsichtiger als andere beschnittene Väter, die immer noch glauben, dieser verstümmelnde Brauch schade nicht. In Wahrheit lassen sich in vielen Fällen traumatische Folgen auch der angeblich »harmlosen« Frühbeschneidung nachweisen.17
Die Ent-Idealisierung des Vaters führte Freud fort vom »Geschäft« in die »Bildung«. Er dachte als Gymnasiast daran, Jura zu studieren und Politiker zu werden. Während des Krieges von 1870 zwischen Frankreich und Deutschland hatte der 14jährige Freud eine Karte des Kampfgebietes auf seinem Schreibtisch befestigt und die Schlachten mit bunten Fähnchen markiert. Er war auf der Seite der Deutschen.18
Was bewog Freud, diese erste Berufswahl aufzugeben und sich für die Rolle des Naturforschers und Heilers zu entscheiden? Nach seiner eigenen Aussage war es ein Vortrag von Goethes Hymnus »Die Natur« im Jahr 1873. In diesem Werk preist der Goethe ein mütterliches Wesen, grandios und unbestimmt, was er Natur nennt, es könnte geradeso gut Gott, Schicksal, Vorsehung oder Es heißen:
»Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie da, was war, kommt nicht wieder: Alles ist neu und doch immer das Alte.
Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verräth uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie....
Sie spielt ein Schauspiel; ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht, und doch spielt sie ’s für uns, die wir in der Ecke stehen.
Die Menschen sind alle in ihr, und sie in allen. Mit allen treibt sie ein freundliches Spiel und freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Sie treibts mit vielen so im Verborgenen, daß sie ’s zu Ende spielt, ehe sie ’s merken...Sie hat mich hineingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten; sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr; nein, was wahr ist und was falsch ist, Alles hat sie gesprochen, Alles ist ihre Schuld, Alles ist ihr Verdienst.« 19
Dieser Text wurde wohl nicht von Goethe verfasst. Er hat ihn adoptiert, wie ein Maler, der im Alter ein Bild signiert, das von ihm sein könnte, obwohl er sich nicht daran erinnert, es gemalt zu haben. In einem späteren Zusatz schreibt Goethe: »Daß ich diese Betrachtungen verfaßt, kann ich mich faktisch nicht erinnern, allein sie stimmen mit den Vorstellungen wohl überein, zu denen sich mein Geist damals ausgebildet hatte.« Zudem war der Text »von einer wohlbekannten Hand geschrieben, deren ich mich in den achtziger Jahren in meinen Geschäften zu bedienen pflegte.«20
Es ist schwer vorstellbar, dass dieses Prosagedicht allein Freuds Berufsziele vom Juristen und »Minister« zum Naturforscher und Arzt wandelte. Ich vermute, dass es sich um eine Deckerinnerung handelt, die einen aufwühlenden Prozess verborgen hält. Dafür spricht auch, dass Freud in seinen späten Darstellungen die eigenen Helfer-Motive herunterspielt. In »Zur Frage der Laienanalyse« sagt er:
»Nach 41jähriger ärztlicher Tätigkeit sagt mir meine Selbsterkenntnis, ich sei eigentlich kein richtiger Arzt gewesen. Ich bin Arzt geworden durch eine mir aufgedrängte Ablenkung meiner ursprünglichen Absicht und mein Lebenstriumph liegt darin, daß ich nach großem Umweg die anfängliche Richtung wieder gefunden habe. Aus frühen Jahren ist mir nichts von einem Bedürfnis, leidenden Menschen zu helfen, bekannt, meine sadistische Veranlagung war nicht sehr groß, so brauchte sich dieser ihrer Abkömmlinge nicht zu entwickeln ... Ich meine aber, mein Mangel an der richtigen ärztlichen Disposition hat meinen Patienten nicht sehr geschadet. Denn der Kranke hat nicht viel davon, wenn das therapeutische Interesse beim Arzt affektiv überbetont ist. Für ihn ist es am besten, wenn der Arzt kühl und möglichst korrekt arbeitet.« 21
Solche Äußerungen haben Freuds Bild als strenger, kühler Forscher bestimmt, dem jeder Heiler-Ehrgeiz fremd sei. Aber dieses Bild ist ein Wunschbild, durch das Freud seine eigene Geschichte ihrer Vieldeutigkeit beraubt. Wenn er sagt, dass ihm nichts von einem Bedürfnis bekannt ist, leidenden Menschen helfen zu wollen, dann dementiert er Äußerungen seiner Jugendbriefe wie diese:
»Voriges Jahr hätte ich auf die Frage, was mein höchster Wunsch sei, geantwortet: Ein Laboratorium und freie Zeit oder ein Schiff auf dem Ozean mit allen Instrumenten, die der Forscher braucht; jetzt schwanke ich, ob ich nicht lieber sagen sollte: ein großes Spital und reichlich Geld, um einige von den Übeln, die unseren Körper heimsuchen, einzuschränken oder aus der Welt zu schaffen...« 22
Sobald Freud in die therapeutische Arbeit eingestiegen war, engagierte er sich mit einem Interesse, das er später verleugnete. Wie nur je ein Helfer hat er gespürt, dass die Hinwendung zu Menschen, die ihn brauchen, eine antidepressive und seelisch stabilisierende Wirkung ausübte. In einem der »Brautbriefe« schreibt er an Martha:
»Mein teures Mädchen, ich kam heute ganz ratlos zu meinem Patienten, woher ich die nötige Teilnahme und Aufmerksamkeit für ihn nehmen würde; ich war so matt und apathisch. Aber das schwand, als er zu klagen begann und ich zu merken, daß ich hier ein Geschäft und eine Bedeutung habe....« 23
So war für Freud die intensive Beziehung zu seinen Patienten ein Stimulans, das ihn auch an trüben Tagen belebte. Wahrscheinlich wäre ohne dieses Bedürfnis die Psychoanalyse nicht entwickelt worden. Zu ihrer Entstehung gehört ja auch, dass der Helfer bereit ist, die »hysterischen« Patientinnen nicht wie die meisten seiner Zeitgenossen distanziert zu behandeln und als »Degenerierte« abzuwehren, sondern sich teilweise auf ihr Bedürfnis nach einer intensiven emotionalen Beziehung einzulassen.
Wenn Freud – im Gegensatz zu Breuer, der in seiner Flucht vor »Anna O.’s« Übertragungsliebe auch die Flucht vor der Psychotherapie antrat – das gewonnene Gebiet nicht mehr preisgab, dann trug sowohl die frühe Identifizierung mit dem karthagischen Feldherrn ihre Früchte, wie sein intensives Kontaktbedürfnis, das sich mit seinem Bild des Naturforschers verband.