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1994

Während den letzten beiden Unterrichtsstunden war er unkonzentrierter als gewöhnlich. Er musste immer wieder an das bevorstehende Gespräch mit Sabrina denken. Von Bodenstedt war wie er Philologe gewesen und sein Aphorismus kam ihm in den Sinn: „In jedes Menschen Gesichte / steht seine Geschichte / sein Hassen und sein Lieben / deutlich geschrieben.“

Kurz vor dem Schellen nach der sechsten Stunde schrieb er schnell die Hausaufgabe an die Tafel. Als er das Lehrerzimmer fast erreicht hatte, sah er Sabrina schon vor der Tür stehen. Sie sah heute besser aus als am Vortag.

„Hallo, Sabrina!“

„Guten Tag, Herr Eichenhagen!“

„Wir suchen uns jetzt einen freien Klassenraum.“

Der Schulleiter hatte den Kollegen den Rat gegeben, ein Gespräch mit einer Schülerin nie allein zu führen. Das hätte zu Missverständnissen führen können und deshalb ließen einige Kollegen einfach die Tür etwas offen. Sie hatten einen freien Raum erreicht und Christian schloss die Tür hinter Sabrina. Unsinnige Anweisungen waren ihm schnurz.

„Wie fühlst du dich heute?“

Sie lächelte ihn an und sagte: „Danke, gut!“

„Ich habe den Eindruck, dass du manchmal deprimiert bist.“

Sie antwortete zunächst nicht.

„Nur ganz selten, aber mir ist es aufgefallen.“

Wieder gab sie keine Antwort.

„Ist zu Hause alles in Ordnung?“

„Ja, auf jeden Fall.“

„Kümmern sich denn deine Eltern um dich?“

Erneut schwieg sie.

„Sind beide zu Hause, wenn sie nicht arbeiten?“

„Ja, das habe ich doch schon gesagt.“

Irgendwie kam er nicht weiter, kam nicht zu ihr durch. In einer solchen Situation konnte er nicht das Jugendamt einschalten.

„Ich frage geradeheraus: Wirst du manchmal geschlagen?“

Sie errötete.

„Nein, nie. Wie kommen Sie darauf?“

„Hast du Vertrauen zu mir?“

„Ich finde Sie sehr sympathisch.“

„Würdest du dich denn an mich wenden, wenn du ein Problem hättest?“

„Ja, sicher, wenn ich nicht mit meinen Freundinnen darüber sprechen kann.“

„Und hast du eine beste Freundin?“

„Na klar! Marina.“

„Eure Vornamen haben fünf Mal denselben Buchstaben, das muss ja zusammenschweißen.“

Sie lachte laut. Er wusste nicht, wie er weitermachen sollte.

„Sabrina, ich würde sagen, für heute machen wir erst einmal Schluss. Bist du einverstanden?“

Sie blickte ihn an, nahm ihren Rucksack und ging zur Tür.

„Bis morgen, Herr Eichenhagen!“

Das Leben ist ungereimt

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