Читать книгу Das Leben ist ungereimt - Wolfgang Wagner - Страница 12
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Er hatte Sabrinas Verhalten in den Monaten, die ihrem Gespräch folgten, beobachtet, aber er spürte keine negative Veränderung. Im Gegenteil: Wann immer es möglich war, lächelte sie ihn nach der Unterrichtsstunde an.
Heute war der zweite Tag, dass sie unentschuldigt fehlte.
„Weiß jemand etwas über Sabrina? Ist sie krank?“
Keiner wusste etwas, nur Marina, Sabrinas beste Freundin, schaute weg.
„Marina, Sabrina ist doch deine Freundin, weißt du etwas?“
Sie druckste herum: „Nicht wirklich.“
„Kann ich dich heute nach der sechsten Stunde sprechen?“
„Klar doch.“
Zum Glück hatte er eine Freistunde, so dass er Sabrinas Eltern anrufen konnte. Aber niemand meldete sich. Er sprach auf den AB.
Er war mehr als gespannt auf das Gespräch mit Marina.
„Weißt du etwas? Es ist ernst.“
Sie schaute auf den Boden, sagte nichts.
„Sind Sabrinas Eltern beide berufstätig?“
Dann platzte es aus Marina heraus.
„Sabrinas Mutter ist seit ein paar Jahren in der Psychiatrie. Ich weiß nicht, was sie genau hat.“
„Und ihr Vater? Wo arbeitet er?“
„Er arbeitet auf einer Baustelle. Und er schlägt Sabrina und …“
„Was heißt ‚und‘?“
„Na ja, er ist ein Mann und meint …“
Christian war erschüttert, ließ sich aber seine Wut nicht anmerken.
„Ich bin dir sehr dankbar, Marina.“
Er sah, dass Marina Tränen in den Augen hatte. Er nahm sich vor, am Nachmittag bei Sabrina vorbeizufahren.
Es kam häufiger vor, dass Christian nach dem Unterricht später nach Hause kam. Normalerweise war er recht entspannt, wenn er auf dem Fahrrad nach Hause fuhr. Er sagte selbst, dass er auf dem Fahrrad den Schulstress abstreifen konnte. Als Eva aus dem Küchenfenster schaute, hatte sie diesmal einen anderen Eindruck. Seine Miene war finster.
Sie empfing ihn an der Haustür mit einem Kuss.
„Was ist los? Du hast Sorgenfalten auf der Stirn.“
„Sorgen ist das richtige Wort.“
„Und?“
„Sabrina, eine Schülerin meiner Klasse, fehlt schon den zweiten Tag unentschuldigt.“
„Das kommt vor.“
„Ich habe mit ihrer Freundin gesprochen. Mit Sabrinas Vater stimmt etwas nicht.“
„Kann es etwas genauer sein?“
Er schwieg und aß die Linsensuppe. Meistens lobte er Evas Kochkünste, doch diesmal blieb das Lob aus.
„Ich trinke noch eine Tasse Kaffee und dann fahre ich zu Sabrinas Wohnung.“
Er hatte sich etwas frisch gemacht und war auf dem Weg zur Steinstraße. Die Nummer fünf war leicht zu finden, denn es war das einzige Gebäude, das fünf oder sechs Etagen hatte. Er schloss sein Fahrrad ab und suchte die Klingel. Die Familie schien in der zweiten Etage zu wohnen. Er schellte mehrmals, aber durch die Sprechanlage hörte er nichts. Er ging vor das Haus und suchte die Wohnungen in der zweiten Etage ab. An einem Fenster glaubte er das Bewegen des Vorhangs sehen zu können. Er schellte erneut. Die Sprechanlage war wohl an, denn er meinte ein Schluchzen hören zu können.
„Sabrina, ich bin’s. Eichenhagen, dein Klassenlehrer.“
„Ich mache Ihnen auf, Sie können den Aufzug benutzen. Zurzeit ist er mal nicht kaputt.“
„Danke! Ich nehme lieber die Treppe.“
Als er die Wohnung betrat, war er erschüttert. Alles war in Unordnung, überall lagen schmutzige Kleidungsstücke und leere Flaschen herum. Er kam auch an einem kleinen Zimmer vorbei, das aufgeräumt war. Wahrscheinlich war das Sabrinas Raum. Sabrina räumte einen Sessel frei und sagte: „Tut mir leid. Sie können sich hier hinsetzen.“
Während sie alles berichtete, musste sie immer wieder weinen.
„Dein Vater hat dich also immer wieder geschlagen und …“, er stockte, „wahrscheinlich hat er dir noch mehr angetan. Ich muss die Polizei holen.“
„Muss das sein?“
„Ich glaube schon. Irgendwann wird dein Vater heimkommen und dann geht’s wieder los.“
Sie suchte ein Taschentuch.
„Wahrscheinlich haben Sie recht. Und wie geht es dann weiter?“
„Ich weiß nicht genau. Aber ich bleibe bei dir, bis alles geregelt ist. Am besten packst du ein paar Sachen.“
Sie war auf dem Weg in ihr aufgeräumtes Zimmer, als er ihr hinterherrief: „Kann ich kurz meine Frau anrufen? Ich will nur sagen, dass es später wird.“
„Bedienen Sie sich, es ist in der Küche.“