Читать книгу Das Leben ist ungereimt - Wolfgang Wagner - Страница 8

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2017

Christian hatte wieder das Frühstück vorbereitet. Eva kam in die Küche, in der sie normalerweise auch aßen.

„Guten Morgen! Danke! Hast du schon deine Mails gecheckt?“

„Nein, ich habe alles vorbereitet, mach ich später.“

Sie trank einen Schluck Kaffee und bevor sie ins Brötchen biss, sagte sie: „Jacqueline hat uns geschrieben.“

„Ah!“

Er erinnerte sich nicht mehr daran, ob es 1996 oder 1997 gewesen war. Sie hatten von Jacqueline Dubois in Cabourg, Normandie, eine Wohnung im Erdgeschoss gemietet. Sie selbst wohnte mit ihrer Familie im ersten Geschoss. Sie war um die dreißig, nicht schön, aber reizvoll. Zwangsläufig begegneten sie sich mehrfach täglich. Er liebte es, sie zu treffen und mit ihr Französisch zu sprechen. Zu Beginn des Studiums hatte er überlegt, ob er Französisch und Englisch auf Lehramt studieren sollte. Aber zum Glück hatte er sich dagegen entschieden: Zwei Korrekturfächer wären einfach zu viel gewesen.

„Hast du mich verstanden?“

Als hätte er an etwas anderes gedacht, fragte er: „Was?“

„Soll ich dir erzählen, was sie schreibt?“

Er schien zu überlegen.

„Das ist lieb von dir, aber ich lese die Mail lieber selbst.“

An einem heißen Tag waren sie sich auf dem Weg in den Garten begegnet. Ihre beiden Jungen tobten schon im kleinen Planschbecken. Sie hatte einen Minibikini an.

„Christian, hast du etwas dagegen, wenn ich den Bikini ausziehe und mich nackt in die Sonne lege?“

Er wurde etwas verlegen, stammelte: „Und die Nachbarn?“

„Die kennen uns. Sie sind selbst FKK-Freunde.“

Er versuchte, seinen angefangenen Krimi von Georges Simenon ‚L’Etoile du Nord‘ weiterzulesen, aber immer wieder schielte er zur nackten Jacqueline hinüber.

„Christian, wo bist du mit deinen Gedanken?“

„Ich habe mir überlegt, heute Morgen meinen Vater zu besuchen.“

Ein weiteres Mal wunderte sich Eva über seine Geistesabwesenheit.

„Gute Idee!“

„Warst du mal bei ihm und hast ihm von meinem Unfall erzählt?“

„Ja, sicher, aber du weißt ja, wie es mit ihm ist. Ich bin nicht sicher, ob er sich daran erinnert.“

Nach dem Tod seiner Frau war für Christians Vater klar, dass er in ein Seniorenzentrum ziehen würde. Zu seiner Schwiegertochter hatte er nicht das beste Verhältnis und sein Sohn hatte genug mit den Korrekturen und den Vorbereitungen zu tun.

Sein Blick war immer noch auf Jacqueline gerichtet, als Eva aus der Stadt zurückkam.

„Hast du mir ‚Aujourd’hui‘ mitgebracht?“

„Natürlich, und ein frisches Baguette.“

Am späten Abend schliefen sie miteinander. Zwischendurch fragte Eva: „Denkst du jetzt an die nackte Jacqueline?“

Nach einer Weile kam er, sagte aber nichts.

„Christian, kannst du bitte den Tisch abräumen? Du weißt, ich muss gleich zur Gymnastik.“

„Kein Problem. Ich fahre dann später mit dem Fahrrad zu meinem Vater.“

„Mach das!“

Das städtische Seniorenzentrum war nicht weit entfernt. Immer, wenn er durch die automatische Eingangstür ging, hatte er einen positiven Eindruck: Alles war hell und je nach Jahreszeit geschmückt. Und die große Halle gab den Blick frei auf die drei Etagen, von wo vor allem die Rollstuhlfahrer gern hinunterblickten.

Er ging die Treppe hinauf in die erste Etage, dann am Geländer entlang in Richtung Raum 113. Er nickte den Bewohnern in den Rollstühlen zu und klopfte an die Tür. Er wartete ein paar Momente, dann ging er hinein. Sein Vater saß in seinem Rollstuhl am Fenster. Der Vorhang war zurückgezogen, so dass er in den Garten gucken konnte.

„Hallo, Vater!“

In seiner Kindheit und Jugend hatte er immer ‚Papa‘ gesagt, aber es erschien ihm zu lächerlich, sobald er halbwegs erwachsen war. Er drehte sich langsam um.

„Guten Morgen, Chris!“

Er hatte früher immer ‚Christian‘ gesagt, aber in den letzten Jahren war ihm wohl die Kurzform lieber.

„Wie geht es dir?“

„Mir ist langweilig, aber es geht mir nicht schlecht. Du warst länger nicht mehr da, oder?“

„Eva war da und hat dir von meinem Unfall erzählt.“

„Was für ein Unfall? Sie war nicht bei mir. Sie mag mich doch nicht.“

„Ich war mit meinem Fahrrad unterwegs und da hat mich ein Lkw-Fahrer mit Anhänger übersehen.“

„Warst du verletzt?“

Er wollte nicht dramatisieren.

„Eine leichte Gehirnerschütterung und der rechte Arm war gebrochen.“

„Und das hat so viele Wochen gedauert?“

„Ich war noch in der Reha.“

„Deine Mutter war heute noch nicht hier.“

Christians Mutter war seit ein paar Jahren tot, aber er sagte nur: „Die wird sicherlich kommen.“

„Dann ist ja gut.“

„Und wie geht es dir?“

Christian war überrascht. Hatte sein Vater schon das Gespräch von gerade vergessen?

„Jetzt geht es mir wieder gut. Ich fahre auch wieder Fahrrad.“

„Du bist doch immer Fahrrad gefahren. Und was macht Eva?“

„Sie ist zur Gymnastik.“

„Sie bieten hier auch Gymnastik an, für Rollstuhlfahrer. Das mache ich manchmal mit. Hast du heute schon deine Mutter gesehen?“

„Nein, sie wird bald kommen.“

Als er wieder zu Hause war, las er erst einmal die Mail von Jacqueline. Sie war auf Französisch und er fragte sich, ob Eva wirklich alles verstanden hatte.

Ihrer Familie ging es gut und sie fragte an, ob Christian und Eva eventuell im nächsten Jahr wieder einmal nach Cabourg kommen wollten. Sie hatte ein paar Fotos hinzugefügt. Ihre planschenden Jungen waren inzwischen Studenten und er fand, dass Jacqueline immer noch toll aussah. Sie musste jetzt um die fünfzig sein.

Dann las er den zweiten Brief von Nico Abel.

Sehr geehrter Herr Eichenhagen,

ich weiß nicht mehr genau, wie ich meinen ersten Brief beendet hatte. Ich ging vorsichtig in Frau Schmidts Raum und zunächst sah ich zwei halb leere Bierflaschen. Auf dem Bett sah ich zwei nackte Körper, Ihrer auf dem von Frau Schmidt. Diese begann zu stöhnen. Ich wollte nicht weiter stören und verließ leise den Raum.

Ich melde mich wieder bei Ihnen.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Nico Abel

Wollte Nico ihn erpressen? In der Klasse war er eher unauffällig gewesen, immer freundlich und interessiert. Der Briefumschlag hatte keinen Absender. Er konnte also nicht reagieren, musste abwarten. Als er hörte, dass seine Frau die Tür aufschloss, versteckte er den Brief in einer Schublade. Er hatte den Eindruck, dass sie nicht allein war.

„Hallo, Christian! Wo bist du?“

„In meinem Zimmer, hier oben.“

„Ich habe jemanden mitgebracht, einen Gast. Kommst du?“

„Sicher.“

Als er unten im Flur ankam, sah er einen Fremden. Seine Jeans war alt und abgewetzt, seine dicke Jacke hatte Löcher. Auf dem Kopf trug er eine Wollmütze. Sein Gesicht war schmal und voller Falten.

„Hallo! Kennen wir uns?“

„Christian, überleg doch mal!“

Er schaute noch einmal in das Gesicht des Fremden.

„Denk doch mal an Darius!“

„Waren Sie in seiner Klasse?“

„Ganz heiß“, sagte Eva lächelnd.

Er blickte den Fremden ein weiteres Mal an. Er zögerte: „Sind Sie Ingo?“

„Ja, Herr Eichenhagen, aber Sie können mich ruhig duzen.“

„Sie, du hast dich verändert.“

„Christian, ich habe ihm angeboten, ein paar Tage bei uns zu bleiben. Du bist doch einverstanden, oder?“

„Selbstverständlich.“

Er wusste, dass Eva für ihre Entscheidung sicherlich gute Gründe hatte.

„Er könnte Darius’ Zimmer nehmen oder das Appartement im Keller.“

„Letzteres ist besser. Da hat er seine eigene Toilette und Dusche und ist unabhängiger.“

„Ich würde vorschlagen, ich bereite das Mittagessen vor, und ihr könnt ein bisschen plaudern, wie früher.“

„Also Ingo, zieh deine dicke Jacke aus und dann komm bitte ins Wohnzimmer!“

Als die beiden im Wohnzimmer waren, zögerte Ingo etwas.

„Kann ich mich mit meiner schmutzigen Jeans auf die Couch setzen?“

„Natürlich! Was wir besitzen, benutzen wir. Die Sachen sind nicht zum Angucken da.“

„Danke, das ist nett von Ihnen.“

Das Leben ist ungereimt

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