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5 Halluzinationen
ОглавлениеSamstag am Vereinsteich in Börnste. Der Morgen dieses frühen Herbsttages kündigte schönes Wetter an. Die Nacht war kalt gewesen, fast frostig. Vereinzelt lagen Nebelbänke über den Feldern. Knorrige Eichenstämme ragten mit ihren Kronen aus dem milchigen Dunst heraus. Mani Kempinski versuchte möglichst nah am Tor zur Teichanlage eine Parklücke zu erwischen. Vergebens. Er ärgerte sich über die müßigen Kollegen. Die Büsche und Sträucher links und rechts vom Tor hätten längst gestutzt werden müssen. Frustriert kramte er seine sperrige Ausrüstung aus dem Kofferraum und stiefelte los. Das Abangeln sollte ein Erfolg werden. In ein paar Stunden würde das Vereinsgelände bevölkert sein und später wurden Frauen und Kinder zum Grillen erwartet.
Plötzlich blieb er erschrocken stehen und tastete seine Parkertaschen ab. Ein Glück, sein Handy hatte er eingesteckt. Das beruhigte ihn, denn er wollte Pörschke jederzeit erreichen können. Die Sache mit dem Ohrring machte ihm zu schaffen. Niemand anderes als er hatte den Ohrring ans Licht befördert. War er vielleicht sogar selber gemeint, eine Geste aus dunkler Vergangenheit, ein schwarzes Loch, von dem er hin und wieder träumte und aus dessen Tiefe seine Mutter nach ihm rief? Die Ohrringe kamen ihm bekannt vor, aber nein, er hatte nichts damit zu tun.
Er setzte seinen Weg fort. Richtig wach fühlte er sich nicht und die gewohnte Freude auf den Angeltag ließ auf sich warten. Nachts hatte er sich unruhig im Bett gewälzt und war schweißgebadet aufgewacht. Er hatte vom zweiten Ohrring geträumt, der ihn über den Traum hinaus als armseligen Sünder verfolgte. Hatte er den Tod seiner Mutter verschuldet? Hatte er deswegen Frauen schon früh aus seinem Leben gestrichen? Da war eine Wand, die unüberwindlich schien und vor der er zum ersten Mal als Kind gestanden hatte. Längst hatte er sich mit dem Schicksal abgefunden, ewiger Junggeselle zu bleiben, doch hatte sein Hausarzt ihm geraten, sich nicht von der Gesellschaft abzukapseln, da er ohne Partner und mit einem Hobby, das man oft alleine betrieb, vereinsamen könnte. „Man schlittert in eine Psychose, ohne dass man es merkt“, hatte sein Arzt ihn gewarnt, aber Kempinski schenkte dem keine Bedeutung, weil er glaubte, dass Angeln für ihn die beste Therapie sei. Und außerdem lagen Depressionen nicht in der Familie, jedenfalls nicht väterlicherseits.
Dicke Nebelschwaden krochen aus der Mitte des Teiches empor. Er blieb erneut stehen und sah sich das Spiel der Elemente an. Die Stille hier draußen in der Natur faszinierte ihn. Sie kroch bis tief in seine Seele, aber wenn er nicht aufpasste und sich zu sehr darauf konzentrierte, wurde sie lauter und lauter, bis er sich ablenken musste, um nicht vom Getöse der Stille innerlich zerrissen zu werden. Erst seit einigen Wochen war ihm dieses Phänomen aufgefallen und er fragte sich, ob sich dadurch die Psychose ankündigte, von der sein Arzt gesprochen hatte.
Er legte seine Utensilien vorsichtig ins nasse Gras, klappe seinen Angelstuhl auf und zündete sich eine Zigarette an. Abschätzend blickte er nach oben. Der Nebel hatte sich verzogen. Auf der glatten Oberfläche des Wassers spiegelte sich das frische Blau des Himmels, als würde es bis tief unten auf den Grund scheinen. Er machte einen weiteren Schritt ans Ufer und plötzlich war ihm, als sähe er dort unten einen roten Edelstein. Er blinzelte und bückte sich nieder. Vielleicht konnte er den leuchtenden Punkt einfangen, ihn sogar mitnehmen. Doch als seine Hand ins Wasser glitt, verschwand der rote Schein. Er stützte sich behäbig im moosigen Grund ab, richtete sich auf und setzte seinen Weg zum Angelplatz fort.
Er hatte richtig getippt. Es gab einen zweiten Ohrring mit einem Rubin.