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4 Aurelia

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Aurelia Asche hatte die Differenzialgleichung gelöst, bevor es schellte. Das bedeutete: keine Hausaufgaben. Ihre Mitschüler kannten das. Sie war eben unschlagbar in Mathe und Physik, stellte manchmal sogar Fragen, die die Lehrer abwiegelnd so bewerteten, dass sie nicht zum Thema gehörten und im Übrigen dafür keine Zeit sei. Aurelia war nach Ansicht ihres Vaters ein hochbegabtes Kind mit autistischen Zügen. Eher introvertiert, meinte ein Psychologe, aber den hatten Aurelias Eltern abgelehnt. Ihr Vater wollte ein autistisches Kind, das besonders war und es auch bleiben sollte. Die Eltern wussten nicht, dass Aurelia einen Freundeskreis pflegte, den sie ihr kategorisch verboten hätten. Aurelia war ein Elitedenker, immer einen Schritt voraus, so auch als Kind, was ihr Lob einbrachte, wenn sie mal wieder besonders schlau war und ihren Eltern Freude machte.

Donnerstagabend. Smirty musste raus, Gassi gehen. Aurelias Eltern hatten ihr einen Hund gekauft, weil ein Tier helfen würde, ihre Gefühle besser zu entwickeln. So hatte es jedenfalls im Internet gestanden. Ihr Vater erklärte ihr die Vorteile, die Aurelia auch einsah, aber dass sie Pflichten übernehmen sollte, stand nicht im Internet. Missmutig nahm sie die Leine und verließ mit Smirty das Haus.

Smirty war ein Mischlingshund, die galten als robust und waren billig. Aber Smirty war tatsächlich ein besonderes Exemplar, denn er besaß eine Spürnase, die das normale Maß seiner Artgenossen übertraf. Im Vergleich zu denen war er Gold, im Vergleich zu den Menschen war er ein olfaktorisches Wunderwesen.

Sie kamen auf ihrem Spaziergang an den Grabungsstätten vorbei. Smirty lief kreuz und quer über den angrenzenden Acker, die Nase stur nach unten. Er beschleunigte, als er sich dem Ausgrabungsareal näherte. Die Umgrenzung war markiert und Halterns Einwohner respektierten die Zone. Smirty sah das anders.

„Smirty, komm sofort her! Wenn ich dich kriege, kommst du an die Leine“, rief Aurelia zornig. Er war aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden und es war bereits dunkel. Zum Glück schien der Mond. Sie machte sich Sorgen, er könnte weggelaufen sein, aber dann hörte sie ein übereifriges Japsen, was er jeden Morgen veranstaltete, wenn er auf sein Futter wartete. Aurelia folgte den Lauten und hoffte, dass er sich nicht im Grabungsfeld verletzt hatte. Sie stieg über das Flatterband und trat an den Rand des sandigen Forschungsareals. Smirty sah aufgeregt zu ihr hoch und steckte dann seine Nase in ein ovales Loch in der sandigen Wand. Wie sie Smirty kannte, hatte er dort gebuddelt, weil es etwas zu riechen gab. Aurelia sprang hinunter. So gut der Mond ihr dabei half, das Loch zu untersuchen, so dunkel blieb trotzdem sein Innerstes, also fasste sie vorsichtig hinein. Außer einer kleinen wulstigen Form weit im Innern war nichts zu spüren. Als sie ihre Hand im Mondlicht betrachtete, war sie rötlich gefärbt. Aurelia erschrak. Sie rieb beide Hände aneinander, um den Sand abzustreifen, mit dem Resultat, dass nun auch die andere Hand gefärbt war. Smirty schnupperte an dem Loch und sie roch an ihren Händen, aber da war kein Geruch. Sie nahm Smirty an die Leine, kletterte aus der Grabungsstätte und ging sofort nach Hause. Unterwegs rieb sie ihre Hände an der Hose, aber die Färbung blieb. Sie kannte Verfärbungen der Haut von Holunderbeeren, die sie für ihre Oma pflückte, die daraus Saft machte. Aber was dort in dem Erdloch steckte, könnte Tausende von Jahren alt sein. Das ängstigte sie plötzlich. Würden ihre Hände für immer rot bleiben? Hoffentlich hatte sie sich nicht ins Gesicht gefasst. Zu Hause angekommen, ging sie gleich ins Badezimmer und sah im Spiegel eine tadellose Gesichtshaut, doch die Verfärbungen an ihren Händen ließen sich nicht abwaschen. Sie versuchte den ätzenden Toilettenreiniger, selbst der versagte. Auch ihre Mutter wusste keinen Rat. Da Aurelia keine Schmerzen hatte, wollte man bis zum nächsten Morgen warten, um zum Arzt zu gehen.

Das purpurne Tuch

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