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Epilog

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Paris, Freitag, 6. Oktober, 16.30 Uhr

Der Hof strahlte eine beklemmende Stille aus. Einige Männer liefen wortlos auf und ab, andere unterhielten sich im Flüsterton in kleinen Gruppen. Auf einer treppenförmigen Tribüne saßen über ein Dutzend finstere Gestalten auf verschiedenen Ebenen. Es war offensichtlich, dass die jeweilige Sitzposition auf den Stufen einer strengen Rangordnung folgte. Ganz unten war das Fußvolk, das jeden, der sich der Tribüne näherte, entweder davon abhielt, oder nach Zustimmung von Männern höherer Stufen, zu genau diesen passieren ließ. Die Aufgabe dieser Männer der mittleren Ebene war es, jegliches Begehren vorab zu prüfen und die weitere Passage zu gewähren. Ebenso waren unter ihnen zweifelsfrei Beobachter, die jedwedes Treiben auf dem Gefängnishof überwachten und analysierten, um es dann wiederum nach oben zu melden.

Auf der vorletzten Stufe saßen zwei Adjutanten, die das Geschehen organisierten und befehligten. Sie standen sehr wohl mit dem Mann, der über allem thronte, in Kontakt, blieben aber ehrfurchtsvoll auf ihrer Sitzposition unterhalb.

Alle Angehörigen dieser geschlossenen Organisation waren mehr oder weniger eindeutig russisch-slawischer Abstammung. Bei manchen war dies nicht so augenscheinlich, aber alle waren klar von den anderen Gefangenen abzugrenzen, die größtenteils arabischer oder schwarzafrikanischer Herkunft waren und sich ebenfalls in Gruppen zusammenfanden. Es schien nur wenig neutrale Insassen zu geben, die sich nicht einer dieser Gruppierungen zuordneten, was ihr Dasein in der Justizvollzugsanstalt nicht eben leichter machte.

In diesem Gefängnisblock saß eine illustre Mischung aus Gewalt- und Wirtschaftsverbrechern, Betrügern aller Art, Fälschern und Erpressern ein. Alle Gestalten auf dem Hof beäugten sich gegenseitig misstrauisch, keiner traute dem anderen und war jederzeit auf der Hut. Jeder belegte in der entsprechenden Gruppierung einen Rang, auf dem er absolute Loyalität geschworen hatte und wähnte sich dadurch zumindest von einer Seite in Sicherheit. Die kriminelle Vergangenheit und die dazugehörigen Kontakte, sowie die Zeit, die diese Männer im Gefängnis verbracht hatten, hatten sie größtenteils zu gewaltbereiten Menschen gemacht, vielleicht noch mehr, als sie vorher schon gewesen waren. Um in dieser Welt aus Drogen, Selbstmorden und Vergewaltigungen zu bestehen, musste jeder hier seine hässlichste Seite nach außen kehren.

Das Pariser Stadtgefängnis in der Rue de la Santé war einerseits bekannt für seinen Block Drei, den sogenannten VIP-Bereich, wo schon so manche Berühmtheit eingesessen hatte, andererseits aber auch für seine teils inhumanen und mittelalterlichen Verhältnisse. Auch wenn die Guillotine hier 1972 das letzte Mal zum Einsatz gekommen war, waren die Zustände immer noch haarsträubend. Schmutz und Ungeziefer, winzige Zellen, sowie brutales Vorgehen der teilweise bestechlichen Bediensteten prägten den Gefängnisalltag. Auch journalistische Enthüllungen in jüngerer Vergangenheit hatten nichts an dieser Situation geändert, hatte die Politik in ihrem harten Vorgehen gegen die Kriminalität doch die Mehrzahl der Bürger auf seiner Seite. Das Gefängnis war zwar vorübergehend geschlossen worden, aufgrund des Mangels an Unterkünften für Kriminelle hatte man es jedoch ziemlich schnell wieder reaktiviert. Man verzichtete zwar von da an auf eine Aufteilung nach Herkunft, wie sie vorher praktiziert worden war, die katastrophalen Verhältnisse blieben aber die alten.

Je mehr Respekt man sich insofern in diesem Knast bei Wärtern und Insassen erarbeiten konnte, desto erträglicher konnte das Leben hier sein und desto ungestörter konnte man seinen Geschäften innerhalb, aber auch außerhalb der Gefängnismauern nachgehen.

Und so hatte es auch der Mann ganz oben auf der Treppe geschafft. Bullig gebaut mit verschlagenem, aggressivem Blick regierte er über seine Gefolgschaft und diesen Gefängnisblock. Keiner der anderen Insassen wagte es, seine Autorität in Frage zu stellen, würde er doch innerhalb weniger Stunden einen unerwarteten Unfall erleiden, wahrscheinlich mit tödlichem Ausgang.

Von seinen Untergebenen wurde der alte, grauhaarige Mann mit der unverwechselbaren tiefen Narbe über dem linken, blinden Auge nur Staryy Medved, alter Bär, genannt. Keiner der Insassen kannte seinen tatsächlichen Namen, aber das war auch nicht notwendig. Sie kannten und fürchteten seine Macht, nicht nur in diesem Block oder Gefängnis. Sein Einfluss und seine Herrschaft reichten weit über die Mauern hinaus. Das hatte er mehrfach unter Beweis gestellt, auch den Wärtern gegenüber. Auch sie folgten größtenteils respektvoll seinen Anweisungen.

Hätte er es gewollt, wäre der alte Bär auch schon längst aus diesem dreckigen Loch verschwunden, unauffindbar für die Polizei oder irgendwelche Konkurrenten, die ihm nach dem Leben trachteten. Weder hier in Frankreich, noch in den anderen Ländern, in denen er seine Anhänger hatte und seine Organisation nahezu unbehelligt betreiben konnte. Ein Großteil der überall gefürchteten und brutalen russischen Mafia in Europa wurde durch ihn regiert und kontrolliert. Fast in jedem der ertragreichen Länder von Spanien bis vor Russlands Grenzen hatte er führende Gefolgsleute, die alle auf den Fahndungslisten von Interpol wiederzufinden waren. Aber nur die wenigsten wurden gefasst und in diesen Fällen auch innerhalb weniger Tage problemlos ersetzt. Die kriminellen Aktivitäten seiner Organisation reichten von Raubüberfällen, Erpressung, Menschenhandel und Prostitution bis hin zu Auftragsmord. Quasi alles was die Polizei länderübergreifend zu bekämpfen versuchte.

Staryy Medved selbst war wegen Mitwirkung in einer kriminellen Organisation und Befehligung mehrerer Gewalttaten verurteilt worden, eine aktive Beteiligung an den Taten konnte man ihm nicht nachweisen. Acht Jahre hatte er bekommen, davon waren drei bereits abgesessen.

Schon nach kurzer Zeit hatte er alles Notwendige für eine Flucht veranlasst und nach zwei Jahren war der Tag des Ausbruchs gekommen. Aber just zu diesem Zeitpunkt hatte man ihn in einen anderen Block verlegt und zu einem völlig unbekannten Insassen in eine Zelle gesteckt. Offiziell hieß es wegen guter Führung und seiner Sozialverträglichkeit, der offensichtliche Platzmangel in dem überfüllten Gefängnis war aber wohl der wahre Grund gewesen. Die Einzelhaft war für gewalttätige Insassen reserviert. Aber auch seine neue Unterbringung war ursprünglich eine enge Einzelzelle gewesen, nur dass sie jetzt mit zwei Häftlingen besetzt wurde.

Anfangs hatte der Russe protestiert, alle Beziehungen aktiviert und Hebel und in Bewegung gesetzt, um seine Einzelzelle zurückzubekommen, aber dies war nicht so schnell möglich gewesen. Man hatte aber sein Anliegen prüfen und bei Entspannung der ausgeschöpften Kapazitäten darauf zurückkommen wollen. Das bedeutete, nicht innerhalb der nächsten Monate.

Sein neuer Zellengenosse war Franzose gewesen, nichtslawischer Abstammung, mit einem durchtriebenen Blick, aber er hatte sich überwiegend wortkarg zurückgezogen, so dass er kein großer Störfaktor gewesen war. Seine Geschäfte erledigte der alte Bär ohnehin auf dem Gefängnishof mit seinen Handlangern und dafür blieb ihm Gelegenheit und Zeit genug, nicht zuletzt wegen der großzügigen Überweisungen auf das ein oder andere Konto der aufsichtführenden Wärter.

Wären da nicht die seltsamen und immer wiederkehrenden Träume des Franzosen gewesen, in denen er wiederholt im Schlaf gesprochen hatte, hätte Staryy Medved seine Fluchtpläne schnell wieder aufgenommen. Aber das nächtliche Gemurmel seines Mithäftlings hatte ihn an seine eigenen Träume erinnert und deshalb überaus neugierig gemacht. Und so hatte er sich bemüht, den scheinbar undurchdringlichen Schutzpanzer, den der kleine Franzose um sich aufzubauen versuchte, zu knacken, um ihm näher zu kommen. Hilfreich dabei war ihrer beider Vorliebe für das Schachspiel und sie lieferten sich anfangs so manche schweigsame Partie mit unterschiedlichem Ausgang.

Anfänglich hatte sich der glatzköpfige Mann mit der Hakennase gegen die Versuche, sich ihm kommunikativ zu nähern, gesperrt, aber der alte Bär war ein Meister der Manipulation und hatte es binnen weniger Wochen geschafft, dass sich sein neuer Freund ihm völlig öffnete.

Der Franzose war kein geringerer als Philippe Renard, der ehemals mächtige Geheimdienstchef der französischen Staatssicherheit, der wegen Landesverrats und mehrfachem Mord eine lebenslange Gefängnisstrafe abzusitzen hatte. Aus seiner Sicht völlig zu Unrecht. Dies allein machte ihn schon zu einem idealen Kompagnon für den Russen, um sein Beziehungsgeflecht weiter auszubauen. Mit Sicherheit hatte Renard immer noch seine geheimen Fäden aktiviert. Aber viel spannender waren tatsächlich die Informationen gewesen, die er im Traum von sich gegeben hatte und die der alte Bär zu ordnen versuchte. Nach und nach hatte er sich in den intensiven Vier-Augen-Gesprächen mit dem Franzosen an das Thema heran getastet, der nur widerwillig dazu Auskunft geben wollte. Aber die Optionen, die Renard von seinem russischen Kameraden aufgezeigt bekam, nämlich einen Weg aus dem Gefängnis und als sein Partner in Freiheit agieren zu können, machten ihn redseliger als er das ursprünglich vorhatte.

Und so erfuhr Staryy Medved von einer magischen Uhr, die Renard tatsächlich auch schon kurzzeitig in der Hand gehalten hatte. Der sein Vater schon auf der Spur gewesen war. Die fast hundert Jahre verschollen und plötzlich wieder aufgetaucht war. Die einen Blick in die Vergangenheit gewähren konnte, welchen Zeitpunkt man auch immer darauf einstellte. Die ungeahnte Macht bedeutete. Und die sich derzeit wahrscheinlich in den Händen eines Amerikaners in Deutschland befand.

Gelegentlich hatte der Russe das Gefühl gehabt, der arabische Mitinsasse mit den vielen Goldzähnen, der immer die Zeitungen brachte, hätte sie belauscht. Auffällig häufig war er plötzlich erschienen, um seine Magazine und Zeitungen vom Vortag anzupreisen. Daher hatten sie die Gespräche ins Freie verlegt, wo sie von den russischen Befehlsempfängern abgeschirmt werden konnten.

Philippe Renard war inzwischen der Verbündete des alten Bären geworden, er war der Einzige, der auf der hierarchischen Treppe im Gefängnishof auf seiner Stufe neben ihm Platz nehmen durfte. Dort, wo sie sich unbelauscht zu dem einzigen Thema, das sie derzeit beschäftigte, austauschen konnten. Und dem Franzosen war die offenbar steigende Ehrerbietung ihm gegenüber anzumerken, seine Haltung war immer aufrechter und seine Offenheit grenzenlos geworden. Obwohl Staryy Medved ihn ausquetschte wie eine Zitrone, um auch noch an die letzte Einzelheit des Geheimnisses heranzukommen, schien Renard nicht zu erkennen, dass er nur missbraucht wurde und in Wirklichkeit keinerlei reelle Chance auf eine ebenbürtige Partnerschaft mit dem Russen hatte. Aber in seinem Fanatismus, die magische Uhr betreffend, war er blind, besessen von der Möglichkeit, sie zurück zu erlangen.

Ein schriller Signalton erklang und beendete damit den heutigen Freigang der Gefangenen. Der stärker werdende Nieselregen machte dies zu einem nicht allzu bedauernswerten Umstand und die Häftlinge drängten sich zu dem Tor, das sie ins Trockene ließ. Nur zwei Männer verharrten auf ihren Plätzen ungeachtet des feuchten Wetters und ungehindert vom Wachpersonal.

Auf der obersten Stufe der Tribüne startete nun ein weiterer Abschnitt eines endlosen Gesprächs, das mehr einem Verhör glich, nur der Verhörte empfand das nicht so. Er sah die Unterhaltung eher als eine erneute Chance ausschweifend über sein Lieblingsthema zu sprechen, seine Sicht der Dinge zu äußern und Pläne zu schmieden. Doch war ihm nicht bewusst, dass er an diesen Plänen selbst gar nicht teilhaben würde.

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