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ОглавлениеBevor die Sonne unterging, wollte Caruso unbedingt selber noch einen Blick auf den Toten werfen, »um sich ein Bild zu machen«, wie er sagte. »Nutzen wir den Tag, solange es hell ist.« Meinem Hinweis, da gäbe es nichts zu sehen, hielt er entgegen, jeder gute Ermittler fange mit der Untersuchung der Leiche an. Ich erklärte ihm, dass wir Stephanus bereits untersucht hatten.
»Das ist nicht das Gleiche.« In Carusos Tonfall schwang die Widerspenstigkeit eines Halbstarken mit. »Es bleibt unsere letzte Chance. Morgen ist die Beerdigung.«
Schließlich willigte ich ein, auch wegen des Gefühls, vielleicht doch etwas übersehen zu haben. Wir schlenderten zum Eingang der Sakristei, warteten, bis zwei Mönche an uns vorbei waren. Ich drängte mich durch die Tür, Caruso folgte. Im Innern des Raums roch es nach Weihrauch, Kerzenwachs und Mottenpulver. An der Wand eine Kommode und ein Schrank, an einer Kleiderstange hingen Messgewänder. Eine zweite Tür führte in die Kirche. Vorsichtig öffnete ich einen Spalt und schob meinen Rüssel hindurch. Die Luft war rein, kein Mensch zu riechen. Das Licht der Fenster tauchte das Kirchenschiff in ein Halbdunkel, aus dem sich erst allmählich die Konturen der Gegenstände schälten. Vor uns lag der Altar, die Marmorplatte war mit Samt abgedeckt. Darauf standen eine Ablage für Bücher und zwei Kerzenständer aus Messing. Hinter dem Altar, in der Apsis der Kirche, erhob sich ein Kreuz mit einer überlebensgroßen Jesusfigur. Der Künstler hatte die Wundmale und das Blut des Leidenden naturalistisch aufgemalt, selbst die Nägel durch Füße und Arme waren nicht wie die Figur aus Holz, sondern aus Eisen. Die Dornenkrone schien aus richtigen Zweigen geflochten, der Lendenschurz, ein Stück Leinenstoff, wirkte zerschlissen. Der Seitenaltar zeigte ein Ölgemälde des heiligen Antonius, gerahmt von vergoldeten Säulen. Vor ihm kniete eine junge Frau und betete. Ein Schwein, unsere Vorfahrin Helena, stand daneben. In einer anderen Nische befand sich eine Figur, wohl die Jungfrau Maria, um deren Sockel ein Geflecht aus Trockenrosen gewunden war.
»Irgendwie unheimlich.« Caruso stand vor dem Hauptaltar.
»Das liegt daran, dass du noch nie in einer Kirche gewesen bist. Hierher kommen die Menschen, manche zumindest, um zu beten und gemeinsam einen Gottesdienst zu feiern.«
»So was wie ’ne Party?«
»Nun ja, zu Essen und Trinken gibt es schon etwas. Wenn auch nur Miniportionen. Und die Musik ist gewöhnungsbedürftig.«
Wir wandten uns dem Objekt unseres Interesses zu. Vor den Stufen des Altars standen zwei Schemel, darauf lag ein Fichtensarg. Der Deckel fehlte. Stephanus ruhte auf einem Seidenkissen, seine Hände waren gefaltet und hielten ein Kreuz. Jemand hatte die Lippen zu einem Lächeln modelliert, den Kopfverband abgenommen, Wunde und Haare gereinigt. Puder überdeckte den Wachston der Haut. Der Mönch strahlte eine Frische aus, wie ich sie vorher nie bei ihm bemerkt hatte. Erstaunlich, welche Mühe sich die Menschen gaben, ihresgleichen nach dem Tod schöner erscheinen zu lassen. Plagte das schlechte Gewissen? Zu Lebzeiten war es vielen egal. Obwohl es die Spezies eigentlich schätzen müsste, keinen Pickelgesichtern und fettigen Haaren zu begegnen. Wir Schweine pflegen unseren Körper und unser Gesicht ständig, jeden Tag, komme was wolle. Das steckt in unseren Genen. Deshalb sehen wir auch besser aus als die Menschen. Und das ganz ohne Hautcremes und Lippenstifte.
»Sieht aus wie eine der Heiligenfiguren.« Caruso beugte sich über den Toten. »Ist dir das Gelbe an den Innenseiten seiner Finger aufgefallen?«
»Kommt vom Rauchen. Vom Nikotin. Stephanus hat selbstgedrehte Zigaretten geraucht.« Mir fiel der penetrante Nikotingeruch in Stephanus’ Essen ein, den ich mir immer noch nicht erklären konnte. »Wobei ich nicht weiß, welchen Tabak er verwendet hat. Muss eine kräftige Mischung gewesen sein. Wahrscheinlich haben seine Zähne ebenfalls gelblich-braune Ablagerungen.«
»Meinst du?« Noch ehe ich etwas sagen konnte, hatte der Junior die Lippe des Mönches nach oben gezogen. »Stimmt genau. Gelbe Zähne.«
»Bist du noch bei Trost? Du kannst doch den Toten nicht einfach so anfassen!«
Aber das Malheur war schon geschehen. Die Lippen hingen nun nach unten und verliehen Stephanus einen Gesichtsausdruck, als sei er beleidigt.
»Sieh, was du angerichtet hast! Dich kann man auch keine Minute aus den Augen lassen.« Meine Stimme hallte von den Wänden wider. Der Christus am Kreuz sah unserem Treiben mitleidig zu.
»Tut mir leid, Leonardo, wirklich. Ich mach’s sofort wieder gut.« Caruso wartete meinen Protest gar nicht erst ab, sondern versuchte, wieder ein Lächeln auf den Mund des Toten zu zaubern. Doch seine Hufe rutschten ab und verschoben den Kopf des Leichnams zur Seite.
Ich unterdrückte einen Fluch. Bei Esus, unserem Schweinegott! Was hatte ich mir nur gedacht, der Idee des Juniors zuzustimmen. »Keiner darf merken, dass wir uns an dem Leichnam zu schaffen gemacht haben. Wir bringen die Sache in Ordnung und verschwinden wieder.«
»Schon gut, schon gut.« Caruso wirkte zerknirscht. »Wie wird der Kopf jetzt wieder gerade? Ich könnte versuchen, die ... «
»Nichts tust du! Du rührst dich nicht von der Stelle. Lass mich mal sehen.« Das Gesicht war nun wie bei einem Schlafenden zur Seite gedreht. Die Bitternis der Lippen war geblieben. Was, wenn Stephanus jetzt plötzlich die Augen öffnete und zu reden anfinge? Sich über unsere Behandlung beschwerte? Ich schüttelte mich, sah schon Gespenster. »Wir heben den Kopf an und drehen ihn. Besser gesagt, ich probiere es alleine.« Vorsichtig versuchte ich, meinen Huf unter das Kopfkissen zu schieben. Aber so ging es nicht, ich musste näher ran. Neuer Versuch. Der Schädel hob sich.
»Jawohl! Nur noch wenige Zentimeter. Dann hast du’s!« Der Junior klang, als wollte er einen Gewichtheber im Sportstadion anfeuern.
Ich drückte fester. Zu spät bemerkte ich, dass ich mich mit dem Körper gegen das Holz lehnte. Dann passierte alles gleichzeitig: Der Sarg geriet in Bewegung, ich stieß einen Schrei aus, Caruso sprang zur Seite, ich versuchte, die sterblichen Überreste des Mönches festzuhalten. Vergebens. Mit einem Rums kippte der Sarg zur Seite, die Schemel fielen um, der Leichnam rollte heraus und blieb auf der Seite liegen, den Kopf zu mir gedreht. Bildete ich es mir nur ein, oder sah Stephanus noch ärgerlicher aus als vorher? Verdenken konnte ich es ihm nicht.
»Schöne Bescherung.« Caruso trat neben mich.
»Allerdings.« Ich betrachtete, was ich angerichtet hatte. »Es hilft nichts, wir müssen ...« Da fiel mein Blick auf den Rücken des Toten. »Was ist denn das?«
In dem Leichenhemd hatte sich etwas verhakt. Eine Rose, die Blätter zerdrückt, die Stacheln drückten in den Stoff.
»Die Menschen legen doch Blumenschmuck normalerweise gut sichtbar auf den Sarg und verstecken ihn nicht«, sagte Caruso.
Ich nickte. Jemand hatte eine Rose in den Sarg gelegt. Entweder bevor Stephanus eingebettet worden war, oder danach. Was wiederum bedeutete, dass sich jemand wie wir an dem Toten zu schaffen gemacht, ihn zur Seite gedreht und die Rose unter seinem Rücken platziert hatte. Wie auch immer, dieser Jemand wollte nicht, dass die Rose entdeckt würde. Aber welchen Sinn ergab ein heimlicher Abschiedsgruß? Oder hatte die Blume eine ganz andere Bedeutung?
Für weitere Überlegungen blieb keine Zeit, denn es wartete viel Arbeit auf uns. Nach einer Stunde war es uns gelungen, den Toten wieder in den Sarg zu rollen und den Sarg zurück auf die Schemel zu wuchten. Nur mit der Optik taten wir uns schwer. Die gefalteten Hände wollten uns nicht so recht gelingen, und die Kopfhaltung und die Lippen brachten wir auch nicht hin. Wir beide hatten die Lust verloren. Nichts wie raus hier!
Am nächsten Morgen läuteten die Glocken zur Beerdigungsfeier. Schon von Ferne merkten wir, dass etwas nicht stimmte. Die Mönche standen in kleinen Gruppen vor der Kirche und redeten wild durcheinander.
»Ein Wunder, es ist ein Wunder«, sagte Gabriel gerade.
»Der Herr hat uns ein Zeichen gesandt.« Tettamonti faltete die Hände vor seinem Bauch.
»In der Tat ein Wunder«, riefen andere Mönche.
Nach einer Weile konnten wir die Ereignisse aus den Unterhaltungen herausfiltern: Gabriel hatte die Messe in der Kirche vorbereiten wollen. Beim Anzünden der Kerzen waren ihm an dem Toten Veränderungen aufgefallen, er glaubte es zumindest. Er rief seine Fratelli zusammen, und die gemeinsame Inspektion ließ keinen Zweifel zu: Stephanus musste sich in der Nacht bewegt haben. Seine Hände wiesen nach oben, die Mimik, der leicht geöffnete Mund drückten Strenge aus, als hätte der Verblichene gerade eine Mahnung ausgesprochen.
»Wir müssen einen Brief nach Rom schreiben, ein Wunder ist geschehen, und wir alle sind Zeugen«, sagte Gabriel.
»Stephanus wollte uns bestimmt noch etwas mitteilen, uns warnen, uns zur Abkehr vom Weg der Verdammnis bewegen«, sagte Tettamonti.
»Ich habe immer gewusst, dass mehr in Stephanus steckt. Ein Heiliger, wahrhaftig ein Heiliger«, sagte Habiatus.
»Nur die Ruhe, liebe Fratelli.« Aviano hob die Hände. »Keine voreiligen Schlüsse. Vielleicht gibt es ja doch eine ganz natürliche Erklärung für den Vorgang.«
»Ich glaube nicht an ein Wunder.« Lavellos Stimme brachte seine Fratelli zum Verstummen. »Denkt daran, wir haben Gäste. Neugierige Gäste. Laufen überall herum und mit Vorliebe an Orten, wo sie eigentlich nicht sein dürften. Wahrscheinlich hat jemand die Casa del Signore betreten und sich an unserem lieben Mitbruder zu schaffen gemacht. Gott wird den Sünder strafen.«
»Glaubst du? Also doch kein Wunder?« Die Enttäuschung in den Stimmen war nicht zu überhören.
»Nein, kein Wunder«, sagte Lavello mit fester Stimme.
»Ihr habt es gehört. Schluss jetzt mit der ungehörigen Diskussion.« Der Abt wies zum Eingang der Kirche. »Wir wollen nun von unserem lieben Bruder Abschied nehmen und zu Gott beten.«
Außer den Mönchen besuchten auch die Gäste den Gedenkgottesdienst. Caruso und ich huschten zwischen Orchidea Lucca und ihrem Mann Salvatore in die Kirche. Die Gestalt des Hausmeisters wirkte neben seiner Frau noch gedrungener. Beim Gehen ruderte er seltsam mit den Armen, als müsste er gegen einen Sturm ankämpfen. Das schwarze Haar war knapp gestutzt, die Anzugjacke spannte über dem Bauch. Feine Äderchen durchzogen sein Gesicht, die Haut war wie Schmirgelpapier. Zu allem Überfluss benutzte er ein Rasierwasser aus Zedernöl, eine Beleidigung für jeden zivilisierten Rüssel. Ob er sich den Sud selbst ansetzte? War es ein sizilianisches Geheimrezept, von Mafiosi erfunden, die sich damit auch in der Dunkelheit wiedererkannten und sich ein heimlich geflüstertes Kennwort sparten?
Bis zum Ende der Zeremonie blieben wir am Seiteneingang der Kirche sitzen. Mit uns wartete ein Mann mit einem Pferdefuhrwerk, die Ladefläche ausgefegt, das Holz poliert. Er musterte uns, dann spuckte er aus und drehte sich weg. Vermutlich hatte der Abt einen Bauern samt Gespann für das letzte Geleit engagiert. Der Friedhof lag außerhalb der Klostermauern auf einer Anhöhe im Wald und war nur über einen Feldweg zu erreichen.
Die Tür ging auf, und zum hellen und klaren Geläut der Totenglocke erschien Aviano mit einem Kreuz in der Hand. Die Mönche hievten den Sarg aus der Kirche, dessen Deckel ein Nelkenbukett schmückte. Sie schoben ihre Last auf das Gespann, der Trauerzug setzte sich in Bewegung, und die Mönche folgten in Zweierreihen, ein Lied singend. Eleonora schloss sich der Prozession an, ebenso Melissa Fini, die Buchhändlerin.
»Wird eine Weile dauern, bis die wieder zurück sind«, sagte Caruso.
»Eine Stunde mindestens«, antwortete ich.
»Gute Gelegenheit.«
»Für was?« Mein Misstrauen war erwacht.
»Ähh, ich denke, wir sollten die Chance nutzen.«
»Chance?«
»Nun tu nicht so.« Der Junior sah mich an. »Wir sind längst nicht fertig mit unserer Arbeit.«
»Arbeit? Welche Arbeit?« Ich ahnte, worauf der Kleine hinaus wollte.
»Ermittlungen eben. Wir wollen doch einen Todesfall aufklären. Da braucht es noch einige Untersuchungen. Jetzt, wo die Mönche alle außer Haus sind, haben wir Ruhe, um ...«
»Du hast recht. Nur Herumstehen hilft uns nicht weiter.« Eigentlich hatte ich die Nase voll nach unserem gestrigen Missgeschick und wäre wenn, dann lieber ohne Caruso losgezogen. Doch ihn würde ich bei seinem Eifer nicht so schnell loswerden können. Andererseits – ich erinnerte mich an meine eigenen Worte Tiffany gegenüber – wer, außer uns Schweinen, sollte sonst den Menschen auf die Sprünge helfen, wenn diese Spezies überfordert war? Wir erinnern uns doch alle an den Eber Mathesian, der im 17. Jahrhundert im britischen Ort Woolsthorpe lebte und seinem Nachbarn Isaac Newton anhand herunterfallender Äpfel demonstrierte, wie das Gravitationsgesetz funktionierte? Was den Gelehrten nicht daran hinderte, spätere Warnungen Mathesians zu ignorieren und ein Vermögen mit Börsenspekulationen zu verlieren.
Zugegebenermaßen war die Gelegenheit wirklich günstig und meine Neugierde kitzelte mich. »In Ordnung, ich begleite dich. Aber du musst meinen Anweisungen gehorchen. Damit du nicht noch mehr Unfug anstellst.«
»Wer von uns beiden hat denn den Sarg ...«
Mein Blick brachte Caruso zum Schweigen. Manchmal half bei Widerborstigkeit nur Autorität. Wir beschlossen, den Mönchstrakt noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Der erste Stock roch nach Scheuermittel. Jemand hatte Stephanus’ Zimmer gereinigt, den Boden gewischt, die Bettwäsche gewechselt, sogar die Fenster geputzt. Der Schrank war leer, die Bücher fehlten. Nichts wies mehr darauf hin, dass hier noch vor Kurzem ein Mensch gewohnt hatte. In der Ecke beim Bett bemerkte ich einen feinen Geruch. Einige Tabakkrümel, wohl beim Drehen der Zigaretten heruntergefallen. Eine seltene Tabaksorte. Ich nahm den Geruch mit meinen Sensoren auf und prägte ihn mir ein.
»Von wo ist die Steinfigur eigentlich hinuntergefallen?« Caruso wandte sich zur Tür. »Ob da jemand von oben nachgeholfen hat? Wäre das möglich gewesen?«
»Gute Frage.« Und eine Frage, die mich ebenfalls beschäftigte. So unwahrscheinlich wie es war, dass sich der Heilige von selbst von seinem Sockel gelöst hatte, wäre es schlechte Detektivarbeit gewesen, von vorneherein auszuschließen, dass jemand die Figur gelockert und mit einem Schubs nach unten befördert hatte, als Stephanus vorbeiging. Soweit ich mich erinnerte, lag ein Fenster in der Nähe des Simses. Wir gingen auf den Gang – ich versuchte mich zu orientieren, wie weit das Fenster von der Seitentür entfernt war. Ich deutete auf die erste Tür rechts, genau gegenüber von Stephanus’ Zimmer. Caruso klopfte an die Tür.
»Bist du verrückt? Was soll das? Glaubst du, jetzt ruft jemand ›Herein‹? Du machst alle auf uns aufmerksam«, zischte ich.
»Zum einen gehört sich das so. Das habe ich bei den Menschen gesehen. Zum andern wissen wir gleich, ob jemand drin ist oder nicht.«
»Das hätten wir mit Lauschen viel einfacher rausgekriegt.«
»Nicht unbedingt. Wenn der Bewohner geschlafen hätte ...«
»... und wenn er nicht geschlafen, sondern die Tür aufgemacht hätte? Welchen Spruch hättest du dann vom Stapel gelassen? Ich geb’s auf. Mit Logik ist dir anscheinend nicht beizukommen. Sieh lieber nach, ob abgesperrt ist.«
Wie die anderen Räume war auch dieses Zimmer nicht abgeschlossen. Schon beim Betreten wusste ich durch den Geruch von Desinfektionsalkohol und Ringelblumencreme hindurch, wem das Zimmer gehörte: Lavello. Die Aufteilung war die gleiche wie bei Stephanus: ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, zwei Stühle und ein Betschemel. Und doch strahlte der Raum mehr Gemütlichkeit aus. Vielleicht lag es an den Blumen in der Vase. Vielleicht an dem Bild, das eine Gebirgslandschaft im Sommer zeigte. Oder an dem Obstkorb – ein Farbtupfer aus Orangen, Feigen und Bananen. Wir schauten aus dem Fenster. Der Sims, auf dem die Steinfigur gestanden hatte, war deutlich zu erkennen. Die Wand der Nische entlang zogen sich einige Striche, wie Kratzer im Mauerwerk.
»Ein wenig zu weit entfernt, um die Figur mit den Händen zu erreichen«, sagte ich.
Caruso nickte. »Lavello müsste sich schon mit dem Oberkörper hinausgebeugt haben. Oder er ist auf das Fensterbrett geklettert.«
»Langsam, langsam.« Ich überlegte. »Wir haben noch überhaupt nicht an die Variante gedacht, dass die Figur von alleine heruntergefallen und am Boden zerbrochen sein und sich dann jemand unten einen der Brocken genommen und als Schlagwaffe benutzt haben könnte.«
»Warum sollte der Täter auf solche Zufallsfunde vertrauen? Er konnte kaum wissen, dass gerade die passenden Steine herumlagen.«
»Na ja, vielleicht haben die Brocken dort ja schon eine Weile gelegen, die Figur muss ja nicht erst gestern runtergefallen sein. Allerdings gebe ich dir mit deinem Zweifel recht: Der Hintereingang bietet kein Versteck für einen Überraschungsangriff. Stephanus hätte sich sicher gewehrt, wenn jemand mit einem Stein in der Hand auf ihn zugegangen wäre und zum Schlag ausgeholt hätte.«
»Also deutet alles auf Lavello«, sagte Caruso.
»Nein, mein Kleiner, ganz so einfach geht das nicht mit der Detektivarbeit. Noch wissen wir nicht, ob es Lavello war. Die Mönche scheinen ja keine Türen abzuschließen, sodass theoretisch jeder in sein Zimmer gekonnt hätte.« Möglicherweise hat derjenige sich Hilfe genommen, um die Figur hinunterwerfen zu können. Eine andere Person beispielsweise. Oder ein Werkzeug.
Ich sah mich im Zimmer um. Einen Stuhl als Hebel zu benutzen, erschien mir zu unhandlich und zu auffällig. Ich schätzte die Höhe des Stuhls ab. Er reichte nie im Leben bis zu der Figur. Ein Kleiderbügel war ebenfalls zu kurz. Hinterm Schrank entdeckte ich einen Besen. Wir besahen uns den Schaft. Am Ende des Stocks, auf einer Länge von 15 Zentimetern, helle Kratzer.
»Wo kommen die her?«, fragte Caruso.
Wir sahen uns den Kratzer genauer an. Mir kam eine Idee. Ich packte den Besen mit dem Maul und stellte ihn ans Fenster. Es war kein Zweifel möglich: Die Farbe war die gleiche wie die Farbe der Außenmauer.
»Die Spuren stammen eindeutig von der Mauer. Jemand hat mit dem Besen hantiert, dabei ist Farbe hängen geblieben. Es scheint, als hätten wir das Werkzeug gefunden«, sagte ich. »Denn warum sonst sollte sich jemand mit einem Besen an der Außenwand zu schaffen machen?« Ein simples, aber wirkungsvolles Instrument. Vermutlich hatte derjenige den Schaft als Hebel am Rücken des Heiligen angesetzt. Das sparte Kraft und erklärte die Kratzer am Stock und auf der Mauer.
Wir stellten den Besen wieder an seinen Platz. Zwar waren wir bei unseren Ermittlungen ein Stück weitergekommen, doch es fühlte sich nicht so an. Der Besen lieferte leider keinerlei Hinweis auf einen möglichen Mörder, wir waren nicht schlauer als vorher. Ob Lavello den Besen geschwungen hatte oder ein anderer Mönch, und aus welchen Motiven – wir wussten es nicht.
Gerade wollten wir den Rückzug antreten, als sich die Tür öffnete. Bei unserer Diskussion hatten wir alle Vorsicht fahren lassen und nicht mehr auf unsere Umgebung geachtet. Ein dummer Fehler! Die Tür schwang vollends auf, und Dominik Hellenbart stand vor uns. Er blickte verdutzt, als er uns sah, zauberte jedoch gleich ein Lächeln auf sein Gesicht.
»Huuh, was habt ihr mich erschreckt! Ich war gerade auf der Suche nach Stephanus’ Zimmer, wisst ihr?« Er hielt inne. »Ihr könnt mich nicht verraten, hahaha. Das ist gut. Denn Stephanus hatte etwas für mich aufbewahrt. Etwas Wichtiges. Wäre zu peinlich gewesen, wenn mich ein Mönch gesehen hätte.« Er ging zu Caruso und strich ihm über den Rücken. »Andererseits, was soll ich ein unnötiges Risiko eingehen? Eure Chefin sagt, ihr seid extrem kluge Tiere. Wisst ihr, was man mit lästigen Zeugen macht?« Sein Lächeln geriet schief. »Man beseitigt sie. Er zeigte auf mich. »Am besten, ich sperre euch hier ein, dann bekommt ihr den Ärger und landet bestenfalls auf Habiatus’ Schlachtbank. Was habt ihr überhaupt hier drin zu suchen? Ich könnte Aktentaschen aus eurem Leder produzieren lassen und mit weißen Streifen einfärben. Das sieht aus wie echtes Zebra. Ideal für die gehobene Kundschaft, die das Ungewöhnliche sucht, hahaha.«
Statt einer Antwort ließ ich meine Hauer aufblitzen, gekrönt von einem Brummen. Noch ein Wort, und ich ...
Hellenbart wich einen Schritt zurück. »Nicht gleich so hitzig. Ihr versteht wohl keinen Spaß, was? Obwohl ich die Idee mit dem Zebra gar nicht so schlecht finde.« Damit verschwand er.
Was zum Teufel hatte Hellenbart in Stephanus’ Zimmer zu suchen? Hatte er sich wirklich in Lavellos Zimmer verirrt oder war es Absicht? Woher kannte er die Mönche überhaupt so gut, er, der sich doch erst kurz vor uns im Kloster einquartiert hatte? Und was fürchtete er so sehr, dass er meinte, zwei Trüffelschweine dafür aus dem Weg räumen zu müssen? Auf einmal hatten wir das, wonach wir eben noch gesucht hatten: einen Verdächtigen.