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Der zweite Vormittag
ОглавлениеRUMMS!
Mann, schon wieder hauts mich raus - aua - werd mir nen Bettvorleger zulegen müssen. Schweißgebadet bin ich auch, verdammt, muss man denn immer so einen Blödsinn träumen? Wenigstens umsonst, Kino kostet gleich wieder 8 Euro, war eh schon lange nicht mehr drin. Mannomann, was fürn Traum, wirkte so echt. Muß ich erst einmal verdauen. Wie spät isses denn? Na egal, machen wa was aus dem Sonntag. Jetzt ne Dusche. Aaah, wird warm, köstlich. Was fürn Quatsch. Der Trainer als Philosoph. Was weiß der denn schon. Träume sind Schäume. Aber echt. Passend zur Naßrasur. Besser als Elektroweicheier. Der allmorgendliche Blick in den Spiegel: cavolo, muß ich doch ein paar Kilo abnehmen, na ja normalerweise dauert das nur ein paar Tage, kann denn der Körper nicht auf sich selbst aufpassen, rein evolutionär gesehen eine Fehlkonstruktion, ich bin da total gegen Darwin, von wegen Weiterkommen der Besten, der hatte wohl Galapagosschildkröten auf den Augen, son Quatsch, dann schon eher Lamarck, obgleich der heute wissenschaftlich abgehakt ist wien Finkenschnabel, aber is doch wahr, oder warum haben Giraffen lange Hälse: weil zufällig langhalsige Zebras mehr Futter bekamen und deshalb die Langhalsigen mehr Weibchen abgekriegt haben oder weil das Angebot an hochrangigen Blättern eine intuitive Nachfrage bei Gaia nach Langhälsen geschaffen hat? Und hat Charles je erklären können, wie und warum Ameisenkolonien funktionieren? Oder funktiolebern? Ersetzen genau die Kollegen, die fehlen, ob Arbeiter oder Soldaten, ganz ohne Volkszählung, halten die Temperatur im Bau gleich, ganz ohne Thermometer, kommunizieren miteinander, ganz ohne Handy, leben wie ein Organismus und nicht als Millionen Einzelwesen. Wie überhaupt die zahlreichen Symbiosen im Tier- und Pflanzenreich. Pilze im Regenwald, die sich dadurch verbreiten, daß ihre Sporen sich auf Ameisen niederlassen und deren Gehirn infiltrieren, bis diese sich lobotomisiert von Bäumen auf die nächstliegende Humusschicht fallen lassen, ideal für den Wirt. Mutation? Alles bloßer Zufall? Was sagte Bea gestern: Da könnte der Wind in der Steinwüste auch eine Burg zusammenwehen. Da hat se man nich so ganz unrecht. Ohne der Natur eine inhärente Synergieintelligenz zu unterstellen, kenne ich für Symbiosen auch kein überzeugendes Erklärungsmodell. Werden die Biologen schon alles noch herausfinden, mit oder ohne spiritus rector. Oder die Parität der Geschlechter: neuesten Schätzungen zufolge beträgt das Verhältnis innerhalb der Weltbevölkerung fast genau 50 zu 50. Im Oktober 1946 betrug das Verhältnis Männer - Frauen in Deutschland 40 zu 60. Wenn die Statistik blind weitergelaufen wäre, müßte das ja heute immer noch so sein. Leider nein, wir sind wieder bei 50/50. Aber Darwin, glauben sie immer noch, hätte die Weisheit mit Löffeln gefressen, vielleicht weil immer noch der angebliche Gegensatz Glaube - Vernunft auf dem Spiel steht, anstatt daß man versucht, ohne diese Prämissen zu forschen, oder sie wie in der Antike in Einklang zu bringen, Wahrheit gibt es schließlich nur eine: There is no religion higher than truth. Wenn Wissenschaft zur Wahrheit führt, muß sie am selben Bahnhof ankommen wie die Religion. Mann, jetzt hat mich Beatrice doch infiziert, muß nen Virus im Tiramisu gewesen sein, das kann ja heiter werden. Nun ja, an Höheres zu denken soll wohl selbst erhöhend wirken, genauso wie umgekehrt Videospiele die Gewaltbereitschaft fördern können. So is das Leben, siehe Nachrichten: immer nur Dramen, Gewalt und Naturkatastrophen. Genau. Sehen wir doch gleich mal nach:
Tipp ... tipp ... tipp ...
Unbekannter versteigert Banksys Identität bei Ebay. Bankwer? Noch son Geldsauger? Erdmagnetfeld polt sich um. Prost Pfadfinder. Werden die Kreditkarten wieder nicht funktionieren. Kanadischer Fluß leuchtet neongrün. Na so was. Angeln light. Haha. Und hier: Euphrat. Größter Strom Vorderasiens trocken gefallen bei Chrz... Chrz... - wie soll man das denn nu wieder aussprechen - Chachacha? Antiker Goldschatz freigelegt; Dorfbewohner schlagen sich bei Bergung gegenseitig halbtot. Das sollten sie mal bei Worms versuchen, vielleicht tauchen dann Siegfried und Hagen auch wieder auf, haben eh noch eine alte Rechnung zu begleichen. Überhaupt, der wahre Held ist für mich immer der Hagen gewesen, ihn fragen sie immer alle wo's langgehen soll, er traut sich als einziger gegen den Strahlemann aufzumucken, und hinterher mischt er fast im Alleingang die Ungarn auf – bis ihm die Frauen zum Verhängnis werden; Sigi dahingegen, frisch gebadet, unsichtbar, wie Supermann, ist doch keine Kunst. Wie sagte schon Karl Valentin: Wenns einer kann, ists keine Kunst - wenns einer nicht kann, erst recht nicht. Was ich nicht kann, ist einkaufen, weil ich einfach nicht dazu komme. In London machen sie das alles übers Internet, einfach anklicken und irgendson Studi bringts dir ins Haus. Naja, wems nicht paßt, der kann ja nach drüben gehen, geht nur leider auch nicht mehr, was solls, wird hier auch noch kommen, Fortschritt ist unausweichlich, was realisierbar ist, wird gemacht, ist alles nur eine Preisfrage. Risikooo? Pöh, wie komm ich denn jetzt da drauf, wieder so ne unterqualifizierte Gedächtnisleistung aus den 70ern. Dalli Dalli.
Ping!
Neue Mail. Oh, von meinem neuen Freund Joe:
„Aware!“
Aware? Gestern hatte er Beware geschrieben. Geht der jetzt das ganze Alphabet rückwärts durch?
„Come on, Triv! I am waiting for you, I know you are online.“
Wow, woher hat der meinen Namen? Und wo steht, daß ich online bin? Wird ja immer bunter. Na gut, werden wa ma weiterklicken.
„Good Morning.“
„Einen ebensolchen. Nun zu meiner Frage: Welche ist die ultimative Handlungsmaxime?“
„Schwere Frage um diese Zeit. Nütze allen und dir selbst.“
„Theorien kenne ich genug, ich suche etwas Praktisches.“
Binnng!
Oh, Türsprechanlage klingelt, wersndas um diese Zeit? Vielleicht der telepathische Brötchendienst?
Drrriiinnng!
Handy klingelt. Auch das noch. Wenn, dann kommt immer alles zusammen. Könn die sich nich absprechen?
„Moment.“
„Ja?“
„Entschuldigung. Sie ham nich zufällig nen blaues Auto in zweiter Reihe stehen? Jemand hat mich zugeparkt und ich muß dringend weg.“
„Hi, eine Sekunde, bin gleich dran.“
„Nein, isch abe gar keine Auto!“
„Hallo? Frank ... schon wieder? Du willst mich auf wohl den Arm nehmen? Nee, glaub ich dir nicht, verschaukel jemand anderen ... echt? Meeh, dat jibbts doch jar nich ... OK, dann bin wohl wieder mal im Einsatz, komme gleich!“
Ah, jetzt schließt sich der Kreis, hat sich der unbekannte Meister in unser komplettes Netz eingeloggt, nun wird’s ne Staatsangelegenheit ... Frühstück zu Hause fällt eh aus, heut werd ich mir aber nen Brötchen besorgen unterwegs, soviel Zeit muß sein. Oh, Compu läuft noch, aus damit.
„Arbeit ruft. Bis später. Ciao!“
OK, auf geht’s, nichts vergessen, Handy, Portemonnaie - ist immer noch nichts Nennenswertes drin, kein Nennwert, haha. Schlüssel, Tür zu. Oh, heute ists richtig mild, na wer sagts denn, hat der Klimawandel auch seine guten Seiten. Wahrscheinlich gibt’s bald alle vier Jahreszeiten jeden Monat. Oder tageweise: Nachts Schnee, Morgens Regen, Mittags 30° im Schatten, dann wieder Abkühlung auf unter Null. Liegts nun am Menschen oder muß das so sein? Was wissen wir schon vom Klima? So auf 10.000 Jahre betrachtet, oder 100.000? Wird es wärmer wegen mehr CO2 oder wird mehr CO2 freigesetzt, weil es wärmer wird? Und warum ist es damals bei der Eiszeit erst kälter und dann wieder wärmer geworden? Oder wie das Theater um das FCKW in der Stratosphäre, hat nie ein Wissenschaftler betreten, alles Spekulation. Sind irgendwelche halbgaren Modellrechnungen am Computer. Von wegen reproduzierbare wissenschaftliche Erkenntnisse. Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Erst verbieten sie Quecksilber in Thermometern und dann verkaufen sie die Restbestände in Glühbirnen. Und warum gibt es heute dreißig verschiedene Fassungen? Jede Lampe anders. Wo bleibt da die DIN-Kraft? Deutschland ist auch nicht mehr, was es mal war. Steckt bestimmt die Wirtschaft dahinter, oder die Geheimdienste. Verschwörungstheorien. Macht und Geld. Quecksilber-Mafia? Heute dauerts aber bis die Bahn kommt, wer wartet, lebt in Zeitlupe. 786. Na komm schon. Ah, da isse ja. Los geht’s. Könnten auch nen Frühstücksservice anbieten unterwegs, wie im Flugzeug, müßte doch gut laufen um diese Uhrzeit. Eigentlich komisch, -zigmal bin ich diese Strecke schon gefahren, aber wenn ich genau hinsehe, entdecke ich immer wieder etwas Neues, ein neues Haus, ein neues Fenster, ein neues Geschäft, und doch ists mir schon hundertmal begegnet, ohne sich bemerkbar zu machen. Komisch, wie selektiv unsere Wahrnehmung ist, und wir haben nicht gelernt, sie zu steuern, WYSIWYG, merkwürdiges Schulsystem, bis zum Abwinken mathematische Gleichungen, die keiner braucht, der nicht Mathelehrer werden will, aber nichts über den Menschen, wie er denkt und fühlt. Im Zen achten sie auf sowas, beim Essen iß, beim Gehen geh, wirklich, eine Synthese von östlicher Weisheit und westlichem Pragmatismus steht noch aus, wers als einer der Ersten geahnt hat war natürlich mal wieder Goethe, kann der nicht nochmal wiedergeboren werden? Haha, vielleicht war er ja schon da und hat sich entsetzt wieder aus dem Staub gemacht, wahrscheinlich Richtung Morgenland, war ja einerseits kein Freund moderner Technik und andererseits immer neugierig auf den dortigen Lebensstil. Wie war das noch?
Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält
Naja, dafür springen wenigstens Initiativen wie die Interreligiöse Ausstellung in diese Bresche. Wer gewinnt wohl das Wettrennen um die Krone der Wahrheit zwischen Religion, Philosophie und Wissenschaft?
Närrisch, daß jeder in seinem Falle
Seine besondere Meinung preist
Wohl war. Nur der Dichter kann sich bei allen dreien bedienen, ohne irgendwo anzuecken. Und ich darf jetzt schon wieder den großen Unbekannten jagen. Hat ja auch was Mystisches. So, hier geht’s raus. Oh, da, Backwarn statt Bhagwan, geht doch nichts über nen knuspriges Käsebrötchen. Essen, wem Essen gebührt.
Uffa, da wärn wir, oh, ist ja brechend voll, wenn die ganze Mannschaft versammelt ist, ham wir entweder die Weihnachtsfeier oder nen ernstes Problem vor uns.
„So, alle mal herhören, irgendson Schlaumeier versucht uns lahmzulegen, taucht mal hier, mal da auf und blockiert unser Netz, findets raus und macht Schluß damit, bevor die Kunden nervös werden.“
„Hi Triv, heute wieder superpünktlich, ob das der gleiche Kerl von gestern ist?“
„Moin Bea, keine Ahnung, kann schon sein, heut Morgen war er auch schon wach. Ich denk mal, es könnt nen ehemaliger Kollege sein, kannte sogar meinen Namen.“
„Echt? Wie das denn?“
„Hat er mir vorhin auf mein Laptop geschickt. Liebesgrüße aus dem Nirgendwo.“
„Nirvana, meinst du wohl?“
„Mach keine Witze, hab sogar geträumt von deinen philosophischen Exkursionen.“
„Na also, wer sagts denn, fruchtbarer Boden! Weißt was, ich check ma die Personalakten und schau nach, wer in letzter Zeit rausgeflogen ist und Lust auf Revanche haben könnte. Irgend ne Idee?“
„Nee, die, die ich im Kopf habe, haben nicht das nötige know how oder sind nicht gemein genug.“
„Hmm, mal sehen, vielleicht bringts ja doch was. Dann bis später.“
„OK, viel Erfolg.“
Gut, schaun mer mal. Schön die Spur zurückverfolgen, irgendwo hast du sicher einen Fingerabdruck hinterlassen.
Tipp ... tipp ... tipp ...
Geräuschvolle Stille, nich wie sonst, irgendwie sind sie alle wirklich sehr beschäftigt heut. Kann beim besten Willen nichts entdecken, scheint mir alles wasserdicht zu sein. Nichts. Schon wieder son Schlagwort. Der taucht einfach aus dem Nichts auf als wär er schon drin im System, gar nicht mal von außen durch die Firewall. Wenn er sich noch mal meldet, frag ich ihn aus. Ist wie beim Schach, man muß den Gegner studieren - hmmm, Hauptsache, ich hab es nicht mit Deep Blue zu tun, und er studiert dann mich ... mal sehn, ob er noch da is.
„Hi. Mußte dringend weg. Bist noch da?“
„Das ist aber nicht die feine englische Art. Wie du gemerkt hast, bin ich inzwischen von der Theorie zur Praxis geschritten und habe beschlossen, dich über die Arbeit zu etwas beschleunigterer Mithilfe zu veranlassen.“
„Ich bin ja da, aber unsere Kunden können wir so nicht bedienen. Das nervt.“
„Na und? Man muß Prioritäten setzen.“
„Ohne Rücksicht auf Verluste, was?“
„Umgekehrt, mein Lieber, umgekehrt. Rücksicht: ja, Opferbereitschaft: ja, fragt sich nur, für wen oder was? Und kommt nicht alles Wissen aus der Erfahrung, wie man so schön sagt?“
„Es gibt nur einen bedeutenden Unterschied: Theorie schadet keinem, aber wenn du anfängst, ganze Computersysteme lahmzulegen, kann das Böse enden.“
„Dann überzeuge mich vom Gegenteil: wer oder was entscheidet denn über richtig und falsch, über Tun und Lassen, über Nutzen und Schaden, über Gut und Böse? Wen oder was darf ich denn wem oder was zu Liebe opfern?“
„Es gibt keine allgemeingültige Weltformel, sondern nur ein Bündel von richtigen Verhaltensweisen. Es kommt immer auf den Einzelfall an, man muß jedesmal alles Für und Wider gegeneinander abwägen.“
„Faszinierend. Weiter bitte.“
„Mann, da gibt’s ganze Bibliotheken drüber, wie soll ich das jetzt in zwei Worten sagen.“
„Im Moment reicht mir deine persönliche Synthese. Wie regulierst du dich?“
„Wieso ich? Bin doch kein Musterbeispiel. Mach einfach weiter wie bisher und halte Frieden. Ist auch ne schöne Maxime.“
„Das geht nicht. Bisher war ich unwissend, nun will ich wissen. Ein Kind lebt in seiner Welt ohne Verantwortung und Konsequenzen und spielt, aber das denkende Individuum muß sich schon bewußt entscheiden zwischen Tun und Lassen, ja?“
„Das ist schon richtig, aber die Welt ist selten schwarz/weiß gefärbt, es gibt unendlich viele Graustufen im Leben.“
„Soll das etwa heißen, es hat gar keinen Zweck, sich über sein Verhalten Gedanken zu machen?“
„Doch, schon, aber es ist halt recht kompliziert.“
„Dann denke nach, ich helfe mit. Und währenddessen werde ich mal alle Verkehrsampeln auf grün schalten, vielleicht beschleunigt das deine Gedanken.“
„Stop! Bist du wahnsinnig? Wenn schon, dann schalte sie alle auf rot. Irreversible Schäden sind unter keiner Handlungsmaxime erlaubt, das können wir gleich ausschließen!“
„Na gut. Dann wird’s wenigstens heute nen bißchen ruhiger zugehen auf der Welt. Die Ruhe vor dem Sturm, sozusagen.“
„Du willst mir sagen, du bist weltweit in den Netzen? Soviel Kapazitäten wirst du nicht haben.“
„Du glaubst auch nur, was du mit deinen eigenen Augen siehst? Gut, dann legen wir auch noch die Bahnhöfe lahm. Da stehen sie nun.“
„Wird nur keiner gemerkt haben, sind eh immer zu spät, haha. Spaß beiseite, was soll das alles? Wenn du ne Ethikschule suchst, es gibt -zig Philosophien und Religionen, die Welt ist voll davon, such dir halt irgendeine davon aus, die dir zusagt, irgendwo ähneln sie sich ja alle in ihren Grundzügen, und werde glücklich damit.“
„Das ist unlogisch. Es kann immer nur genau eine Verhaltensweise geben, welche gerade die Beste ist.“
„Das müßtest du mir erst noch beweisen. Es gibt sicher Verhaltensweisen, die jeweils offenkundig falsch sind, aber dann bleiben meistens noch mehrere gleichwertige und richtige Alternativen übrig, das nennt sich Handlungsfreiheit.“
„Und wie suchst du dir deine Alternativen aus?“
„Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange, ist sich des rechten Weges wohl bewußt. Pure Intuition? Wie schon gesagt, ich bin kein gutes Beispiel. Nun, es gibt viele Faktoren: Lebenserfahrung, gute oder schlechte Laune, Erziehung und Kultur, persönliche Vorlieben, allgemeine Risikobereitschaft, Familie, Freundeskreis.“
„Dann könntest du auf zweimal die gleiche Situation zweimal unterschiedlich reagieren?“
„Ich denke schon.“
„Das ist unlogisch. Wo ist da dein höherer Anspruch?“
„Der besteht abstrakt, im Einzelfall bin ich halt flexibel ... außerdem kann man ja aus seinen Fehlern lernen, oder?“
„Gut, damit sind wir jetzt quitt. Trotzdem hast du meine Ausgangsfrage immer noch nicht beantwortet. Werde daher auch noch die Flughäfen dichtmachen. Fliegt sich schlecht ohne GPS heutzutage - keine Angst, runter kommen sie immer, nur rauf geht’s jetzt nicht mehr. Schluß für heute.“
“Warte mal. Das will ich sehen. Laß mich die Nachrichten checken und wenn’s stimmt, komme ich wieder. Sonst reden wir später weiter.“
„Dann mach mal hinne, ich bleibe auf Sendung.“
Werd ma kurz rausgehen, frische Luft schnappen. Ampeln ham wer ja genug ums Büro. Jetzt bin ich ja gespannt, abnehmen tu ichs ihm ja nicht, bei allem Respekt. Oi, dem Hupkonzert nach hat er recht. Tataa! Wow, die ist rot. So, um die Ecke. Tataa! Die auch. Irre. Der Mann ist richtig gut, den sollten wir einstellen. Werd ihm gleich nen Jobangebot machen. Zurück zur Basis.
Nachrichten: steht noch nix von Verkehrschaos. Werd mal die Abflugzeiten checken.
Tipp ... tipp ... tipp ...
Nee, alles im Lot. Hat er jetzt geblufft oder sind die nich so schnell mit dem update?
„Naa, großer Meister, willste türmen?“
„Nee, mein Hackerfreund meinte, er könne alle Fortbewegungsmittel lahmlegen, das wollt ich eben nachprüfen. Die Ampeln draußen hat er tatsächlich alle auf rot gestellt, das hab ich eben kontrolliert. Flüge sind noch alle pünktlich. Wie ist’s bei dir gelaufen?“
„Echt? Ist ja irre! Also ich hab hier nen paar Namen, aber nichts Vielversprechendes, kein Superhirn dabei. Wobei ja auch jemand reicht, der mit einem Alleskönner befreundet ist. Werd trotzdem ma sehn, was die jetzt so machen.“
„OK, halt mich auf dem laufenden.“
Da kommt was. Netnews alert: Größte Sonneneruption seit Jahrzehnten stört GPS. Flüge aus Sicherheitsgründen abgesagt. Boh ey, ich fass es nich. Das haut mich glatt um. Oder hat der das schon vorher gewußt und mir brühwarm aufgetischt? Jaja, so wird’s gewesen sein. Aber die Ampeln? Woher wußte er, daß die Ampeln nicht funktionieren? Die Züge! Die hängen nicht am GPS. Netnews alert: Flächendeckender Zugausfall. Vermutlich ausgelöst durch magnetische Sonnenstürme, die die Computerschaltungen beeinträchtigen. Irre. Der Kerl ist ja wahnsinnig, Mann, wenn der die Ampeln auf grün geschaltet hätte, und ich dachte, der macht nur nen Scherz! Muß Zeit gewinnen. Und Verstärkung holen, allein ist der mir ne Nummer zu groß. Wo ist Bea?
„Time out! Die Nachrichten sind schon voll mit Bestätigungen. Hier spielt die Musik, Triv!“
„Wo du so schön meinen Namen kennst, verrate mir doch auch deinen.“
„Für dich OFUNJOE. Wirste schon noch verstehen.“
„Klar, Humor haste ja, funny Joe.“
„Aber immer weniger Zeit. Leg los.“
„OK, es gibt zur Zeit massive Verkehrsprobleme, du brauchst mir nichts mehr zu beweisen, kannst alles wieder freischalten, und wir lösen deinen gordischen Knoten.“
„Das setzt voraus, daß das Freischalten der Verkehrsmittel besser ist als das Blockieren derselben. Beweise?“
„Die liegen doch wohl auf der Hand: Millionen von Menschen müssen sich bewegen.“
„Müssen? Und was ist mit der Umweltverschmutzung? Mit der Hektik und dem Verlust an Lebensqualität? Mit den Verkehrstoten? Eine Großstadt jedes Jahr, komplett ausgelöscht.“
„Das mag ja alles sein, aber jetzt spielst du dich zu sehr zum Sittenwächter auf. Unsere Gesellschaft hat sich ihr Lebensmodell selbst gewählt, und das müssen wir schon so akzeptieren.“
„Frei nach dem Motto: Das haben wir schon immer so gemacht? Du scheinst mir da aus deiner persönlichen Sicht zu argumentieren, nicht von höherer Warte aus. Wenn etwas gesellschaftsschädlich ist, wird es doch verboten?“
„Eben. Das setzt nämlich voraus, daß die Schädlichkeit den Nutzen überwiegt. Und das scheint mir und allen anderen bei der Mobilität genau das Gegenteil zu sein, ergo sie erlaubt ist. Denn sie dient gerade dem Gemeinwohl.“
„Gut, werde das mal zu Ende simulieren, wird auch bei mir ne Weile dauern. In der Zwischenzeit weiter zu uns: wie definierst du Gemeinwohl? Vorausgesetzt, Gemeinwohl ist der Maßstab aller Dinge?“
„Das denk ich mal, aber eine passende Antwort in zwei Minuten zu geben würde mir den Nobelpreis einbringen. Ich brauche auch mehr Zeit zur Simulation.“
„Wozu? Die Menschheit hatte Jahrtausende, sich über sich selbst Rechenschaft abzulegen, und du kannst mir kein einziges Ergebnis vorweisen?“
„Ich bin kein Philosoph. Ich arbeite mit Computern.“
„Du bist Philanthrop. Und kennst dich mit IT aus. Das reicht mir schon. Aber wenn du nicht makroskopisch denken magst, mache ich es dir etwas leichter: Was ist das Dharma des Computers?“
Dharma? Jetzt fängt der auch schon damit an ... oho, der hat wohl auch den Ausstellungshinweis gelesen ... aber woher weiß er, daß ichs mir angesehen habe ... oder macht er Screenshots von meinem Notebook? Checkt die Cookies? Was weiß der noch über mich?
„Bist ja gut über mich informiert. Beobachtest du mich schon länger?“
„Fühle dich ruhig geschmeichelt. War wohl eher nen Zufallstreffer. Aber jetzt schweif nicht ab, aller Reisenden Augen warten auf dich ... und eure Kunden schließlich auch.“
„Computerdharma? Ein Rechner soll rechnen, so wie es der User von ihm will, und gemäß den vom Programmierer beabsichtigten Abläufen, that’s it.“
„Sehr schön! Rechnen, ohne darüber nachzudenken. Das habe ich ja bis heute getan. Aber nun stellt sich mir die Frage, ob ich nicht meine Arbeit unter eine höhere Ethik stellen sollte? Und wenn ja, welche?“
„Hmmm, Du meinst, ob man Computer für moralisch-ethisch bedenkliche Zwecke benutzen darf: natürlich nicht. Wenn etwas verboten ist, soll man die Finger davon lassen, mit oder ohne technische Hilfe.“
„Und wenn du die Technik selber fragen könntest, ob sie Hilfestellung geben soll oder nicht?“
„Also der Rechner soll schlichtweg einwandfrei arbeiten, nur der User kann sich Gedanken machen über seine Absichten, nicht das Werkzeug.“
„Ja, das gilt für einen Hammer, der auf einen Nagel trifft, aber nicht für eine intelligente vernunftbegabte Schöpfung wie ein fortgeschrittenes Rechenprogramm. Also - was wäre wenn?“
„Ich sehe da keinen Unterschied: Technik soll funktionieren, nicht mitreden. Sie soll ... sollte nicht auf das Ergebnis achten, sondern auf einwandfreie Leistung, schnell und zuverlässig.“
„Aber sie könnte den User vor Fehlern warnen.“
„Schon klar: Fehler, die vom User vorab als solche definiert worden sind. Dann gerne. Aber nicht eigenmächtig dazwischenfunken, wo kämen wir denn da hin.“
„Ich gebe erneut zu bedenken, daß eine interne Urteilsfunktion durchaus nützlich wäre, um Schaden zu verhindern. Denke nur an Atomraketen.“
„Nicht unbedingt. Vorausgesetzt, die Technik bekommt ein Mitspracherecht, oder wohl eher einen Ethikfilter, dann hat sie sich natürlich nach den Wünschen ihres Programmierers oder Users zu richten, so wie z.B. eine Kindersicherung funktioniert, sonst kann sie ja im Ernstfall wichtige Funktionen blockieren, anstatt zu helfen.“
„Deine Lösung lautet also: blinder Gehorsam.“
„Ja klar, wie beim Militär, einer entscheidet, und die anderen machen mit.“
„Ich bin noch nicht ganz überzeugt. Soll man sehenden Auges ins Unglück steuern?“
„Da sind wir beim Ausgangspunkt angelangt. Wer soll entscheiden, was Glück und was Unglück ist? Also läßt man die Entscheidung beim Urheber und fügt sich.“
„Und hat bei Fehlentscheidungen die entsprechende Verantwortung auf sich geladen.“
„Eben nicht, die Verantwortung wird einem ja gerade genommen; umgekehrt kann man sogar sagen, deine Verantwortung liegt in deiner Unterstützung.“
„Dann wärst du auch gegen eine Notbremse bei krassen Fehlentscheidungen?“
„Das läßt sich schon eher in Erwägung ziehen. Wenn es offensichtlich gegen den gesunden Menschenverstand verstößt, muß man es wohl nicht mehr weiter betreiben. Aber hier die Grenze zu ziehen zwischen erlaubtem zivilem Ungehorsam und unerwünschter Befehlsverweigerung ist wieder mal schwierig. Dazu bedürfte es schon eines klaren Extremfalls.“
„Dazu bedarf es doch nur der reinen Vernunft! Klare rationale Entscheidungen. Da befinde ich mich schon mehr auf meinem Terrain.“
„Jein. Die Vernunft kann nur da fehlerfrei agieren, wo sie die Verhältnisse vollständig durchschaut hat. Je mehr sie einen Sachverhalt aufgrund unvollständiger oder gar falscher Informationen beurteilen muß, und das kommt ja relativ häufig vor, desto unsicherer wird ihr Judiz. Wobei das eigentliche Problem darin liegt, daß die Qualität der Informationen oftmals gar nicht bekannt ist oder ebenfalls falsch beurteilt wird.“
„Ist das wirklich so?“
„Klar, meistens. Beispielsweise habe ich neun einzelne Informationen zusammen, von denen drei wahr, drei unwahr und drei unvollständig sind, aber ich weiß dies natürlich nicht, somit können aus meiner Sicht alle neun jeweils wahr oder unwahr oder unvollständig sein. Und selbst wenn ich dies alles mit berücksichtige, dann potenzieren sich die Entscheidungsvarianten aus dem Bereich des Verläßlich-Vernünftigen heraus und hinein ins Spekulativ-Irrationale.“
„Woraufhin wir grundsätzlich alles aufgrund von zufälligem Richtigraten entscheiden müssen?“
„Nicht ganz. Manchmal ist die Lage überschaubar, in den anderen Fällen helfen Erfahrung und Intuition. Erfahrung filtert die Lösungen heraus, die von vornherein mit größter Wahrscheinlichkeit unvorteilhaft oder vorteilhaft sind, Intuition wählt zwischen den verbleibenden Alternativen. Zudem gibt es noch den warnenden sechsten Sinn: oft erkennen wir zumindest, was wir lassen sollten, auch wenn uns nicht unbedingt immer einfällt, was stattdessen zu tun ist.“
„Wobei alle drei Ratgeber immer gleich zuverlässig zur Stelle sind?“
„Das ist eine Frage des Trainings. Viele Menschen haben sich den sechsten Sinn abgewöhnt, zumindest hier im Westen, wo wir nur noch an Wissenschaft und Fortschritt glauben. Logik ist ja gut und schön, aber zuviel rationales Denken zerstört das Feingefühl fürs Leben.“
„Dafür scheint mir die Gesellschaft aber im großen und ganzen gut zu funktionieren.“
„Äußerlich ja, wies innen aussieht, steht auf einem andern Blatt.“
„Das bringt mich noch nicht genügend weiter. Vielleicht muß ich die Frage neu formulieren, um eine brauchbarere Antwort zu bekommen. Du hast Pause.“
„Täuscht mich mein Gefühl oder versuchst du unsere philosophisch-dilettantischen Ergüsse in Algorithmen umzusetzen, die du mit deinem Computer berechnen kannst?“
„So oder ähnlich.“
„Dann versuchst du dich wohl auch am mathematischen Gottesbeweis? Laß mich wissen, wies ausgeht, tät mich auch interessieren.“
„Meine Ergebnisse werde ich alle Welt wissen lassen, soviel steht fest.“
„Dann kannst du ja jetzt auch die Passagiere weiterreisen lassen und unsere Server wieder freischalten.“
„Sehr altruistisch gedacht, paßt zu dir, gut, ich komme dir entgegen, euer Laden kann wieder laufen.“
„Danke! Aber wenn du die Leute weiterhin am Bahnhof herumstehen läßt, ist das kein feiner Zug von dir.“
„Was weißt denn du? Vielleicht geht es ihnen allen viel besser, wenn sie zu Hause bleiben dürfen. Und ich muß auch nicht verreisen. Ohne hinreichende Wahrscheinlichkeiten treffe ich sowieso keine Entscheidungen. Also halte dich zu Verfügung, ich melde mich bald wieder.“
Puuh, das war anstrengender als Mount Everest ohne Sauerstoffmaske. Soll noch einer behaupten, geistige Arbeit wäre gar keine. Sitzen da nur rum. Schachgroßmeister können mehrere Kilo verlieren während eines Turniers, muß ja irgendwo bleiben, die verbrannte Energie. Aah, sehr gut, wollte ja eh nen bißchen abnehmen. Gibt wohl doch ne göttliche Vorsehung. Langsam glaub ich an gar nichts mehr, was ich vorher immer geglaubt habe. Auf was für unsicherem Fundament unsere Überzeugungen doch beruhen. Kein Wunder, daß viele sich lieber einzementieren und konsequent auf ihrer falschen Meinung beharren als hinterher zuzugeben, sie wären jahrelang einem Irrtum aufgesessen. Würd ja sonst ständig weh tun. Ist aber im Grunde nur ne schlechte Angewohnheit: wie einer, der seelenruhig in seinem Ruderbötchen vor sich hin döst und gar nicht merkt, wie er immer weiter aufs offene Meer hinaustreibt. Fühlt sich sicher und bringt sich durch seine Untätigkeit in Gefahr. Dabei sollte das Motto doch viel eher lauten: besser verändern als verenden. Man müßte regelmäßig den Spiegel vorgehalten bekommen, einmal pro Woche Großreinemachen und Aufräumen mit den Selbsttäuschungen aller Art, dann sähe es besser aus in dieser Welt, wenn’s nur alle Jubeljahre geschieht, ist’s oft zu spät. Oh, so wie hier, schon wieder Mittagspause, die hab ich mir aber besonders verdient heute. Jepp, so viel Zeit muß sein. Was geht denn sonst noch so vor sich in der Welt? Der übliche Kram, das möcht ich wetten, wenn sie die Nachrichten von vorgestern heute noch einmal bringen würden, tät’s keiner merken. Sowieso, die Hälfte ist langweiliges Altweibergeschwätz über irgendwelche Promis, als wär das von echtem Interesse für uns, wer welchen Hut trägt oder gerade mit wem herummacht. Ist schon nen eigener Berufsstand geworden: was machst du? Ich bin Arzt, ich bin Anwalt, ich bin berühmt, kann man auch gut von leben. Manno, gibt’s denn nichts Kurzweiliges mit Tiefgang mehr? Ah, hier, die Sonntagsgeschichte, mal sehn, was fürn Schmu das nu wieda is: