Читать книгу Worauf die Affen warten - Krimi - Yasmina Khadra - Страница 10
5.
ОглавлениеDer Anblick der jungen Toten im Wald von Bainem geht Nora nicht aus dem Kopf. Und wenn sie sich noch so sehr auf die Menschen konzentriert, die die Gehwege bevölkern: Das leblose Gesicht umkränzt von Wildblumentuffs lässt sie nicht los. Das schrille Hupen ringsum peitscht ihr mit der Wucht einer Detonation ins Ohr.
»Bring mich bloß raus aus dieser Hölle!«, befiehlt sie ihrem Fahrer.
»Rush Hour, Chefin«, entgegnet der Fahrer, den das Verkehrschaos, das im gesamten Front-de-Mer-Sektor herrscht, nicht minder nervt.
»Dann nimm doch eine Abkürzung, verdammt!«
»Geht nicht. Sämtliche Straßen sind verstopft.«
Nora schaut auf die Uhr. Zwölf Uhr Mittag. Das Polizeipräsidium ist zwar nur ein paar Steinwürfe entfernt, doch die endlosen Autoschlangen bewegen sich kaum noch voran. Die wenigen Verkehrspolizisten, die sich mühen, das Chaos zu entwirren, sind heillos überfordert. Mancherorts agieren sie blindlings drauflos. Man hört schon von Weitem ihre Trillerpfeifen und das Gebrüll, mit dem sie die Verkehrsrowdys zur Ordnung rufen, ohne dass es ihnen gelänge, das Chaos auf der Straße einzudämmen.
»Gut«, disponiert die Kommissarin um, »dann setz mich zunächst bei mir zu Hause ab. Wenn der Verkehr sich beruhigt hat, kommst du mich holen.«
Der Fahrer nickt, zufrieden, umkehren zu können.
Nora kommt gegen halb eins bei sich an. Sie findet Sonia noch im Bett vor, die Augen verquollen vom Schlaf.
»Aufstehen!«, ruft sie ihr zu.
Sonia räkelt sich träge unter ihren zerwühlten Laken, ihr Haar ist zerzaust, ihre Züge zerknautscht. Brummend zieht sie sich das Kopfkissen übers Gesicht und fragt mit gedehnter Stimme: »Wie spät ist es denn?«
»Seit wann interessierst du dich dafür, wie spät es ist? Ich wette, du hast dich schon wieder mit Barbituraten vollgepumpt. Sieh dich doch mal an. Du siehst aus wie ein ranziges Omelett.« Wütend fegt Nora mit der Hand einen gelblichen Flakon vom Nachttisch. »Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass ich diese Scheißpillen nicht mehr bei mir sehen will.«
»Hey, was tust du da?«, protestiert Sonia. »Dieses Zeug kostet ein Vermögen.«
Nora zieht ihr das Laken vom Leib, um die Langschläferin zu zwingen, aufzustehen. Sonia ist völlig nackt, mit festen, hohen Brüsten und einem buschigen Venushügel. Die Spuren des Slips haben auf ihrer sonnengebräunten Haut ein winziges milchig-weißes Dreieck hinterlassen.
»Was soll ich denn deiner Meinung nach den ganzen Tag lang tun?«, schreit sie Nora an. »Du hast ja immer noch keinen Job für mich gefunden und verbietest mir, auf der Straße herumzuhängen. Ich bin doch nicht deine Geisel. Und auch kein Möbelstück. Ich nehme das Zeug, weil mir stinklangweilig ist. Du bist ja ständig im Einsatz – und ich? Ich versinke in bodenloser Langeweile.«
»Jetzt geh erst mal duschen. Das bringt dich auf frische Ideen.«
Sonia rappelt sich widerstrebend hoch und stützt sich schwankend an der Bettkante ab, mit einem Blick, der so unstet wie ihre Bewegungen ist. Sie ist eine hübsche junge Frau, schlank und rank, so um die dreißig. Mit achtzehn Jahren ist sie von zu Hause ausgerissen und hat schon alles kennengelernt: klamme Zeiten, anrüchige Bordelle, den Straßenstrich, dubiose Männerbekanntschaften und den Haftrichter. Die Narben und Brandspuren von Zigaretten auf ihrer Haut, die der makellosen Perfektion ihres Körpers Abbruch tun, erzählen von den Kalamitäten, die ihren Weg in den Abgrund säumten. Nora hat Sonia rein zufällig während einer Razzia kennengelernt. Sie war in einem Keller eingesperrt, wo sie von einer Bande von Vergewaltigern und Zuhältern gefangen gehalten wurde. Sie war in einem erbärmlichen Zustand, wurde gefoltert, stand unter Drogen und kurz davor, den Verstand zu verlieren, weil sie Nacht für Nacht Opfer wüster Vergewaltigungsorgien war. Man brachte sie in ein Krankenhaus, in dem sie mehrere Tage blieb, bevor sie in eine Spezialklinik verlegt wurde, wo Nora sie regelmäßig besuchte. Zwischen den beiden Frauen entspann sich eine Beziehung, und bald kam die eine nicht mehr ohne die andere aus. Nach einer Entzugstherapie zog Sonia bei Nora ein. Inzwischen wohnt sie schon drei Jahre bei ihr, aber in letzter Zeit bricht ihr Hang zum Ausreißen wieder durch. Sie kommt jeden Abend später zurück, ist betrunken, sieht verlottert aus und riecht nach den Ausdünstungen ihrer Gelegenheits-Lover. Sie ist kaum noch zu bändigen und droht damit, ganz von der Bildfläche zu verschwinden, wenn Nora ihr nicht mehr Freiheiten zugesteht.
»Ich muss dringend in den Beauty-Salon und was für mein Aussehen tun«, sagt sie stockend.
»Da kann ich dir leider nicht widersprechen«, bestätigt die Kommissarin betrübt.
Sonia reibt vielsagend Daumen und Zeigefinger gegeneinander: »Ich brauche Geld.«
»Was hast du denn mit dem gemacht, das ich dir gestern gegeben habe?«
»Ich hab’s verpulvert.«
»Glaubst du vielleicht, ich betreibe irgendwo eine Fälscherwerkstatt?«
»Das ist nicht mein Problem. Ich muss mein Haar in Ordnung bringen. Sonst muss ich mir die Knete halt wieder wie früher besorgen.«
»Bitte keine Erpressung.«
Sonia lacht ihr ins Gesicht, berührt sie leicht und provozierend mit der bloßen Schulter, klimpert herzerweichend mit den Wimpern und streckt ihr die Hand hin: »Na los, stell dich nicht so an, mein Engel.«
Nora unterdrückt einen Seufzer, dann gibt sie nach. Im Nu hat sich Sonia die beiden Scheine geschnappt, die Nora aus ihrem Portemonnaie hervorkramt.
»Ich frage mich nur, was aus mir geworden wäre, hätte die Vorsehung dich mir nicht auf den Weg gestellt«, säuselt sie, küsst sie auf den Mund und wankt in Richtung Badezimmer.
Noras Blick folgt ihr nach, gleitet über die harmonischen Rundungen ihrer Hüfte, verweilt auf Sonias prallen Pobacken, bis die Gefährtin hinter der Glastür verschwunden ist. Dann lässt Nora sich auf den Bettrand fallen, zündet sich eine Zigarette an und dreht sich versonnen zum Fenster um, vor dem aschfahl der Himmel hängt.