Читать книгу Worauf die Affen warten - Krimi - Yasmina Khadra - Страница 9

4.

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Das Taxi hält vor einer Art Herrenhaus, das sich inmitten eines großen, palmenbestandenen Gartens erhebt. Durch das schmiedeeiserne Tor sind ein Springbrunnen aus Stuck zu erkennen und eine mit rosa Kies bestreute, von Hortensien gesäumte Allee. Eine Freitreppe aus Granit führt unter dichtem Blattwerk auf eine Veranda mit frisch gestrichener Balustrade. Ein Schwarzer mit Turban gießt gerade Blumen. Mit seinem seidig glänzenden Gewand und seinen Babuschen wirkt er wie ein Geist aus Tausendundeiner Nacht.

Ed Dayem betrachtet einen Augenblick lang das prächtige Anwesen – das in einem früheren Leben die offizielle Residenz eines französischen Gouverneurs war –, dann springt er auf den Bürgersteig. Er zieht zwei Scheine aus seiner Tasche und reicht sie dem Chauffeur:

»Das Kleingeld kannst du behalten.«

»Welches Kleingeld, Brüderchen?«, schreit der Taxifahrer. »Das sind höchstens mal 80 Centime.«

»Behalt sie trotzdem. Gott wird es mir vergelten.«

»Wie soll ich meiner Frau davon ein Lifting spendieren?«

»Such dir ’ne neue Frau, Mann. Das wird um einiges billiger.«

Nachdem das Taxi außer Sichtweite ist, klingelt Ed Dayem am Gartentor. Ein anderer Schwarzer in der Tracht eines Kalifendieners öffnet ihm. Ed Dayem hat sich schon immer gefragt, warum manche der Millionäre von Algier Schwarze als Dienstboten wählen. Aus Nostalgie? Als Statussymbol? Vielleicht ja auch wegen beidem zugleich.

»Guten Tag, Si Dayem«, säuselt der Diener, während er das Tor öffnet und sich unterwürfig verbeugt.

»Guten Tag, Marouane. Der Chef erwartet mich.«

»Ich weiß. Bitte folgen Sie mir.«

Ed Dayem kennt sämtliche Domestiken im Haus von Hadsch Saad Hamerlaine: den Koch, den Chauffeur, den Gärtner, den Hausmeister und das Faktotum, alle fünf aus der Region von Touggourt, aus den Weiten der Sahara. Schwarze, die aus den benachteiligten Randzonen des Landes stammen und bereit sind, jede Arbeit anzunehmen, nur um nicht hungern zu müssen. Sie sind keineswegs Abkömmlinge von Sklaven, sondern echte Wüstensöhne, deren Vorfahren kühne Krieger und bedeutende Gelehrte waren, welche ruhmreiche Epochen erlebt haben, bevor sie durch Elend und Verfall vom Weg abgebracht und mit Haut und Haar den Fährnissen der Globalisierung ausgeliefert wurden. Aber das ist eine andere Geschichte ...

Ed Dayem überkommt immer ein Schaudern, wenn er in das gewaltige Anwesen von Hadsch Saad Hamerlaine vordringt. Er hat das Gefühl, durch ein Labyrinth zu irren, in dem Poltergeister ihr Unwesen treiben und sich abgrundtiefe Fallen auftun. Sogar das Tageslicht scheint sich zu scheuen, tiefer einzudringen. Kaum hat man den Kiesweg und die Veranda hinter sich gelassen, umfängt den Geist eine Finsternis, die sich nicht abschütteln lässt. Ed kann sich nicht erinnern, dass im Inneren jemals Licht gebrannt hat, nirgends leuchtete auch nur eine Decken- oder Stehlampe.

Der Lakai hastet einen Flur entlang, der von kolossalen Bodenvasen, Marmorkommoden und imposanten Spiegeln gesäumt ist.

Hamerlaine, der mit der erbarmungslosen Geduld einer Spinne an der Verfeinerung seiner Fallen strickt, verlässt seinen Bau nur sehr selten. Um sich das Leben in Autarkie zu erleichtern, hat er das Universum zu sich hereingeholt. Hat sich im Souterrain sogar einen ultramodernen OP eingerichtet, mitsamt Dialyseapparat, Zahnarztpraxis, und dazu einem Fitnessraum. Hadsch Hamerlaine gibt sich nicht damit zufrieden, ein vom Steuerzahlen befreiter Superstaatsbürger zu sein, er erlaubt sich auch, mit langen Fingern aus der Staatskasse zu schöpfen, wann immer ihn ein Gelüst überkommt. In Algerien nennt man dieses Privileg die »historische Legitimation«.

Die beiden Männer kommen vor einer Tür aus Ebenholz an. Der Lakai klopft an, wartet einen Moment, öffnet dann die Tür und zieht sich zurück.

Ed Dayem nimmt seinen ganzen Mut zusammen, um über die Schwelle dieses Saales zu treten, der ihn zu verschlingen droht.

Das Büro von Hamerlaine ist in der Tat sehr geräumig, mit hohen Decken und vornehm holzvertäfelten Wänden, an denen Gemälde von Meisterhand hängen, die vor derart langer Zeit dem Nationalmuseum entliehen worden sind, dass es keinem in den Sinn kommt, sie zurückzufordern.

Drei Viertel der Wände verschwinden hinter Bücherregalen, die sich unter voluminösen Wälzern und Enzyklopädien nur so biegen ... Hamerlaine hat im ganzen Leben noch keine Schule besucht, aber sobald seine offiziellen Funktionen ihm erlaubten, sich Privatstunden durch emeritierte Professoren zu leisten, hat er seine Wissenslücken aufgefüllt. Mit überragender Intelligenz und einem phänomenalen Gedächtnis ausgestattet, hatte er seine Lehrmeister bald eingeholt. Und kaum konnte er lesen, packte ihn ein solcher Lesehunger, dass er bis heute keinen Schlaf findet, wenn er nicht wenigstens ein halbes Buch pro Nacht verschlingt. Seine bemerkenswerte Gelehrsamkeit ließ ihn zu einer intellektuellen Instanz ersten Ranges werden. Das Problem, denkt Ed Dayem, liegt nur darin, dass die ganze Bildung ihn menschlich nicht über sich hinauswachsen ließ, geschweige denn ihn von dieser rückständigen Denkweise befreit hätte, die darin besteht, allem und jedem, der ihm nicht zupass kommt, Schaden zuzufügen. Hamerlaine kennt den Heiligen Augustinus ebenso gut wie Konfuzius, aber aus praktischen Gründen zieht er ihnen Kim Il-sung und Clausewitz vor, denn für ihn sind Krieg und Revolution jene beiden Konstanten, die es bis zum letzten Atemzug ständig neu zu erfinden gilt.

Im Raum ist es kühl. Kaum wahrnehmbar surrt eine Klimaanlage inmitten der strengen, totenstillen Möbel, die aus Pariser Antikläden stammen.

Ed Dayem bleibt minutenlang eingeschüchtert unter einem Kronleuchter stehen, der jeder Basilika zur Ehre gereichte. Seine Schuhe versinken im Flor des Perserteppichs. Bis heute kann er sich nicht erklären, warum ihn immer diese üble Beklemmung beschleicht, sobald er von einem rboba3 einbestellt wird. Er steht sie einfach nur durch, wie eine nervöse Schwangerschaft.

In Algerien muss man nichts zwangsläufig einen Verstoß begehen, damit der Himmel über einem zusammenbricht. Oft hängt das eigene Schicksal von einer willkürlichen Laune ab – und das Leben vom Griff zum Telefon.

Ed Dayem greift nach seinem Taschentuch und betupft sich Stirn, Hals und Mundwinkel. Seine Kehle ist ausgedörrt, sein Atem geht stoßweise.

Hinten im Raum rührt sich etwas. Der Sessel hinter dem Schreibtisch dreht sich um sich selbst. Hadsch Hamerlaine blickt seinem Besucher ins Gesicht.

»Sieh an, da sind Sie ja«, erklärt er. »Ich habe Sie gar nicht eintreten hören.«

Ed weiß, dass der Alte ihn anlügt. Er hat ihn mit voller Absicht warten lassen, um ihn unter Druck zu setzen. So behandelt er sie alle. Wie er auch absichtlich hinter seinem Schreibtisch sitzen bleibt, um seinen Gesprächspartnern nicht die Hand geben zu müssen. Der Alte ist ein Hypochonder. Nicht aus Größenwahnsinn hat er sich als Schutzschild einen Schreibtisch ausgesucht, der so breit wie die Kommandobrücke eines Schiffes ist. Es gibt ihm die Sicherheit, dass selbst der längste Arm nicht bis zu ihm herüberreichen kann.

Seine engsten Mitarbeiter behandelt Hadsch Hamerlaine kein bisschen anders. Mit dem Kinn weist er ihnen einen Stuhl in gehörigem Abstand an, bewilligt ihnen ein paar Minuten seiner kostbaren Zeit und verabschiedet sie dann eilends, ohne ihnen einen Kaffee anzubieten oder sich die Mühe zu machen, sie hinauszubegleiten.

Ed Dayem nickt kurz, um den Hausherrn zu begrüßen.

»Ich hätte in meine Faust hüsteln sollen, um Sie zu wecken!«, scherzt er, mehr um sich selbst Mut zu machen.

»Die Götter schlafen nie«, kontert Hadsch Hamerlaine.

»Ich wollte Sie nicht beleidigen.«

»Die eine oder andere Sünde kann ich schon vergeben, aber respektlose Sprüche nur selten.«

Ed Dayem steht kurz davor zusammenzuklappen. Ihm war klar, dass sein Rückzug nach Spanien ihm als unentschuldigtes Fehlen ausgelegt werden würde. Schlimmer: als Fahnenflucht. Und was ein echter Rboba ist, der hat einen heiligen Zorn auf jeden Deserteur. Und vor der Wut eines Rboba, da verblasst jeder Orkan. Jeder Halunke aus dem Dunstkreis der Macht könnte es einem aus eigener Erfahrung bestätigen, dass der Kuss eines Rboba ebenso tödlich ist wie der Biss von zehn Kobras.

Ed Dayem stützt sich an einer Stuhllehne ab und versucht, wieder Herr über seinen Atem zu werden.

»Setzen Sie sich doch, Eddie. Sonst kotzen Sie mir am Ende noch den Teppich voll.«

Ed Dayem sinkt auf den Stuhl. In der nächsten Sekunde wäre ihm der Boden unter den Füßen weggerutscht.

»Eddie, Sie Ärmster«, erklärt ihm der Greis mit einer Stimme, in der sich Vorwurf und Ermattung mischen, »fast hätte ich beim Pentagon eine Drohne geordert, um Sie ausfindig zu machen.«

»Ich brauchte dringend ein wenig Entspannung.«

»Das ist noch lange kein Grund, keine Adresse zu hinterlassen, an der man Sie kontaktieren kann. Sie sind ein Zeitungsbaron, mit Telepathie allein leitet man kein Presse-Imperium. Hier ändert sich ständig die Lage, da muss man unverzüglich reagieren. Und zwar richtig. Es ist Gefahr im Verzug, Mister Newspaper, und der Arabische Frühling macht es auch nicht gerade besser.«

»Glauben Sie mir, es ging mir wirklich nicht gut«, quetscht Ed hervor, um Versöhnung bemüht. »Es stand mir bis hier. Ich brauchte einfach eine Rückzugsmöglichkeit.«

»Na, wer sich heutzutage zurückzieht, hat meist den Rückwärtsgang eingelegt. Und wenn Sie meine Meinung wollen, dann sehen Sie zu, dass Ihre Probleme Sie nicht einholen.«

»Welche Probleme?«

»Ich!«, trompetet der Alte.

Fast hätte Ed Dayem sich an der eigenen Spucke verschluckt.

Der Alte klopft mit knochigem Finger gegen das Glas, das auf seinem Schreibtisch steht, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen:

»Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich nach meinen Dienstboten läute und sie nicht hereingespritzt kommen, bevor ich die Klingel auch nur aus der Hand gelegt habe.«

Hadsch Hamerlaine sieht so alt aus wie die Erbsünde. Das Erosionswerk der Jahre hat seine Haut in eine blasse Pergamentschicht verwandelt. Seine Augen sind tief in die Höhlen gesunken, abgründiger als jeder Hintergedanke, seine Nase hängt auf Halbmast aus seiner Leichenbittermiene. Der ganze Hadsch erinnert an eine Mumie, die man soeben aus ihrem Sarkophag gepult hat. Ed Dayem könnte schwören, dass der Greis seine Nächte in einer mit Formalin gefüllten Badewanne verbringt und seine Tage damit, auf seinem Thron vor sich hin zu dorren, sich beharrlich weigernd, angesichts der Bürde seines Alters, der Last seiner Vergehen abzudanken. Aber er weiß vor allem, dass dieses menschliche Wrack, dieser winzige Greis mit dem staubgrauen Teint nur einmal niesen muss, um einen Tsunami auszulösen.

»Soll nicht wieder vorkommen, Ehrenwort.«

»Das nächste Mal hätten Sie auch gar keine Zeit mehr, es zu bedauern, Eddie. Haben Sie mich verstanden?«

»Hundertprozentig.«

»Schön, das wäre also geklärt.«

Ed Dayem schlägt das rechte über das linke Bein, um entspannt zu wirken. In Wahrheit ist es die einzige Stellung, die er gefunden hat, um zu verhindern, dass sein Darminhalt sich auf den Boden ergießt. Er atmet einmal kräftig durch, so sehr, dass es seine Lungen fast zerreißt, und wartet mit pochendem Herzen, dass der Reptilienblick des Alten von ihm ablässt, damit er endlich den Knoten seiner Krawatte lockern kann.

»Möchten Sie etwas trinken, Eddie?«

Ed Dayem deutet das Angebot als Absolution, aber er fühlt sich in seiner Position noch zu geschwächt, um derlei bereits verdient zu haben.

»Einen Wodka Lemon vielleicht?«

»Nein, vielen Dank.«

»Sie sehen aus, als würden Sie gleich in Ohnmacht fallen.«

»Die Strapazen der Reise. Es gab auf dem Flug etliche Turbulenzen.«

»Kann ich mir denken. Aber ich brauche Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich wiederhole mich nur ungern.«

»Ich bin ganz Ohr, Monsieur.«

»Nun, das ist gut so, mein lieber Eddie, sehr sehr gut.«

Hamerlaine öffnet eine Schublade, fördert eine Flasche Wodka und ein Glas zutage, schenkt sich zwei Fingerbreit ein und leert es auf einen Zug aus. Ed erscheint der Moment günstig, um die Atmosphäre etwas aufzulockern. Er fragt:

»Haben Sie denn wieder angefangen zu trinken?«

»Das lass ich mir nicht nehmen!«

»Sollten Sie aber!«

»Und warum?«

»Sie sind doch gerade erst aus Mekka zurück, frisch geläutert, von allem reingewaschen. Der Herrgott ...«

»Man muss Gott geben, was Gottes ist, den Rest behält man für sich.«

Ed Dayem sinkt in sich zusammen.

Zwischen den beiden Männern macht sich ein schier unerträgliches Schweigen breit.

Der Alte verschränkt seine Wieselfinger unterm Kinn und betrachtet lange seinen Besucher. Plötzlich beginnt er zu erzählen:

»Wenn Emma noch von dieser Welt wäre, ich glaube, ich würde sie mit Gold überschütten.«

»Emma?«

»Eine Puffmutter, die ich in den 1950ern kennengelernt habe. Alles, was ich bin, habe ich ihr zu verdanken. Nur ein Problem gab es mit ihr: Ich hatte bei ihr keine Chance, auch nur ein Wort zu platzieren, und sei es auch nur das Wörtchen ›Danke‹. – ›Vergiss nie, dass ich es bin, die dich aus der Gosse gezogen hat!‹, brüllte sie mich an. ›Du warst weiter nichts als ein Säufer, der nur so vor Fusel troff und den die Zuhälter wie einen räudigen Hund wegstießen. Du hast mir ALLES zu verdanken, dein Hemd und deine Hose, und sogar den Slip, den du alle drei Monate mal wäschst!‹ Das schleuderte sie mir jedes Mal ins Gesicht, wenn ich über die mir aufgehalste Arbeit stöhnte oder auf meinem Lohn beharrte. Und wenn ich mal einen Tag frei haben wollte, dann zeterte sie los: ›Wo willst du denn hin, du Kretin? Zu deinen Saufkumpanen unter der Brücke?‹ Emma war nicht wirklich böse, nur besitzergreifend und menschenverachtend. Ohne sie säße ich noch heute bettelnd auf irgendwelchen Treppenstufen und psalmodierte unter sengender Sonne fromme Verse vor mich hin. Oder ich hockte jammernd inmitten dieser Heerscharen von Krüppeln, die ohne Verdienstkreuz und ohne Orientierung aus dem Krieg heimkamen und in finsteren Toreinfahrten zwischen ihren Lumpen und den eigenen Exkrementen verfaulten.«

Hadsch Hamerlaine erhebt sich, bewegt sich um seinen Schreibtisch herum und baut sich, die Hände im Rücken verschränkt, vor einem wertvollen Gemälde auf, das eine stürmisch bewegte See zeigt. Lange Sekunden bleibt er so stehen, hängt seinen Erinnerungen nach. In der Stille des Raums pfeift sein Atem, als käme er aus einem rissigen Wasserschlauch. Ohne sich umzuwenden, fährt er fort:

»Emma hatte einen guten Kern, trotz ihrer Tobsuchtsanfälle. Sie führte ihren Laden mit eiserner Faust. Ihre Dirnen waren mannstolle Menschenfresserinnen. Noch heute höre ich manchmal ihr dämonisches Lachen. Sie mokierten sich über ihre Freier, wenn die vorzeitigen Samenerguss hatten, meist einfache, schlecht erzogene Soldaten. Für den Dienstjungen, der ich damals war, harte Zeiten, aber dass sie so waren, dafür gibt es gute Gründe.«

Hamerlaine stützt sich mit einer Hand an einer Kommode ab, bevor er sich langsam auf seinen altersdürren Beinen umdreht, die sich unter dem Pyjama abzeichnen. In seinen Augen leuchtet ein ferner Triumph, der in Ed Dayem schlagartig ein Gefühl der Beklemmung auslöst. Er hat es längst gelernt, beim Alten jenen verstörenden Moment zu erspüren, von dem an Gift und Galle gezielt die Erinnerung durchtränkt. Ungewöhnlich heftig, aggressiv sind solche Momente, in denen auch das gespielte Lächeln noch die gefletschten Zähne zeigt.

Wenn in Algerien ein selbsternannter Revolutionär seine Vergangenheit herbeizitiert, dann bringt er seine geballte Wut mit ein – und den Willen, es ein für allemal auszufechten; blinden Schmerz, der von nie verheilten Wunden, nie gebüßten Verbrechen herrührt – und von Fragen, auf die es bis heute keine Antwort gibt.

Unwillkürlich zieht Ed Dayem wieder sein Taschentuch hervor und beginnt, sich nochmals die Stirn abzutupfen, während sein Blick an dem rätselhaften Grinsen klebt, das die greisen Lippen verzerrt.

»Wissen Sie was, Eddie? Es gibt nur eine Art, sich jemandem gegenüber erkenntlich zu zeigen: ihm das, was er einem geliehen hat, mit Zins und Zinseszins zurückzuzahlen, so gut man eben kann. Und wenn Sie das nicht können, weil Ihnen die Mittel fehlen, der Wohltäter Sie aber nonstop daran erinnert, dass Sie ihm alles verdanken, bis Sie am Ende ein Trauma riskieren, dann zwingt er Sie geradezu, radikal zu reagieren. Indem Sie ihn entweder so lange ertragen, bis Sie sich in seiner Spucke auflösen. Oder ihn für immer zum Schweigen bringen. So ist mir das mit Emma passiert. Ich sah nur noch ihren geifernden Mund, ihre feuersprühenden Pupillen, und ihren Finger, der anklagend auf mich gerichtet war. Als wäre ich der allerletzte Dreck. Kein Mensch überlebt das unbeschadet, so gedemütigt zu werden, Eddie. Kein Jemand und kein Niemand. Jeder von uns hat dieses gewisse Extra, das man gemeinhin Stolz nennt. Der eine behält ihn still für sich, der andere trägt ihn vor sich her. Was Pandora ihre Büchse war, ist uns der Stolz. Es genügt, ihn zu reizen, und schon ist die Katastrophe da. Und so passierte, was passieren musste. Als der FLN damals sämtliche Laster für tabu erklärte und alle Zuhälter und Trinker gnadenlos verfolgte, bin ich zu Emma in ihr Schlafzimmer hoch und habe sie wie eine Sau mit meinem rostigen Taschenmesser abgestochen. Da habe ich mit einem Klappmesser gleich zwei Fliegen erschlagen. Mich von einer zu schwer auf mir lastenden Hypothek befreit. Und mein Ticket für die Résistance gekauft. Die Freiheitskämpfer haben mich wie einen Helden begrüßt ... Heute noch frage ich mich, was wohl aus mir geworden wäre, wenn Emma mich anders behandelt hätte. Eines ist sicher: ich hätte keinen Grund gehabt, mich den Widerstandskämpfern anzuschließen. Vermutlich hätte ich bis heute hinter meinem schmierigen Tresen gestanden und Bierflaschen entkapselt. Umgeben von einem Harem kreischender Huren und schüchterner Wichser, deren Selbstwertgefühl keine Freundin in freier Wildbahn hergibt.«

»Warum erzählen Sie mir diese Geschichte, Hadsch?«

»Damit ich Sie später nicht daran erinnern muss, was ich alles für Sie getan habe. Ich möchte meine Tage friedlich auf meinem Greisenbett beschließen, umgeben von meinen Trophäen und den treuesten meiner Höflinge.«

»Ich würde es niemals wagen, die Hand gegen Sie zu erheben.«

»Ich fürchte, Ihr Arm reicht nicht an mich heran. Aber ich habe viel erlebt. Und ich weiß, dass eine Viper keinen großen Anreiz braucht, um großes Unheil anzurichten.«

»Ich bin in Ihren Augen bloß eine Viper?«

»Wenn Sie ein Orang-Utan wären, würde man das sehen!«

Ed Dayem steckt den Hieb gelassen weg. Drei Jahrzehnte auf Tuchfühlung mit den Dinosauriern der Republik waren nicht genug, um ihm Eintritt zu dieser Kaste zu verschaffen. Sein kolossales Vermögen, das exorbitante Netz seiner Beziehungen reichten nicht aus. Der Kreis der Rboba ist ein eigener Kosmos. Für jeden Nichteingeweihten ein fatales Labyrinth. Und Ed kennt sie alle, kennt ihre Karrieren, die gepflastert sind mit menschlichen Gerippen, tödlichen Fallen und heimlichen Schätzen. Er kennt ihre Methoden und ihre Ruchlosigkeit: der ihrer Feinde immer einen Schritt voraus. Und doch ist es ihm nicht eine Sekunde lang geglückt, ihr Vertrauen zu erringen. Eifersüchtig hüten sie ihre Macht und ihre blickdichten Logen. Lassen ihn nie in den Hexenkessel ihrer Komplotte blicken. Nehmen seine Dienste nur sporadisch in Anspruch und nur, um die eigenen Pfründe zu sichern. Um ihn danach wie einen gemeinen Handlanger wieder zu entlassen.

Ed Dayem hasst es, so behandelt zu werden, doch die Angst, die ihm die Alleinherrscher über Algier einflößen, lässt für Gefühlsregungen oder narzisstische Anwandlungen keinen Platz. Nur wer das kleinere Übel geduldig erträgt, bleibt von Schlimmerem verschont. Eine Woche, bevor er sich in der Irrenanstalt erhängte, in die seine Rechtschaffenheit ihn geführt hatte, hat ein namhafter Gewerkschafter Folgendes an die Wand seiner Zelle geschrieben: Ich gebe auf. Die Rboba von Algier werden nie krepieren. Wenn es keine Sterne mehr am Himmel gibt, wenn die Sonne erloschen sein wird, die Götter ihre Seele ausgehaucht haben, werden die Rboba noch immer da sein, über der Asche einer verschwundenen Welt werden sie thronen und ihre Intrigen gegen die Finsternis schmieden, ihr eigenes Echo belügen, mit der linken Hand die rechte bestehlen und hinterrücks ihren eigenen Schatten erdolchen.

»Sie sind ungerecht, Hadsch.«

»Wir haben immer mit offenen Karten gespielt.«

»Was erwarten Sie von mir?«

»Endlich mal eine vernünftige Frage.«

Hamerlaine greift nach einer Zeitung auf seinem Schreibtisch und schleudert sie seinem Besucher entgegen:

»Da, schon wieder dieser Idiot von Amar Daho ...«

Ed Dayem fängt die Zeitung auf und überfliegt sie in fiebernder Hast. Amar Dahos Foto prangt auf der Titelseite, dazu ein zweispaltiger Leitartikel.

»Ich dachte, ich hätte Sie gebeten, den Herausgebern nahezulegen, dass dieser Mistkerl totgeschwiegen wird.«

»Es steht ihnen doch frei, welche Orientierung sie ihren Zeitungen geben wollen. Das sind nicht unsere Freunde, das ist unsere Konkurrenz. Und alle sind sie auf Polemik und Skandale angewiesen, um ihre Blätter an den Leser zu bringen. Nur so funktioniert es.«

»Das ist nicht mein Problem. Sehen Sie zu, dass kein Mensch diesem Mistkerl mehr ein Forum gibt.«

»Dann wird man sie schmieren müssen.«

»Dann schmieren Sie sie, so viel Sie können, bis es ihnen zu den Ohren rauskommt. Hauptsache, dass dieser Daho nirgends mehr einen Fuß auf den Boden bekommt. Ich will nicht den leisesten Atemzug mehr von ihm hören.«

»Aber er ist doch nur ein Holzkopf. Seine Stimme trägt nicht weiter, als er spucken kann. Er ist es noch nicht mal wert, dass man sich an ihm die Schuhe abwischt. Er ist nur ein Furz auf einem Tennisplatz.«

»Der mir die Luft verpestet.«

»Logisch bei einem Aas, das bis heute nicht beigesetzt ist. Er war Minister, und Sie haben ihn vom Thron gestürzt. Er war vermögend, und Sie haben ihn ruiniert. Er hatte seine Netzwerke, und Sie haben ihm nichts als seine Tränen gelassen. Selbst mit dem modernsten Tauchgerät käme man nicht in die Abgründe, in die Sie ihn gestoßen haben.«

»Aber das reicht mir nicht. Ich will, dass man ihm ein für alle Mal das Maul stopft. Vor einer Woche hat er einen Artikel in einem Magazin im Ausland publiziert und war Gast in einer Polit-Talkshow in Al-Dschasira. Zwei Tage später kommt er mit einer donnernden Anklageschrift und trompetet überall herum, dass er ein Opfer seiner Kompetenz und Redlichkeit geworden ist, und dass die ganze Intrige um seine Person nur dazu dient, ihn in der Öffentlichkeit anzuschwärzen, damit er nicht bei den Senatswahlen antritt. Er hat sogar angekündigt, jetzt erst recht zu kandidieren und allen Kontrahenten zu zeigen, wo der Hammer hängt. Und dann hat der Dreckskerl es gewagt, meinen Namen zu nennen. Er sagt, ich sei es, der auf seinen Skalp scharf ist.«

»Da hat er nicht mal gelogen.«

»Irrtum, Eddie. Wenn ich auf jemandes Skalp scharf bin, dann ziehe ich ihm das Fell bei lebendigem Leib über die Ohren. Ich wollte ihm nur eine Lektion erteilen. Aber er hat offenbar nichts daraus gelernt. Und diesmal werde ich wirklich seinen Skalp als Fußmatte verwenden.«

»Wie das?«

»Die Presse, das sind Sie! Unter Ihrer Regie laufen sechs Tageszeitungen, zwei Wochenzeitungen und eine Webseite. Das ist mehr als genug, um jedes beliebige räudige Schaf zu skalpieren.«

»Mediales Mobbing hat seine Grenzen. Wenn man übertreibt, werden die Leute misstrauisch. Sie nehmen nicht alles für bares Geld, was ihnen aufgetischt wird.«

»Bare Münze«, korrigiert Hamerlaine.

»Wieso bare Münze? «

»Man nimmt etwas für bare Münze.«

»Ist doch egal, wie man sagt, Hauptsache, man versteht, was gemeint ist.«

»Eddie, wir haben Sie einbestellt, damit dieser Hurensohn ein für alle Mal verstummt. Durchforsten Sie sein Leben, jeder hat irgendwo eine Leiche im Keller. Und wenn Sie keine finden, dann packen Sie ihm eine rein, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Ich will, dass er im Schlamm versinkt, in einem solch stinkenden Schlamm, dass sogar der Todesengel sich davor ekelt, ihn holen zu kommen.«

Ratlos dreht und wendet Ed Dayem die Zeitung in seinen Händen. Er weiß, dass sein Schicksal besiegelt ist. Dass das, was ein Rboba anordnet, getan werden muss. Krampfhaft schluckt er seinen Speichel hinunter, atmet ein, atmet aus, wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Das Surren der Klimaanlage tost in seinen Schläfen wie ein böser Wind.

»Glauben Sie, dass ...«, stammelt er.

»Ich glaube überhaupt nichts, Eddie. Wer die Meinung beherrscht, beherrscht die Wahrheit, und es muss keine heilsame Wahrheit sein. Denken Sie nur an unsere Devise, als das Parteikomitee Ihnen die Leitung unserer medialen Streitmacht anvertraut hat: Wahrheit ist das, was die Leute für wahr halten. Jede noch so heilige Wahrheit, die nicht hiebund stichfest ist, ist bloße Behauptung, und jede Ungeheuerlichkeit, die unwiderlegbar ist, ist absolute Wahrheit.«

Ed Dayem nickt unschlüssig:

»Ich will sehen, was sich tun lässt.«

»Für mich ist es schon getan. Ich warte nur noch auf die Bestätigung ... Sie können jetzt gehen. Ich muss gleich zur Dialyse. Mein Chauffeur bringt Sie in die Stadt.«

»Bemühen Sie ihn nicht. Ich werde ein Taxi nehmen.«

»Immer noch der alte misstrauische Eddie!«

»So bleibt man am Leben.«

Der Alte lacht trocken auf:

»Na, dann hinaus mit Ihnen, Sie Klugscheißer.«

Ed Dayem nickt. Die Falte, die sich da gerade in seine trübgraue Physiognomie eingräbt, entgeht Hamerlaine natürlich nicht. Er lässt sich gegen die Rückenlehne seine Polsterthrones fallen und verschränkt die Finger überm Bauch. In seinen Augen leuchtet ein bizarrer Glanz.

Als Ed Dayem vor der Tür ankommt, hält er inne, denkt kurz nach, wendet sich nochmals zum Alten um:

»Sagen Sie, Hadsch, diese Geschichte mit der Puffmutter, ist die eigentlich wahr?«

Schweigend, düster, mustert der Alte den Zeitungszaren. Solange, dass Ed schon bereut, ihn provoziert zu haben. Dann knurrt er, wobei er Ed einen Blick zuwirft, so bedrohlich wie aus dem Auge des Orkans:

»Flaubert sagt, alles, was wir erfinden, ist wahr.«

Und gönnerhaft winkt er Eddie hinaus.

Worauf die Affen warten - Krimi

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