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VIII

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Alle unsere kleinen Geheimnisse, die wir durch harte Monate geborgen haben vor dem rohen Zugriff unbekümmerter Hände, die lieben, kleinen Perlmutterknöpfe und das gepreßte Stanniolpapier, die künstlerischen Ansichtskarten und die farbenfreudigen Seidenproben, alle Dinge, die wir sorgsam gehütet haben wie warme Geschöpfe und an die wir täglich denken: im Büro, wenn der Doktor Finkelstein diktiert und wenn wir vor dem verwirrenden, braunen Telephonapparat ratlos sitzen, auf der Straße, wenn wir die Briefe austragen, die wichtigen Briefe in dem grüngefaßten Buch – unsere warmen Geschöpfe, unsere Tröstungen und unsere Geheimnisse – eines Tages – man räumt zu Hause auf – werden sie aufgestöbert aus ihrem sicheren Gewahrsam, schamlos preisgegeben dem schamlosen Blick der Mutter und ihrer grausam vernichtenden Hand. Wie kleine Vögel, die eine herzlose Gewalt aus dem schützenden Nest schüttet, gehen unsere kostbaren Dinge verloren in der wirren Wüste der auseinandergeschobenen Möbel.

Eines Abends kehrte Fini heim und sah die Tischplatte nackt, ohne Wachstuch; Reißnägel lagen glänzend in einem kleinen Häuflein, und zerrissen waren die letzten Reste der künstlerischen Ansichtskarten und der Skizze mit der wandelnden Frau zwischen melancholisch blühenden Feldern. Es war eine Rückkehr in eine verwüstete Heimat, in der ein Feind gehaust. Zertrümmert lag die ganze, mit liebender Mühsal aufgebaute Welt. Ein Stück hing an jeder der verlorengegangenen Nichtigkeiten, und Fini weinte, obwohl sie wußte, daß sie lächerlich wurde vor dem Bruder und dem mitleidigen Hohn der Mutter. Niemand in der Welt verstand, was Fini verloren hatte: die wunderbare Skizze mit der wandelnden Frau, das Geschenk, empfangen in einer Stunde, in der die Tore eines neuen, fremden, wunderbaren Lebens aufgegangen waren. Fini weinte und schämte sich, daß sie kindischer Dinge wegen weinte, und sie weinte zugleich, weil sie die Kostbarkeit des Verlorenen verleugnen mußte.

Nur einer verstand sie vielleicht, der Vater, der taube, der mit den Augen hörte; sie waren wissend und mitleidsvoll, und mit den letzten Resten seiner aufgehobenen Herrlichkeit bemühte er sich, den Sohn zu beschwichtigen und die fluchende Frau. Plötzlich fühlte Fini seine harte Hand auf der Schulter; gute Worte sprach er und setzte sich zu Fini in die Ecke, auf die Kante des großen, eisenbeschlagenen Koffers, und beide waren sie Verbitterte und Gefesselte im Reiche der Mutter und des tobenden Bruders. Seit diesem Tag liebte Fini ihren Vater. Die nie gestillte Sehnsucht lebte auf, die Sehnsucht nach einer kleinen, eigenen geheimen Lade, einem warmen Zuhause im kalten Heim, einer Stätte, die Zuflucht gewährte und Geheimes barg. So eine Lade versprach ihr der Vater; merkwürdig war sein Gebrechen: Seine Taubheit schwand, und die tiefsten Wünsche vernahm er mit tausend hellhörigen Ohren. Seine harthäutigen Finger zitterten ein bißehen und lagen auf denen Finis, und er bat sie: »Gehn wir spazieren!«

Und Fini ging mit dem Vater durch die lauten Straßen, die langsam dunkelten, und war mütterlich, als führe sie ein Kind, und schenkte dem Vater, dem humpelnden, die ganze Liebe, die dem Stanniolpapier gegolten hatte, den seidigen Bändern und der wandelnden Frau. Sie gingen spazieren und fühlten sich geborgen vor dem eisernen Zugriff der unermüdlich säubernden Mutter.

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke

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