Читать книгу Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke - Йозеф Рот - Страница 97
II
ОглавлениеNoch war die Mutter nicht zu Hause. – Es ist gut, wenn unsere Mütter nicht da sind, die Mütter mit den ungläubig forschenden Augen, die traurig sind und weinen müssen, strenge und fürchterlich und dennoch traurig, unsere armen Mütter, die nichts verstehen und schelten und vor denen wir lügen müssen. Wir brauchen niemandem Bericht zu erstatten, und keine Furcht ist in uns vor der Wirkung des Berichts, keine Furcht vor dem Zwang zur Lüge und keine um ihre Entdeckung. Fini entkleidete sich langsam; sie fühlte es warm und feucht an ihren Schenkeln rinnen, Blut mußte es sein, groß war ihre Sorge. Irgend etwas war mit ihr geschehen, und sie forschte in ihrem vergeßlichen Gehirn nach einer Sünde, einer vor grauen Tagen begangenen.
Es ist schön, sich allein im Zimmer vor dem Spiegel entkleiden zu können – allein, die Tür ist versperrt, als hätte man sein eigenes Zimmer wie Tilly, die Große – und festzustellen, wie die Brüste wachsen, weiß und fest und von rosigen Kuppen gekrönt, obwohl sie noch nicht so groß und durch die Kleider deutlich sichtbar sind wie bei Tilly, die einen Freund hat und küssen darf.
Gerührt, als streichelte sie ein kleines, fremdes Tier, so tastete Fini an ihrem Körper, erfühlte den beginnenden Schwung der Hüfte und das kühl gerundete Knie und sah, wie das Blut eine schmale, rote Furche zog, das nackte Bein entlang.
Die kleinen Mädchen fürchten sich, wenn sie das rote Blut sehen und wenn sie nicht wissen, woher es kommt, und ganz allein und nackt sind, ohne die schützende Hülle des Kleides, mit einem lebendigen Spiegel eingeschlossen in einem Zimmer, rotes Blut, unbekanntes, aus unbekannten Gründen fließendes sehen, ist ihre Furcht dreimal so groß. Die Wunder haben in ihnen selbst ihre Ursache und ihr Leben, und wir erschrecken vor dieser Nähe des Rätsels, von dem wir geglaubt haben, daß es in der Weite wächst und ferne unsern Körpern. Fini hielt den Atem an und hörte plötzlich die große Leere im Zimmer, fühlte das Totsein der toten Gegenstände, sah die Lampe in einem Nebel brennen, in einem weißen Nebel, der die Form eines Angesichts annahm und behielt, eines gespenstischen Angesichts mit leuchtendem Kern. Fini hörte aus unermeßlicher Ferne wie aus einem geahnten Jenseits Stimmen der Straße und das Kreischen einer Bahn, die Melodie einer ewigen Geige und ein tröstliches Rauschen der Stille wie aus einer großen Muschel. Kühl und weich flutete die unendliche Stille, ein Ozean, der von den Füßen aufstieg und stieg - schon stand sie mit den Knien darin, und die blaue Stille deckte die Hüften ein und wuchs um das Herz beklemmend.
Ein gutes Dunkel kam und deckte sie zu. Sie sank in die Ohnmacht, in den weichen, ausgebreiteten, gastlichen Mantel aus zärtlichem Samt.