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XI

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Es geschah um diese Zeit, daß Tilly krank wurde. Es fehlte wochenlang der unermüdliche Lauscher, das durstig geöffnete Ohr, unausgesprochenes Erlebnis vieler Tage staute sich in Fini.

Nichts erfuhr sie von der Krankheit der Freundin, Ausflucht und lächelndes Mißtrauen hatte man in ihrem Hause für sorgende Fragen. Zwei Wochen später ging Fini ins Sanatorium, lange zögerte sie mit dem Entschluß, sie liebte die Luft des Spitals nicht und die vergitterten Fenster.

Es lebte in ihr das Krankenhaus, nie vergessen, unvergeßlich, in dem sie gelegen war, sechsjährig und scharlachkrank, die schleichende, schwarze Krankenschwester, die bärtige Nonne, die im nächtlichen Saal vor dem aufgestellten Spiegel auf dem Nachtkästchen Haare aus dem Kinn zupfte. Die Schwester mit der Warze auf der Oberlippe, einem häßlichen Insekt. Noch schritt derweißgekittelte Arzt durch ihre Träume, die Brille auf die Stirn gerückt, der vieräugige Mann mit den tastenden Händen, den gelben, warmen, dichtbewachsenen; noch lebten in Fini die Besuchsnachmittage von drei bis fünf, wenn die Mutter kam und Kuchen liegenließ, den die Schwester sich nahm; die Korridore mit den Kranken in blaugestreiften Kleidern, mit den pergamentenen Gesichtern; und die große Badestube mit den vielen nackten Frauen, die verkrüppelte Zehen und Ballen an den Füßen hatten.

Geruch von Kampferundjodoform lagerte, eine böse Ahnung, über dem grünen Rasen des Sanatoriums und hemmte den Schritt. Fini roch an dem Flieder, den sie mitbrachte. Im dritten Stock lag Tilly, allein im kleinen Zimmer, blaß und verändert und mit hängendem Mund. Nicht mehr das Mädchen, das erwachsene, erwachte, sicher und bewundert; nicht mehr die Freundin, die starke, die ratende und tröstende, Tilly, die stolze und abweisende; krank war Tilly und unheilbar. Nicht mehr drohte ihr der Tod, gestorben war sie und lebte. Anders und eine Fremde.

»Kleine Fini«, sagte Tilly, »wenn du wüßtest. Ein Tieristder Mann, wenn er zu uns kommt und wenn er uns verläßt. Wenn wir dem eisernen Druck seiner Schenkel nachgeben und wenn er aufsteht, müde und mit nachlässigen Fingern uns das Kleid zuhakt. Kein Arzt will dir das Kind abtreiben, und wenn du Seife nimmst, erkrankst du. Jetzt ist alles vorbei – er kam nicht, als ich ihm schrieb, als ich sterben sollte, und auch jetzt kommt er nicht. Er wird niemals kommen. Auf den Knien flehte er mich an, und süßen Orangenlikör mußte ich trinken. Kleine Fini, wenn du wüßtest.« Wer war es? Ludwig war es. Fini hatte ihn vergessen, wie man einen alten Gegenstand vergißt, der auf dem Grunde des Kästchens ruhte, des sorgsam gehüteten. Ludwig mit der dunklen Cellostimme, der Geiger in der geblümten Weste. Von seiner geheimen Kraft erzählte Tilly, der die Frauen – und klügere auch – erlagen. Wenn er eine berührte, so, man kann es nicht schildern, würde sie schwach und war ihm verfallen. Ein böses, fremdes Tier ist Ludwig, der Mann.

»Allen mußte es geschehen. Du wirst es erleben!« sagte Tilly und weinte. Der Abend brach plötzlich heran, er überfiel die Sonne. Eine Amsel pfiff im Garten. Ein Ruf scholl im Korridor und der huschende Schritt einer Schwester. Eine Klingel schrillte. Aus fernen Straßen kam Geheul einer Autohupe. Der mitgebrachte Flieder begann stark zu duften wie hundert Gärten.

Allein ging Fini durch die Straßen, nicht mehr am nächtlichen Marktplatz vorbei, wo die schwarz gelagerten Fässer sparsamen Schatten gaben, wo Ernst wartete, der Mann, ein grausames Tier. Sie fühlte die sanfte Rundung seiner hohlen Hand dennoch auf der kleinen Brust, deren Spitzen sich hart und drängend entgegenstreckten, dem Abend, der Straße und dem grausamen Mann. Sie floh nach Hause, ängstlich geduckt unter dem Druck des eisernen Lebens, oft gestreift im Gewirr der Stadt vom Arm eines männlichen Wesens. Heim huschte sie, die kleine Fini, hinein in das dunkle Haustor, die schadhafte Treppe empor; niemand war zu Hause, und ungesehen durfte sie weinen.

Spät, nach Wochen, kam Tilly zurück, verändert und alt, mit einer neuen Frisur, weil sie lockeres Haar bekommen hatte. Wie eine Frau aus fremden Bezirken war Tilly, schweigsam und gut, nicht mehr fleißig geduckt über raschelnden Papieren, wenn Doktor Finkelstein eintrat, nicht mehr Bleistifte spitzend, sondern mit schlaffer Brust und länglich gewordener Nase, mit festgeschlossenen Lippen, nicht mehr lächelnd in den Straßen, durch die sie zusammen gingen, und einmal nur gesprächig, mit tränenerfüllten Augen, in der kleinen, billigen Konditorei, während es regnete, stundenlang, den ganzen Nachmittag.

Fremd und schrecklich war alles, was Tilly erzählte, von Ludwig, dem alle Mädchen verfielen, von den jungen Ärzten im Krankenhaus, von der Narkose, in die man untertauchte wie in ein Meer des Vergessens, von dem Erwachen, nachdem man sich tot geglaubt, von den düsteren Abenden daheim und dem ewigen Seufzen der Mutter.

Es regnete, und Tilly erzählte; gedrückt saßen sie in der dunkelnden Ecke der Konditorei.

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke

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